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Ausgabe:

April/2000

Spalte:

369–371

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Merk, Otto

Titel/Untertitel:

Wissenschaftsgeschichte und Exegese. Gesammelte Aufsätze zum 65. Geburtstag. Hrsg. von R. Gebauer, M. Karrer und M. Meiser.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 1998. VIII, 467 S., 1 Porträt gr.8 = Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche, 95. Lw. DM 238,-. ISBN 3-11-016191-5.

Rezensent:

Jörg Frey

"Wissenschaftsgeschichte" und "Exegese" bilden die beiden Schwerpunkte der Arbeit des Erlanger Neutestamentlers Otto Merk seit seiner Dissertation über die Motivierungen der paulinischen Ethik (Handeln aus Glauben, Marburg 1968) und seiner Habilitationsschrift zu den Anfängen biblischer Theologie am Ende des 18. Jh.s (Biblische Theologie in ihrer Anfangszeit, Marburg 1972).

Neben zahlreichen Rezensionen hat sich M. immer wieder den Problemen der Geschichte der neueren Exegese und ihrer Methoden (etwa in den TRE-Artikeln "Bibelwissenschaft", "Biblische Theologie" und "Literarkritik") und einzelnen Forscherpersönlichkeiten zugewandt und sein exegetisches Interesse in erster Linie auf die paulinischen Briefe konzentriert. Daher ist die hier zu seiner Ehrung vorgelegte Sammlung in vier Abschnitte gegliedert: "Wissenschaftsgeschichtliche Beiträge" (1-142), "Prosopographische Beiträge" (143-237), "Exegetische Beiträge" (238-349) und "Aufsätze zu den Thessalonicherbriefen" (350-432). Eine Bibliographie des Autors (433-446) und Register schließen den Band ab.

Forschungsgeschichte ist für M. "nicht nur Information über einst Gedachtes und Diskutiertes ..., sondern zugleich ein Beitrag zur Gegenwartsbewältigung" (1 f.) - das macht seine aus einem weiten theologiegeschichtlichen Horizont heraus geschriebenen Beiträge lesenswert. Im Anschluss an den Gegenstand seiner Habilitationsschrift thematisiert M. im ersten hier aufgenommenen Beitrag "Anfänge neutestamentlicher Wissenschaft im 18. Jahrhundert" (1-23) und dann noch detaillierter in "Von Jean-Alphonse Turretini zu Johann Jakob Wettstein" (47-70) die tastenden Versuche der Herausbildung einer Hermeneutik der historisch-kritischen Bibelwissenschaft. Deren geschichtliche Anfänge liegen, wie M. immer wieder betont, in der Befreiung der Exegese von der Umklammerung durch die Dogmatik und in der Entstehung separater Disziplinen der alttestamentlichen und der neutestamentlichen Wissenschaft.

Gegenüber dem Pathos dieser Feststellung stellt sich freilich die Frage, ob die wissenschaftsgeschichtlich bedeutsame Verselbständigung der Disziplinen nicht auch zu problematischen Verengungen des Blickwinkels geführt hat. Dies zumal angesichts der Schärfe der Kritik, die M. in seiner 1995 erstmals gedruckten Bestandsaufnahme "Theologie des Neuen Testaments und Biblische Theologie" (98-129) gegenüber den neueren Versuchen ,gesamtbiblischer’ Theologie äußert. Zeigt sich in der immer wieder anklingenden Sorge um das Proprium der neutestamentlichen Botschaft, oder gar in dem Bestreben, "das Alte Testament sein zu lassen, was es ist ..., weil ja das Neue Testament bleiben soll, was es ist" (128; zitiert nach R. Smend/U. Luz, Gesetz, Stuttgart 1981, 142), nicht eine allzu starre Festlegung, die mehr die ererbten interpretatorichen Positionen zu verteidigen sucht und neue Perspektiven nicht mehr hinreichend auf ihre Tragfähigkeit zu prüfen bereit ist? Die Diskussion um die Möglichkeit und Leistungsfähigkeit ,Biblischer Theologie’ scheint in Anbetracht der schroffen Abfuhr durch M. desto mehr notwendig zu sein.

