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Ausgabe:

April/2000

Spalte:

351–366

Kategorie:

Aufsätze

Autor/Hrsg.:

Honecker, Martin

Titel/Untertitel:

Das Leben in schillernder Vielfalt Zum Lexikon der Bioethik*

I. Was heißt Bioethik?

"Bioethik" ist in der angelsächsischen Welt seit etwa 30 Jahren ein eingebürgertes Wort. 1970/71 wurde der Begriff vom Krebsforscher van Rensselaer Potter eingeführt: Die Bioethik sollte als "Überlebenswissenschaft" (science of survival) Wissenschaft und Wertbetrachtung zusammenführen, also die für die Zukunft der Menschheit gefährliche Kluft zwischen den Natur- und Humanwissenschaften überwinden und überbrücken. Zeitgleich benutzte - unabhängig davon - André Helleger, ein katholischer Mediziner, in Washington das Wort. Helleger gab als engagierter Katholik den Anstoß für die Gründung des "Joseph and Rose Kennedy Institute for the Study of Human Reproduction and Bioethics" an der Georgetown University in Washington. Auslöser waren Kontroversen um die Reproduktionsmedizin, die Fernwirkungen von "Humanae vitae", 1968. Die Wurzeln der heutigen, zuerst in den USA konzipierten Disziplin "Bioethik" sind also vielfältig.

Initiiert vom Kennedy-Institut der Georgetown University und herausgegeben von Warren T. Reich erschien die "Encyclopedia of Bioethics", bereits 1978 mit 1933 Seiten Umfang in vier Bänden. Die zweite Aufl., wiederum ediert von Warren T. Reich, erschien in fünf Bänden 1995 in New York mit 2950 Seiten Umfang. James M. Humber und Robert F. Almeder publizierten 1976 einen Sammelband mit dem Titel "Biomedical Ethics and the Law" (New York/London), der fünf Themen erörterte: I. Abortion, II. Mental Illness, III. Human Experimentation, IV. Human Genetics und V. Dying. Die Langform "biomedical ethics" ist aussagekräftiger als das Kürzel "bioethics". Bioethik bezeichnet in den USA zunächst einmal eine medizinische Ethik, die im Anschluss an den Nürnberger Kodex und die Bürgerrechtsbewegung entstand und die an allgemein anerkannte ethische Prinzipien anknüpft. Sie erweitert die Thematik folglich über das ärztliche Standesethos hinaus, indem sie die Anwendung humanbiologischer Methoden insgesamt einbezieht. "Bioethics" bezeichnet also mitnichten eine bestimmte Richtung oder etwa einen bestimmten Argumentationstyp der Ethik, etwa eine utilitaristische oder gar eine biologistische Ethik. Sie ist auch keine Sonderethik, sondern lediglich die Anwendung universal akzeptierter ethischer und rechtlicher Prinzipien auf ein besonderes, spezielles Gebiet. Sie stellt also ein Bereichsethik dar, wie etwa die Technikethik, eine Wissenschaftsethik, Informationsethik, Rechtsethik usw. (vgl. L. Honnefelder, Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 1, 1996, 298, 299, Anm. 1).

Die "Encyclopedia of Bioethics" wurde 1978 konzipiert vom Kennedy-Institut of Ethics an der Georgetown University in Washington. Die Georgetown University ist ein intellektuelles Zentrum des amerikanischen Katholizismus. Das deutsche
"Lexikon der Bioethik" wurde im Auftrag der Görres-Gesellschaft herausgegeben. Die "Encyclopedia of Bioethics" ist somit Modell und Vorbild des Lexikons der Bioethik. Die "Encyclopedia of Bioethics" konnte 1978 zu Recht mit Stolz in Anspruch nehmen, sie sei "the first encyclopedia in its field" (Introduction, XV). Für die Konzeption der Enzyklopädie machte sie drei Gründe namhaft: 1. Die Entwicklung neuer biomedizinischer Technologien seit den 50er Jahren, beispielsweise in Blick auf Lebensverlängerung, Dialyse, Nierentransplantation, Pränataldiagnostik und Abtreibung, medizinische Experimente, genetische Eingriffe, Reproduktionsmedizin, die Allokation von Ressourcen im Gesundheitswesen und das Verhältnis von Umwelt und Gesundheit. 2. Gleichzeitig, jedoch unabhängig davon, gab es eine intensive Diskussion um "moral values" und "ethical principles", um Methoden ethischer Argumentation und Prioritätensetzung. 3. Mit der ethischen Grundsatzdebatte verbindet sich ferner die Einsicht, dass in der Biomedizin nur multidisziplinäre Arbeit - im Deutschen zieht man es vor, von "interdisziplinärer" Arbeit zu sprechen - Erkenntnisgewinn bringen kann.

Die "Encyclopedia" bot sechs Schwerpunkte an: 1. Information über konkrete ethische und rechtliche Probleme. In einem Anhang ("Appendix") stellt sie deshalb medizinische Codizes, Standesrichtlinien und Patientenrechte zusammen. 2. Die Darstellung von Konzeption und Prinzipien ("Basic Concepts and Principles"). 3. Darstellung ethischer Theorien wie Utilitarismus, Deontologie und teleologische Ethik. 4. Ein Überblick über religiöse Traditionen wie Buddhismus, Konfuzianismus, östliche Orthodoxie, Hinduismus, Islam, Judentum, Protestantismus, römischer Katholizismus und Taoismus. 5. Historische Rückblicke. 6. Berücksichtigung der Bioethik nahestehender Disziplinen.

