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Ausgabe:

April/2000

Spalte:

368 f

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

[Krötke, Wolf]

Titel/Untertitel:

"Ein Wort - ein Glanz, ein Flug, ein Feuer ...". Theologen interpretieren Gedichte. Wolf Krötke zum 60. Geburtstag. Hrsg. von H. Krötke.

Verlag:

Stuttgart: Calwer 1998. 294 S. gr.8. Kart. DM 48.-. ISBN 3-7668-3604-8.

Rezensent:

Christoph Gellner

Sollte es tatsächlich keine andere Beziehung zwischen Lyrik und Dogmatik geben als Adolf von Harnacks ironischen Rat, beim Aufstellen der Bücher die Dogmatik der Belletristik zuzuordnen? Ein Wolf Krötke zum 60. Geburtstag gewidmeter, thematisch origineller Sammelband mit Gedichtinterpretationen in der Mehrzahl amtierender Professoren der Systematischen Theologie lädt zur Überprüfung dieses Vorurteils ein.

In ihrem Bemühen, Theologie und Verkündigung so intensiv wie möglich an den konkreten Lebenszusammenhängen der Menschen zu orientieren, haben Prediger wie Rudolf Bultmann oder Systematiker wie Wolf Krötke kaum zufällig immer wieder Gedichte herangezogen. Der Reiz dieser Festschrift besteht denn auch im Aufspüren überraschender theologischer Pointen in trotz aller biblisch-religiösen Metaphorik in der Mehrzahl nichtreligiös-weltlichen, ja, in diesem Kontext kaum vermuteten Texten verschiedenster literarischer Dignität. So steht neben Kjetil Hafstads theologisch-literarisch luzider Interpretation von Peter Huchels "Weihnachtslied" Christoph Dieckmanns Essay über die eigentümliche "Weltfrömmigkeit" des texanischen Folkmusikers Townes Van Zandt, seinen "Sensus für die letzten Dinge". Wirklich aufregend lesen sich die hier vorgelegten, höchst unterschiedlichen Querlektüren zwischen den Disziplinen, wo sich zünftige Gottesgelehrte von Schriftstellern (gleich mehrfach vertreten sind Paul Celan, Gottfried Benn, Ingeborg Bachmann und Johannes Bobrowski) theologisch herausfordern, ja, persönliche Betroffenheit erkennen lassen. So führt Ingo Klaer ein eindringliches Zwiegespräch mit einem Gedicht Fritz Usingers, das angesichts der uns unterdessen aufgegangenen ungeheuren Größe, ja, erschreckenden Fremdheit der kosmischen Unendlichkeit ("Der Höllenhimmel") das überkommene christliche Gottes- und Schöpfungsverständnis neu durchbuchstabiert. Wolfgang Huber meditiert ein Gedicht von Wislawa Szymborska über den tiefen Widerspruch zwischen den Verheißungen, mit denen das 20. Jh. begann, und den gerade Gott enttäuschenden Katastrophen, die es tatsächlich brachte: "Gott sollte endlich glauben dürfen/an einen Menschen, der gut ist und stark." Hartmut Rudies findet in Wolf Biermanns skeptisch-leiser Lebensbejahung trotz der ungeheuerlichen Massenmorde der jüngsten Geschichte Religiöses in säkularem Gewande wieder: "Es gibt noch Gedichte nach Auschwitz. Und/Es gibt sogar lustige Lieder. Wir/gehn ganz und gar/zugrund. Und erheben uns wieder." Michael Weinrich zeigt, wie Hans Magnus Enzensberger Jesus als provozierende Deutungsgestalt bemüht, indem er durch ein Abendmahlsbild auf der Titanic die Fragilität des sich selbst feiernden Luxus im Angesicht des allseits präsenten Untergangs evoziert. Ähnlich Ossip Mandelstam, der, Wolfgang Ullmann arbeitet dies, Auschwitz, Gulag, Srebrenica vor Augen, engagiert heraus, unser zu Ende gehendes "Wolfsjahrhundert" mehr im Zeichen Noahs und der Sintflut als dem "des friedlichen Mannes aus Bethlehem" sieht. Zu den spannendsten Passagen des Buches gehören denn auch die zahlreich eingeblendeten DDR-Erfahrungen (gut ein Drittel der 26 Beiträge stammt ja von Autoren aus dem Umkreis des Ostberliner Sprachenkonvikts, wo Krötke vor seiner Berufung an die Humboldt-Universität lehrte). Literatur und Kirche waren dort zeitweise Inseln der Freiheit und der Wahrheit, in der Poesie hatte das evangelische "Wort" seine säkulare Zwillingsschwester bekommen, wenn auch dort Dichtung und Predigt nicht selten "in den Wind" gesprochen wurden, wie Jürgen Henkys anhand eines poetologischen Bekenntnistextes von Johannes Bobrowski erinnert.

Welches Resümee ließe sich daraus für das Verhältnis von Theologie und Ästhetik ziehen? Während Dorothee Sölle ihre besondere Nähe herausstellt - beide gelten heute als irrelevant und doch vermögen einzig Poesie und Gebet die vorherrschende konsumistische Sprache des Habens aufzubrechen -, hebt Christof Gestrich die spannungsreiche Eigenständigkeit dieser "zwei alten, verwandten Wort-Beauftragten" hervor. Die kirchlich-religiöse Instrumentalisierung literarischer Zeugnisse zur Illustration schon bekannter, theologiekonformer Einsichten lehnt er ebenso ab wie die spannungslose Reduktion des Dialogs Theologie-Literatur auf das Schema von Frage und Antwort. Gegenüber der kulturellen Abkoppelung kirchlicher Verkündigung wie der Sterilität rein wissenschaftlicher Theologie könne Literatur jedoch als zeitdiagnostische Erfahrungsquelle zur existentiellen Teilnahme am Leben zurückführen, ohne dass die poetische Zeitdeutung einfach theologisch zu übernehmen ist: "Theologie müßte dringend wieder langsamer werden im Antworten und solidarischer im Suchen"; sowenig wie Literatur sei Theologie zur Ausgleichung und Versöhnung der dissonanten Lebenswirklichkeit da. Das Wesen der Kunst, stellt Michael Moxter heraus, liege gerade in der Verschärfung eingespielter Erfahrungsmuster, im Aufbrechen gängiger Wahrnehmungsgewohnheiten, in der Grenzüberschreitung, Regelwidrigkeit, im Tabubruch also, wie das Beispiel Liebe zeige. "Poesie wie Brot? Dieses Brot müßte zwischen den Zähnen knirschen und den Hunger wiedererwecken, ehe es ihn stillt. Und diese Poesie wird scharf von Erkenntnis und bitter von Sehnsucht sein müssen, um an den Schlaf der Menschen rühren zu können", zitiert er Ingeborg Bachmann. In der Tat: "Vor der Schärfe des poetischen Wortes, vor der Eskalation ihrer Wahrnehmung kann nur zurückschrecken, wer es nicht länger mit Wirklichkeit zu tun haben will. Diesen Luxus können sich allenfalls ,Schläfer’ leisten, die sich ,aus Furcht’ Enttäuschungsresistenz verschaffen, nicht aber die Theologie."