Forschungsgeschichtlich reiche Detailstudien bieten die beiden Beiträge "Das Problem des Mythos zwischen Neologie und ,religionsgeschichtlicher Schule’ in der neutestamentlichen Wissenschaft" (24-46) und "Erwägungen zum Paulusbild in der deutschen Aufklärung. Paulusforschung bei Johann Salomo Semler und in seinem Umkreis" (71-97). Als Herausgeber der ergänzten 9. Auflage von Rudolf Bultmanns "Theologie des Neuen Testaments" (Tübingen 1984) widmet der Vf. Bultmanns Werk und seiner wissenschaftsgeschichtlichen Bedeutung besondere Aufmerksamkeit. Neben dem im exegetischen Teil des Bandes abgedruckten Artikel "Zu Rudolf Bultmanns Auslegung des 1.Thessalonicherbriefes" (350-359) kommt dem Beitrag "Aus (unveröffentlichten) Aufzeichnungen Rudolf Bultmanns zur Synoptikerforschung" (130-142) besondere Bedeutung zu. Darin ist eine wohl für die Synoptikervorlesung 1933 konzipierte Stellungnahme Bultmanns zum Verhältnis von wissenschaftlich-exegetischer Arbeit und kirchlich-öffentlicher Zeitgenossenschaft ediert, in der Bultmann ausdrücklich seine Zustimmung zu Barths Schrift "Theologische Existenz heute!" äußert.

Unter den prosopographischen Beiträgen des Bandes finden sich pretiöse Miniaturen wie "Zum 90. Geburtstag von Oscar Cullmann" (231-234) und "Dr. phil. Wilhelm Anz . Studienrat und Professor der Philosophie" (235-237) und ausführliche Würdigungen wie "Wilhelm Bousset" (159-174) und "Wilhelm (Guillaume) Baldensperger" (175-186), daneben drei speziellere Studien: "Begegnen und Erkennen. Das Matthäusevangelium im Werk Anton Vögtles" (212-230), ein sehr gewichtiger Artikel über "Karl Barths Beitrag zur Erforschung des Neuen Testaments" (187-211) und eine nicht minder gewichtige Würdigung des großen Rabbiners Leo Baeck ("Judentum und Christentum bei Leo Baeck"; 143-158).

Die exegetischen Beiträge M.s konzentrieren sich fast ganz auf Paulus und die Paulusschule. Dabei nehmen die Arbeiten zu den Thessalonicherbriefen den größten Raum ein. Neben dem schon erwähnten Beitrag zu Rudolf Bultmanns Beitrag zur Auslegung des 1. Thessalonicherbriefs äußert sich M. zu dem oft vernachlässigten Thema der Gestalt und Einordnung der Christologie in diesem ältesten Paulusbrief ("Zur Christologie im ersten Thessalonicherbrief"; 360-373) und zu dem auffälligerweise 5-mal im ethischen Kontext gebrauchten Wort àÏÏÏÓ ("Miteinander. Zur Sorge um den Menschen im Ersten Thessalonicherbrief"; 374-382). Daneben stehen drei Textinterpretationen: "1. Thessalonicher 2,1-12: ein exegetisch-theologischer Überblick" (383-403; "1. Thessalonicher 4,13-18 im Lichte des gegenwärtigen Forschungsstandes" (404-421) und "Überlegungen zu 2Thess 2,13-17" (422-431). In Anknüpfung an die Thematik seiner Dissertation greift M. ethische Themen auf wie "Nachahmung Christi. Zu ethischen Perspektiven in der paulinischen Theologie" (302-335), "Glaube und Tat in den Pastoralbriefen" (260-271), "Erwägungen zu Kol 2,6 f." (292-301) oder "Der Beginn der Paränese im Galaterbrief" (238-259). In den paulinischen Wirkungskreis gehört auch der Beitrag "Das Reich Gottes in den lukanischen Schriften" (272-291). Der einzige Aufsatz, in dem M. über den paulinischen Rahmen hinausgeht, ist der anregende "Aspekte zur diakonischen Relevanz von ,Gerechtigkeit’, ,Barmherzigkeit’ und ,Liebe’" (337-349).

Die exegetischen Beiträge zeigen größte Akribie im Detail, etwa in der sehr speziellen Frage, ob die Paränese im Galaterbrief bei 4,12, bei 4,21, bei 5,1, bei 5,2, bei 5,7 oder - wie M. schließlich zeigen will - erst bei 5,13 beginnt. Die von ihm bezogenen Positionen werden vorsichtig und mit umfassender, vor allem auch forschungsgeschichtlicher Absicherung vorgetragen. Der gewichtigsten Beitrag des Vf.s zum exegetischen Gespräch - und auch der bedeutsamste Teil des vorliegenden Bandes - scheint m. E. jedoch in den Arbeiten zur Wissenschaftsgeschichte zu liegen. Dass auch die Stellungnahmen hierzu und die Bewertungen des Forschungsverlaufs niemals ,objektiv’ sind, sondern immer auch den positionellen Standort ihres Autors reflektierten, ist M. als einem der profundesten Kenner dieser Materie in der Gegenwart wohl bewusst.