Bioethik verbindet die Begriffe Bios (Leben) und Ethos (Ethik). Sie repräsentiert also die Lebenswissenschaften (life sciences) und Gesundheitsfürsorge (health care) insgesamt. Zur Lebenswissenschaft gehört auch die Wirkung der Umwelt auf die Gesundheit, die Frage des Bevölkerungswachstums und der Bevölkerungspolitik. Der Kontext der demographischen und ökologischen Perspektiven ist folglich einzubeziehen. Sachlich angeordnet sind die Artikel in der Weise, dass ein Fachwissenschaftler den Sachstand ("state of art") darstellt. Es folgen soziologische Aspekte und die das Verhalten des Einzelnen wie das gesellschaftliche Handeln betreffende bioethische Fragestellungen. Die rechtlichen Fragestellungen und Regelungen werden gesondert behandelt. Angesprochen werden sollten von den Artikeln gebildete Interessierte, nicht jedoch nur die Experten auf dem jeweiligen Spezialgebiet. Das ist die Konzeption der "Encyclopedia of Bioethics", die in der zweiten Aufl. im wesentlichen beibehalten wurde.

II. Die Strittigkeit der Bioethik

Die beispielgebende Konzeption der "Encyclopedia of Bioethics" ist in Erinnerung zu rufen und der ursprüngliche Sinn des Wortes "Bioethik" zu beachten, will man nicht von vornherein Missverständnissen zum Opfer fallen. Die Kontroversen um das Auftreten des australischen "Bioethikers" Peter Singer haben in Deutschland eine Meinung befördert, wonach Bioethik mit einer bestimmten Form des Utilitarismus, des Präferenzutilitarismus, gleichzusetzen sei und folglich eine bestimmte Position in den umstrittenen Themen Schwangerschaftsabbruch, eugenische Selektion, Euthanasie und Sterbehilfe repräsentiere. Dazu kommen dieses Urteil verstärkend die Auseinandersetzungen um die sogenannte "Bioethik-Konvention" des Europarates 1995 bis 1998. Die Vorurteile und Einwände gegen die Bioethik als solche und die Bioethik-Konvention im Besonderen sind in der deutschen Öffentlichkeit weit verbreitet und werden zum Teil auch mit Vehemenz und dem Pathos des Bekenntnisses in evangelischen Kirchenkreisen vertreten. In der Dokumentation eines Fachforums "Menschen mit Behinderung in der biomedizinischen Forschung und Praxis" (17./18. Februar 1998) in Bonn brachten beispielsweise Gegner der Bioethik-Konvention Kritik vor (vgl. z. B. Michael Wunder/Therese Neuer-Miebach [Hg.], Bio-Ethik und die Zukunft der Medizin, Psychologie-Verlag, Bonn 1998). Man bekämpft eine "genetisch orientierte Medizin" und fordert dagegen eine "Soziomedizin".

Für die "Bioethik"-Gegner steht der Begriff "Bioethik" also für "Eugenik", "Euthanasie", "Lebenswert-Theorien", für technische Manipulation, vor allem in der klinischen Forschung, in der Fortpflanzungsmedizin und in der Genetik. In der Grafenecker-Erklärung wird eine Linie der Kontinuität der Bioethik in die Vergangenheit gezogen, nämlich zu den inhumanen Menschenversuchen des Dritten Reiches, den Naziverbrechen an Behinderten und Hilflosen, die als "lebensunwert" eingestuft wurden. Sozialdarwinistische Konzepte der Ausmerzung von "genetisch Minderwertigen" und "Ballastexistenzen" werden der Konzeption von Bioethik unterstellt. Differenzierte Überlegungen und Grenzbestimmunen werden von den Bioethik-Kritikern von vornherein abgelehnt. Singer wird insgesamt als "Tötungsphilosoph" abqualifiziert. Man will komplexe Tatbestände nicht zur Kenntnis nehmen. Zu den Bioethikern zählen freilich nicht nur Peter Singer, sondern z. B. auch Hans Jonas und Edmund Pellegrino und im weiteren Sinne sogar Albert Schweitzer, in der Geschichte u. a. Franz von Assisi, A. Schopenhauer, auch F. Nietzsche und viele Tierethiker. Den Bioethikern wird von den prinzipiell orientierten Kritikern grundsätzlich eine böse Intention unterstellt. Bioethik ist ein Feindbild, wobei der Biomedizin beispielsweise pauschal die Ideologie zugeschrieben wird, sie beabsichtige den Menschen biologisch so zu verändern, dass er den heutigen Erfordernissen angepasst werde. Der Biomediziner wird zum Zerrbild des Doktor Frankenstein.

Entzündet hat sich das Misstrauen gegen die Bioethik im deutschsprachigen Bereich - nicht in der französisch und englischsprachigen Öffentlichkeit und in Skandinavien - an der sogenannten Bioethik-Konvention. Die in 14 Kapitel eingeteilte Konvention enthält 38 Einzelartikel. In ihrer Endfassung, die im November 1996 vom Lenkungsausschuss für Bioethik des Europarates verabschiedet wurde, trägt sie den Titel: "Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin". Sie setzt für die Staaten des Europarates, welche die Konvention unterzeichnen, Mindeststandards. In der Sache lässt sie nach wie vor Wünsche offen. Es gibt eben Themen medizinischer Ethik, bei denen auch auf europäischer Ebene kein Konsens mehr besteht. Dazu zählen etwa die ethische und rechtliche Bewertung des Schwangerschaftsabbruchs und dadurch bedingt die Forschung an Embryonen. Diese unterschiedliche Auffassung in europäischen Ländern hat Auswirkungen auf Eingriffe bei Embryonen. Auch die Zulässigkeit der aktiven Sterbehilfe ist unterschiedlich geregelt, man denke nur an die Position der Niederlande. Ebenso bestehen Differenzen bei der Einschätzung des Hirntodes als Voraussetzung der Organentnahme von Toten. Ein besonders strittiger Punkt war und ist die Forschung an Nichteinwilligungsfähigen (persons not able to consent) in Artikel 16 und 17 der Konvention. In der ersten deutschen Übersetzung wurde "nicht einwilligungsfähig" - not able to consent - mit "behindert" (englisch: handicapped) übersetzt. Die daraus gefolgerte Behauptung, die Konvention würde die Forschung an Behinderten freigeben, weckte Erinnerungen an die NS-Zeit und rief einen Entrüstungssturm hervor. Die Konvention ist zudem Ergebnis politischer Verhandlungen und Kompromisse, also - wie die allermeisten völkerrechtlichen Texte - ein Patchwork.

Vornehmlich die politischen Auseinandersetzungen um die sogenannte Bioethik-Konvention haben die Bioethik in die öffentliche Diskussion gebracht. Die Konvention ist bestrebt, die Menschenrechtskonvention des Europarates von 1952 auf die Biomedizin anzuwenden und in dieser Hinsicht fortzuschreiben. Wie weit dies gelungen ist, bleibt zu erörtern. Wünsche sind offengeblieben; über Ziele, Möglichkeiten und Grenzen, über Lückenhaftigkeit und Unbestimmtheiten einzelner Bestimmungen ist zu reden. Unbestreitbar sollte allerdings sein, dass die Konvention insgesamt ein Schritt vorwärts zur Verständigung über Mindeststandards in der Biomedizin in Europa ist. Sie ist zwar nicht das Ende des Prozesses der Festigung der Menschenrechte und der ethischen Konsensfindung, sollte aber als wichtige Etappe auf den Weg bioethischer Urteilsfindung beachtet (und unterstützt) werden.

III. Die Konzeption des Lexikons der Bioethik

Im Kontext der internationalen Debatten und auf dem Hintergrund politischer Kontroversen ist das "Lexikon der Bioethik" zu sehen und zu würdigen. Es besteht nämlich ein umfassender Bedarf an Information, Aufklärung und Analyse. Das Lexikon ist ein außerordentlich ambitioniertes Vorhaben. Es hat das ehrgeizige Ziel einer umfassenden Bestandsaufnahme. Es gibt kaum etwas in der Ethik, das nicht die Bioethik auch betrifft. So findet sich beispielsweise ein Artikel "Garten". Auszugehen ist von der Konzeption, wie sie vom federführenden Herausgeber Wilhelm Korff im ersten Band skizziert wird ("Einführung in das Projekt Bioethik", I, 7-16): "Unter Bioethik wird in diesem Lexikon die ethische Reflexion jener Sachverhalte verstanden, die den verantwortlichen Umgang des Menschen mit Leben betreffen." (I, 7). Nach diesem Verständnis von Bioethik soll nicht nur der Umgang mit menschlichem Leben, sondern auch der Umgang mit außermenschlichem Leben reflektiert werden, also alles Leben. Das ist ein sehr weit gefasstes Verständnis von Bioethik, wie es auch anderwärts vertreten wird. So definiert Eve-Marie Engels: "Die Bioethik ist ein Hauptgebiet der anwendungsbezogenen Ethik und stellt eine normative Verständigung über die Spielräume und Grenzen menschlichen Handelns im Umgang mit der lebendigen Natur einschließlich der Natur des Menschen an." (In: Artikel Bioethik, Metzler Lexikon Religion, hrsg. v. Christoph Auffarth, Jutta Bernard, Hubert Mohr, Stuttgart-Weimar 1999, Bd. I, 159). Von Hause aus war "Bioethics" freilich "Medizinische Ethik". In das umfassendere Verständnis von Bioethik werden nunmehr neben der klassischen medizinischen Ethik auch die humanökologische Ethik, Umweltethik und Biotechnologie einbezogen. Bioethik wird damit ausgeweitet zu einer Ethik des Lebens. Aus dieser Ausweitung erklärt sich zum Teil der erhebliche Umfang des Lexikons. Außerdem genügt infolge der Erweiterung der Thematik der Bioethik auch nicht mehr der alleinige Rückgriff auf das Prinzip der Achtung der menschlichen Personenwürde. Fragen der Güterabwägung, der Risikoabschätzung und einer methodisch durchdachten Mittelrationalität werden ebenso dringlich. Ethische Diskurse sind angesichts neuer technischer Handlungsmöglichkeiten, von Konfliktfeldern und Gefahrenpotentialen unverzichtbar. Neben dem ethischen Prozess der Konsensfindung im Blick auf bioethische Fragestellungen laufen gleichzeitig Rechtfindungs- und Rechtsetzungsprozesse, die ebenfalls zu berücksichtigen sind. Recht vermittelt neben der Ethik normative Grundorientierung "im modernen, am Anspruch der Menschenwürde orientierten, freiheitlich-sozialen Rechtsstaat als der politischen Organisationsform einer pluralistischen Gesellschaft" (I, 9).

Damit stellt sich einmal die Aufgabe, Recht und Ethik einander zuzuordnen, aber auch sachgerecht voneinander abzugrenzen. Zuordnung und Abgrenzung von Ethik und Recht sind allerdings nicht in jedem Artikel überzeugend gelungen, zumal es sachlich unvermeidlich Überschneidungen und gegenseitige Beeinflussungen gibt. Strittig ist und bleibt vor allem die Frage, ob standesrechtliche Regelungen, Selbstbindungen in der Tradition des ärztlichen Ethos des hippokratischen Eides genügen, oder der Staat gesetzliche Normen setzen muss, freilich mit der Gefahr der Überregulierung und der mangelnden Situationsgerechtigkeit und Praktikabilität. In der Einleitung wird kritisch festgestellt: "Bei aller Dringlichkeit rechtlicher Regelung, die den verantwortlichen Umgang des Menschen mit Leben zum Ziel haben, ist daher eine Balance zu wahren zwischen der notwendig erscheinenden Regelungsdichte und einer größtmöglichen Wahrung des Subjektstatus als des Trägers aller sittlichen Verantwortung" (I, 10).

Jede Bioethik steht ferner unter der Doppelperspektive von ethischem Anspruch und empirischer Sachgerechtigkeit. Als allgemeine "bioethische Orientierungslinien" werden in der Einführung genannt: An erster Stelle steht die Wahrung der Unantastbarkeit der Würde der Person. Der "personale Ansatz" geht aus vom Menschen als Vernunft- und Freiheitswesen. Es ist dies der Ansatz sowohl der Naturrechtstradition als auch der Aufklärung, insbesondere Kants. Aus dem ersten Grundsatz der Achtung des Anspruchs der personalen Würde des Menschen folgt als zweite Leitlinie eine "ökologisch aufgeklärte Anthropozentrik" (I, 12 f.). Der Mensch ist alleiniger Adressat der ethischen Forderung, aber nicht gleichzeitig der ausschließliche Inhalt moralischer Forderungen. Mit dem Ansatz einer Anthropozentrik grenzt sich das Lexikon ab von Konzeptionen der Pathozentrik (einer Orientierung an der Leidensfähigkeit), der Biozentrik (einer Orientierung am Leben) und der Physiozentrik (einer generellen Orientierung an der Natur als solcher). Tierschutz - unter dem Aspekt, dass der Mensch empathiefähig ist gegenüber anderen Lebewesen -, Naturschutz, etwa das Eintreten für Biodiversität, und Umweltschutz, im Sinne einer Verhinderung, Vermeidung und Beseitigung der vielfältigen negativen Auswirkungen des modernen technisch-ökonomischen Fortschritts, werden freilich durchaus mit dem Adjektiv "gemäßigt" einbezogen - anstelle einer absoluten oder totalen Anthropozentrik.

Neben dem Grundsatz der Personalität und einer gemäßigten Anthropozentrik kommt als dritte Leitlinie Retinität als "umweltethische Bestimmungsgröße" und Kernstück der Umweltethik hinzu. "Retinität", abgeleitet vom lateinischen "rete", das Netz, meint "Gesamtvernetzung". Mit dem Prinzip der Retinität sollen ökologische Schäden von vornherein vermieden werden und die Umweltethik über das Konzept einer bloß nachsorgenden "Reparaturethik" hinausgeführt werden (I, 15). Es geht um "synökologisches" Denken. Erweitert wird die Thematik schließlich noch über die naturwissenschaftliche Fragestellung hinaus dadurch, dass gesellschaftliche Entwicklungen einbezogen werden. "Im Kontext bioethischer Fragestellungen sind jedoch nicht nur die Auswirkungen der technisch-ökonomischen Zivilisation auf das bio-ökologische System zu reflektieren, sondern ebenso ihre Auswirkungen auf die humanökologischen Zusammenhänge der individuellen und sozialen Lebenswelt des Menschen." (I, 16). Ein eigener Artikel Bioethik findet sich dann im Lexikon selbst nicht mehr, dafür ein umfassender Artikel "Bioethikkonvention" (I, 374-379) von Ludger Honnefelder und Michael Fuchs. Retinität bekommt dagegen als "umweltethisches Schlüsselprinzip" einen eigenen Artikel (III, 208-210; Markus Vogt). Neben Personalität, Solidarität und Subsidiarität hat der Herausgeber Wilhelm Korff "Retinität" als Sozialprinzip einer (sozialphilosophisch begründeten) katholischen Soziallehre seit 1989 geltend gemacht. Das Retinitätsprinzip ist nicht nur umweltethischer Leitbegriff, sondern auch ein Erklärungsprinzip im Rahmen von Theorien und von komplexen Systemen.

Die Konzeption, wie sie in der "Einführung" von Wilhelm Korff theoretisch fundiert wird, setzt somit drei Schwerpunkte, nämlich Bioethik als medizinischer Ethik, Biotechnologie und die ethischen Probleme vor allem der Risikoabschätzung und der Verträglichkeit, sowie Umweltethik. Die Stichworte der Umweltethik nehmen den meisten Raum ein. Sodann werden die Artikel nach drei Aspekten gegliedert: Problemstand, rechtliche Regelung und ethische Bewertung. Dazu kommt gelegentlich noch als Annex eine theologische Interpretation hinzu. Aus dieser Einteilung und Aufgliederung ergeben sich nahezu zwangsläufig und unausweichlich Überschneidungen und Redundanzen. Die Konzeption ist damit anhand der Stichworte zu veranschaulichen und zu überprüfen.

IV. Leben, Bios als Thema

Aussagekräftig ist allein schon die Nomenklatur. Die Reihenfolge der ersten Artikel unter A lautet: ABC-Waffen; Abfallwirtschaft; Abgasreinigung; Abwasserreinigung; Abweichendes Verhalten; Adoption; Aggression/Aggressivität; Agrarkultur; AIDS (Acquired Immune Deficiency Syndrome); Alkohol/ Alkoholismus; Alleinerziehende; Alleinstehende/Singles; Allergien; Allmendedilemma; Allokation; Altenheim/Pflegeheim; Alter/Altern; Alternative Behandlungsmethoden; Altlasten; Anabolika; Anatomie; Andrologie; Anencephalus; Angst; Anonymität; Anthropologie; Anthropozentrik; Apallisches Syndrom; Arbeitslosenversicherung; Arbeitslosigkeit; Arbeitsmedizin; Armut; Artenschutz; Arzneimittel; Arzneimittelforschung/ Arzneimittelprüfung; Arzneimittelmissbrauch; Arzneimittelrecht; Arzt-Patienten-Beziehung; Ärztliche Gelöbnisse; Ärztliches Standesrecht; Arztrecht; Arztvorbehalt; Asbest/Mineralfasern; Asilomar-Konferenzen; Ästhetik; Atmosphäre; Atomge- setz; Atomwaffen; Aufklärung/Aufklärungspflicht; Auschwitz; Autonomie (I, 51-293).

Die zweite Auflage der "Encyclopedia of Bioethics" (1995) behandelt hingegen unter A folgende Stichworte: Abortion; Abuse, interpersonal; Academic Health Center; Action; Adolescents; Adoption; Advertising; African Religion; Aging and the Aged; Agriculture; AIDS; Allied Health Professions; Alternative Therapies; Animal Research; Animal Welfare and Rights; Artificial Hearts and Cardiac-Assist Devices; Authority; Autoexperimentation; Autonomy. Die Encyclopedia hat also von vornherein weniger Stichworte und konzentriert sich auf die medizinischen Artikel. Sie endet mit dem Artikel "Xenografts"- also Xenotransplantation. Das Lexikon der Bioethik schließt dagegen mit dem Buchstaben Z: Zellbiologie; Zivilisationskrankheiten; Züchtung; Zwangsbehandlung, rechtlich; Zwangseinweisung; Zwangsunterbringung, rechtlich; Zwangsunterbringung/Zwangsbehandlung psychisch Kranker (III, 792- 814). Nomenklaturen aus unterschiedlichen Sprachen sind sicherlich nur recht begrenzt vergleichbar, aber dennoch je für sich genommen aufschlussreich. Denn schon ein oberflächlicher Vergleich zeigt einmal, dass im Lexikon die Zahl der Stichwörter vermehrt wurde und sodann, dass der Akzent rein quantitativ von der medizinischen Ethik auf die Umweltethik verlagert ist. Nimmt man Stichworte wie Chemikalienrecht; Chemische Waffen; Chlorchemie; Dünger; Pflanzenschutzmittel; Radioaktivität; Reinigungsmittel; Toxizitätsprüfung; Zellbiologie; Kernenergie; Wiederaufbereitung/Wiederaufbereitungsanlage; Energiearten/Energieträger; Flugverkehr; Kohlendioxid; Talsperren; Tschernobyl und noch viele andere hinzu, dann zeigt sich, dass das Schwergewicht im Lexikon der Bioethik eher auf der Umweltethik und verwandten Gebieten liegt, wohingegen die Encyclopedia eindeutig die medizinische Ethik hervorhebt. Artikel wie Formaldehyd sucht man zudem eher in einem Lehrbuch der Toxikologie.

Betrachtet man sodann das Wort "bios", dann fällt der erste Blick auf das Stichwort Biologie. Folgende Stichworte stehen unter Bio-: Biochemie; Biodiversität; Bioethikkonvention - ein eigener Artikel Bioethik fehlt, wie bereits angemerkt! - Biokybernetik; Biologie; Biologische Sicherheit; Biologische Waffen; Biosensorik; Biotechnik; Biotop; Biozentrik; Biozönose. Bereits die Aufzählung der Stichworte gibt zu erkennen, dass das Lexikon der Bioethik sich auf die Erfassung der Sachverhalte und einem Überblick über den Problemstand konzentriert. Der Artikel Biologie (I, 380-384) informiert über Gliederung und Systembegriff in der Biologie, über das Verhältnis von Biologie zu den "Materiewissenschaften" Physik und Chemie, sowie zur Philosophie, vor allem zum Leib-Seele-Problem. Das Verhältnis von Biologie und Ethik wird in diesem Artikel nicht explizit erörtert.

Dagegen findet sich in dem sehr langen Artikel Evolution/ Evolutionstheorien (I, 706-721) nicht nur eine Darstellung der naturwissenschaftlichen Grundlagen und der Schlüsselbegriffe der Evolutionstheorie, sondern auch eine wissenschaftstheoretische Reflexion evolutionstheoretischer Erklärungen und dann auch eine Darstellung und Auseinandersetzung mit der evolutionären Ethik (I, 717-720), seit Herbert Spencer bis hin zu Konrad Lorenz, mit der Soziobiologie und einer biologischen Begründungslogik des Sittlichen. Das Urteil ist in diesem Artikel durchaus abgewogen: Unter Beachtung von Differenzierungen und Einschränkungen im Blick auf die Unableitbarkeit der Selbstbestimmung des sittlichen Subjekts wird der Beitrag der evolutionären Ethik zu den Neigungsstrukturen und Wirkzusammenhänge menschlichen Handelns positiv gewürdigt und aufgenommen. Ein "Animismus der Gene" sei freilich keine biologisch begründbare Theorie: "Die Proklamierung des Selbstinteresses als Metatheorie des Sozialen scheitert an dem Anspruch, ohne den Rückgriff auf transzendentale oder personale Kategorien, die dieses Prinzip durchbrechen, konsistente Bezugseinheiten anzugeben" (I, 718). Zwischen Biologie und Ethos bleibt also eine Spannungsverhältnis bestehen: "Die Spannung zwischen dem ,Egoismusparadigma’ der Evolutionstheorie und dem ,Sozialparadigma’, das im Bereich der Moralvorstellungen vorherrscht, läßt sich nicht auflösen" (I, 720). Eine Integration der ethischen Perspektive in die Schilderung des Problemstandes der Biologie ist - so das Fazit - offenkundig schwierig.

Diese Gewichtung ließe sich auch im Umfeld der Artikel zur Technik - trotz eines eigenen Artikels "Technikethik" - und vor allem zu den - mit Ausnahme des Stichworts "Unfallversicherung" - den Buchstaben U einnehmenden Artikel zur Umwelt zeigen.

Jeder Artikel enthält zudem am Beginn eine Reihe Verweisstichworte. Diese Hinweise sind hilfreich und weiterführend. Aber die Verweisstichworte belegen ebenfalls, dass manche Themen unter verschiedenen Begriffen in vergleichbarer Weise abgehandelt werden. Das ist beispielsweise der Fall beim Artikel "Arzt-Patienten-Beziehung" (I, 238-248), der sich in rechtlicher Hinsicht mit Artikeln wie Ärztliches Standesrecht, Arztrecht überschneidet. Die Thematik des "informed consent" als Voraussetzung ärztlicher Eingriffe wird außerdem angesprochen in den Artikeln Aufklärung/Aufklärungspflicht (I, 284-289), Einwilligung (I, 538-542), Patient/Patientenrecht (II, 835-842) und wird dem Register nach immer wieder aufgegriffen. Angesichts dieses Tatbestandes und der Notwendigkeit einer mehrfachen Nennung hätte man überlegen können, die Fragestellung der Aufklärung konzentrierter darzustellen.

In manchen Artikeln ergeben sich unvermeidlich thematische Überschneidungen zwischen dem rechtlichen und dem ethischen Teil, zumal gerade im Medizinrecht häufig ethische Wertentscheidungen und Überlegungen die Grundlage bilden. Außerdem schließen auch manche Problemstandsbeschreibungen mit einem Ausblick auf "ethische Aspekte" ab (z. B. Entropie, Entsorgung, Erholung usw., vgl. auch den Artikel Freisetzung/Freisetzungsversuche, der vor allem ethische Einwände gegen Freisetzung kritisch thematisiert). Für ein Lexikon sind einige Artikel ferner zu breit geraten, wenn man rasche und knappe Informationen sucht und an die Fülle der Details als Nichtfachmann weniger interessiert ist. Dies trifft nicht nur auf naturwissenschaftliche Artikel zu, sondern auch auf einige medizinische Beiträge, die eher den Spezialisten im Auge haben (z. B. der Artikel Befruchtung). Auch im Blick auf manche philosophische Beiträge ist dies festzuhalten. Die im eigentlichem Sinne theologischen Beiträge sind hingegen knapper gehalten. Ein Beispiel für weites Ausgreifen bietet der differenzierte, philosophiegeschichtlich breit angelegte Artikel "Determinismus" (I, 470-479) von Armin Wildfeuer, der über Traditionen und Versionen der Determinismusdeutungen informiert und das "Skandalon jedes Determinismus", das "in der Infragestellung menschlicher Freiheit" besteht, eingehend diskutiert. Die gelehrte Abhandlung ist - gerade in der Vielzahl der genannten Namen und Positionen philosophischer Interpreten des Determinismus - in einem Lexikon reichlich anspruchsvoll und etwas langatmig geraten, obwohl oder auch gerade weil die Bedeutung des unverzichtbaren methodischen Determinismus in den Natur- und Humanwissenschaften als heuristisches Prinzip überzeugend dargestellt wird und gleichwohl einer Auffassung widersprochen wird, Freiheit und Verantwortung seien bloße Illusionen (I, 477).

Mit dieser Bemerkung ist der Übergang vom Bios zur Ethik markiert.

V. Der Beitrag der Ethik

Da ein eigener Artikel "Bioethik" im Lexikon fehlt, wird man für die Sicht von Ethik zunächst zum umfangreichen Artikel "Ethik" greifen. Der philosophische Teil (I, 654-662) stammt aus der Feder von Ludger Honnefelder. Er entfaltet, ausgehend von Aristoteles, eine Theorie menschlichen Handelns und erörtert zunächst die Bedingung der Wahl- und Willensfreiheit. Unter den historischen Ansätzen nimmt Thomas von Aquin einen breiten Raum ein. Die in Grundzügen entworfene Ethik, die sich als normative, d. h. handlungsleitende Theorie versteht (I, 654) wird dann auf einzelne Sachbereiche angewandt. Der moraltheologische Teil des Artikels stammt ebenfalls von einem der Herausgeber, von Wilhelm Korff (I, 662-674). Er gibt einen Überblick über geschichtliche Entwicklungen der theologischen Ethik und zeigt unterschiedliche Entwicklungslinien auf - eine spirituell-entfaltungsorientierte, eine kasuistisch-anwendungs-orientierte und eine systematisch-grundlegungsorientierte - und schließt mit einer Hermeneutik theologisch-ethischer Erkenntnis, in der neben der biblischen Fundierung, einer philosophischen Rückkopplung, der Relevanz von Empirie und Tradition die Funktion des kirchlichen Lehramts in seiner eigenen Wächterfunktion kurz erwähnt wird.

Hartmut Kreß steuert einen Überblick über Ansatz und Entwicklungslinien evangelisch-theologischer Ethik bei (I, 674-682); im Mittelpunkt stehen dabei Luthers Zwei-Reiche-Lehre und Schleiermachers Güterlehre. Evangelische Ethik wird damit sachkundig als normative Verantwortungsethik entfaltet. Ergänzend sind heranzuziehen die Artikel: Autonomie (I, 289-293; Annemarie Pieper); Ethos (I, 693-694; Wolfgang Kluxen); Gerechtigkeit (II, 71-73, philosophisch: Friedo Ricken; 73-75, rechtlich: Alexander Hollerbach); Gewissen (II, 156-161; Konrad Hilpert); Liebe (II, 612-616; Konrad Hilpert); Maximen (II, 618-622; Christian Schröer); Moral/Moralität (II, 707-712; Christian Schröer); Norm/Normen (II, 770-777; Wilhelm Korff); Prinzipien (III, 64-66; Hans Michael Baumgartner); Sitte (III, 351-355; Christian Schröer); Verantwortung (III, 670-673, rechtlich: Björn Burkhardt; 673-676, ethisch: Wilhelm Vossenkuhl). Als eigene Bereichsethiken werden erörtert: Berufsethik (I, 331-334; Hans Jürgen Münk), Forschungsethik (I, 765-769; Otfried Höffe); Sexualethik (III, 310-325; Waldemar Molinski); Sozialethik (III, 377-388; Wilhelm Korff); Technikethik (III, 508-516; Armin Grunewald); Tugendethik (III, 617-621; Heinrich Leitner); Umweltethik (III, 628-632; Hans Joachim Höhn); Wirtschaftsethik (III, 766-778; Wolfgang Kluxen); Wissenschaftsethik (III, 778-781; Carl Friedrich Gethmann).

Im Artikel "Forschungsethik" fasst O. Höffe mit der These, Moral werde zum "Preis der Moderne" (I, 766), seine eigenen Überlegungen zu Forschungsfreiheit und Forschungsprozess zusammen. Der Artikel "Sexualethik" enthält einen langen historischen Rückblick, was durchaus anzuerkennen ist, und betont das "Menschenrecht auf unbehinderte sexuelle Selbstverwirklichung" (III, 323). Im Artikel "Sozialethik" stellt Wilhelm Korff die neuzeitliche Wende zum Subjekt vor und beschreibt Sozialethik als Strukturenethik, Normenethik und Institutionenethik. Es ist dies jedoch eine strikt systematische Ausarbeitung einer Ethik sozial übergreifender Systeme (III, 381 f.). Ein eigener Artikel Soziallehre findet sich darum nicht. Die geschichtliche Entwicklung der Sozialethik ist zudem nicht eigens ausgeführt. Armin Grunewald informiert kundig über Entstehung und Tendenzen der "Technikethik", freilich ohne expliziten Bezug zur Bioethik. Die "Tugendethik" wird in ihrer geschichtlichen Entwicklung und in ihrer Bedeutung, auch für die Affektivität des Handelns (III, 629) skizziert und schließt mit einem Ausblick auf die medizinische Ethik, in welcher mit der Tugendethik die Person des Arztes in den Mittelpunkt rückt. Der "Umweltethik" wird im Artikel der gesellschaftliche Ort zwischen Ökologie und Politik zugewiesen. Der Artikel "Wirtschaftsethik" ist eine aus philosophischen Wahrnehmungen entwickelte Reflexion, die andere Positionen und historische Entwicklungen überhaupt nicht erwähnt. Der knappe Artikel "Wissenschaftsethik" konzentriert sich auf Umweltschutz, Technikfolgenabschätzung, medizinische Ethik und Bioethik.

Von Ausnahmen abgesehen sind die ethischen Beiträge, verglichen mit den Sachbeiträgen, knapper und kürzer gehalten. Das Leben, der Bios bekommt von vornherein mehr Raum eingeräumt. An den Beitrag der Ethik im Lexikon insgesamt sind zudem einige kritische Fragen zu richten. Auffallend ist, dass der Begriff Utilitarismus zwar im Register genannt ist, aber keinen eigenen Artikel hat - und das angesichts von Peter Singers präferenzutilitaristischer Konzeption von Bioethik! Vernunft oder Rationalität haben ebensowenig einen Artikel erhalten wie Wert/Werte oder Deontologie, ein Terminus, der im Register nur einmal vorkommt (II, 650). Auffallend ist zudem, dass der ganze Bereich des Affektiven, der Emotionen, der Gefühle - der Begriff "Gefühl" fehlt im Register - ausfällt. Der Artikel Tu-gendethik kann dieses Defizit nicht kompensieren. Kann man Bioethik ohne Beachtung der affektiven Perspektive (Betroffenheit, Engagement) darstellen? Genügt die Berufung auf "Güter- und Übelabwägung" (II, 180-182, rechtlich: Robert Alexy; 182-190, ethisch: Stephan Feldhaus)? Ist Verständigung über Herausforderungen der Bioethik nur eine Frage der Folgenbewertung, die Übelminimierung und Übelabwägung, einer Kosten-Nutzen-Analyse, kurzum eine Sache rationalen Kalküls und der Abschätzung von Wahrscheinlichkeiten? Der knappe Artikel "Handlung/Handlungstheorie" (II, 201-204; Oswald Schwemmer) konzentriert sich auf das system- und handlungstheoretische Verständnis von Handlungen, deren Verfügbarkeit als freie Handlungen, die Kontexte und Wirkungen von Handlungen. Die Perspektive ethischer Reflexion und Analyse enthält also Lücken. Außer dem Utilitarismus sind die Diskursethik und der Kontraktualismus (ethische Vertragstheorien) nicht berücksichtigt.

Dies wird noch deutlicher, nimmt man wahr, dass Politik und Politische Ethik keine eigenen Artikel haben. Insgesamt finden sich zur Begrifflichkeit von Politik nur ganz wenige Hinweise im Register. Dabei spielt doch Politikberatung auf dem Feld, welches das Lexikon bearbeitet, eine wichtige Rolle. Und von einer Politisierung des Gesundheitswesens und der Ökologie ist derzeit allenthalben die Rede. Nicht nur in der Unterbestimmung des Nichtrationalen, der affektiven Seite der Ethik, sondern auch in der mangelnden Berücksichtigung des Politischen weist das Lexikon empfindliche Lücken auf. Selbstverständlich findet man Artikel zu Entwicklungspolitik, Familienpolitik, Sozialpolitik, Umweltpolitik - aber diese regionalen Politiken ersetzen nicht die Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Politischen insgesamt. Zwar ist alles Politik - aber ebenso gilt: Politik ist nicht alles, und deshalb sind Ethik und wissenschaftliche Sachgemäßheit in ihrem eigenen Recht und eigenen Wert zu achten.

Politik ist außerdem der Raum des Öffentlichen. Auch Öffentlichkeit hat übrigens keinen eigenen Artikel. Hingegen ist dem Recht (III, 153-161; Thomas Würtenberger) ein umfangreicher Artikel gewidmet. Dieser Artikel behandelt Rechtsquellen, Auslegungsmethoden, Geltung und Durchsetzung, sowie die Leitprinzipien der Rechtsordnung des Grundgesetzes und die rechtspolitische Frage nach der Gerechtigkeit; ein Bezug zur Bioethik wird freilich nicht hergestellt.

So ist das Ergebnis im Blick auf die Perspektive der Ethik ambivalent. Es finden sich einerseits kompetente und anwendungsorientierte Beiträge zur ethischen Urteilsfindung, aber es fallen andererseits doch weite Dimensionen des Moralischen und der ethischen Wahrnehmung aus, vor allem der Einfluss des Affektiven oder Politik als Raum der Meinungs- und Urteilsbildung.

VI. Ort und Funktion der Theologie

Das Lexikon der Bioethik beansprucht, die Natur- und Hu-manwissenschaften, deren Thema das Leben in recht unterschiedliche Weise ist, mit der Ethik als Geisteswissenschaft zusammenzuführen, die einen Anspruch auf allgemeinverbindliche Geltung und Anerkennung erhebt. Welchen Stellenwert haben in diesem Kontext Religion und Theologie?

Die "Encyclopedia of Bioethics" verteilt die Darstellung von "Religious traditions" auf verschiedene Stichworte, in deren "bioethical beliefs, norms, teachings, and practices of the dominant world religions" dargestellt werden. Dabei stehen die in den USA präsenten Weltreligionen verständlicherweise im Vordergrund. Das Lexikon der Bioethik hat dagegen nur ein eigenes Stichwort, nämlich "Religionen und Bioethik" (III, 183-200). Nach einem knappen "allgemeinen Teil" von Hans Waldenfels werden in ihm die Einstellung zum Leben im Buddhismus, im Christentum (von Eberhard Schockenhoff, im wesentlichen unter Berücksichtigung der katholischen Tradition), im Hinduismus und Islam behandelt. Das Judentum fehlt hingegen, ebenso die afrikanischen Religionen (Naturreligionen). Auch die biblische Sicht verdiente durchaus einen eigenen Artikel. Religion ist nämlich ein wesentliches Element von Kultur. Neben dem Staat sind Religion und Kultur starke Kräfte der Geschichte. Staat und Kultur haben auch kein eigenes Lexem. Religion scheint infolge dieser Anordnung ein Sondergebiet zu bilden, wohingegen Vernunft und Humanität das Allgemeine repräsentieren.

In der Tat besteht ein Spannungsverhältnis zwischen den generalisierenden Forderungen der Vernunft, dem Universalitätsprinzip der Rationalität, und der individuellen Gestaltung, wie dem existentiellen Vollzug von Glauben und religiöser Erfahrung sowie der Kontingenz von Offenbarung. Theologie nimmt, veranschaulicht an den einzelnen Artikeln, im Lexikon der Bioethik eine Randstellung ein: Zu nennen sind als theologische Einträge: Heil (II, 207-211; Eberhard Schockenhoff); Leid/Leidlinderung (II, 585-590; Gerd Höver thematisiert neben anderem die Hiobsfrage); Liebe (II, 612-616; Konrad Hilpert); Schöpfung (III, 242-245; Jürgen Werbick); Schuld (II, 251 ff., theologisch: Josef Schuster); Sterben (III, 458-460, theologisch: Josef Wohlmuth); Tod (III, 575-578, theologisch: Josef Wohlmuth). Die Zahl der explizit theologischen Artikel ist also ziemlich gering. Der Artikel Theozentrik von Bernhard Irrgang (III, 526-528) analysiert den Begriff, verweist auf J. B. Metz’ Thomasinterpretation, der bei Thomas von Aquin ein material theozentrisches, jedoch formal anthropozentrisches Denken konstatiert und analysiert dann aber lediglich noch theozentrische Argumente in der Umweltethik. Die wenigen theologischen Artikel lassen fragen, ob darin eine im allgemeinen Bewusstsein verbreitete Vorstellung von der Marginalität der Theologie für das gesellschaftliche Zusammenleben sich artikuliert und ob nicht eine gewisse Blickverengung vorliegt. Über die Relevanz des Gottesgedankens für das Weltverständnis, über die Bedeutung des Glaubens für das Selbstverständnis des Menschen, das "Menschenbild" - im Register fehlt auch der Begriff Gottebenbildlichkeit - über Sünde und Böses (auch das Wort "Böses" erscheint nicht im Sachregister) wäre doch vornehmlich auch theologisch nachzudenken. Nun mag man einwenden, die Theologie habe selbst weithin den Kontakt zu den Natur- und Humanwissenschaften verloren. Das mag ja so sein. Aber unter den wissenschaftlichen Beratern ist die theologische Ethik vertreten. Theologie ist eben nicht nur für Anwendungen bedeutsam, sondern sie stellt auch erkenntnistheoretische Fragen.

Die Görres-Gesellschaft, welche den Auftrag zur Erarbeitung des Lexikons gegeben hat, ist eine katholische Vereinigung. Daher ist nach der katholischen Prägung eigens zu fragen. Dass die lehramtliche Position der katholischen Kirche dargestellt wird, ist kein Einwand, im Gegenteil, der Leser erwartet gerade in dieser Hinsicht, zuverlässig informiert zu werden. Am offenkundigsten ist bekanntlich die Diskrepanz zwischen Zeitgeist und Äußerungen päpstlichen Lehramtes bei Fragen von Ehe und Sexualität. Dies legt es nahe, die einschlägigen Artikel einzusehen. Bevölkerungsentwicklung/Bevölkerungspolitik (I, 347-360) informiert zunächst sachkundig und ausführlich über den Problemstand, über methodische Fragen und Transformationsprozesse, Steuerungsmaßnahmen (Jörg. A. Hauser).

Im ethischen Teil (I, 356-360) betont Johannes Müller die Verantwortung für Bevölkerungspolitik und benennt "sozialethische Kriterien der Familienplanung". Es geht auch um das Kriterium des Zugangs zur Familienplanung für Armen: "Dieses Kriterium erfordert Mittel zur Empfängnisverhütung, die billig, leicht erhältlich und möglichst einfach anwendbar sind" (I, 359). Alle großen Religionen hätten inzwischen im Laufe der letzten Jahrzehnte "die Notwendigkeit von Geburtenplanung auch in ihrer offiziellen Lehre anerkannt, allerdings mit abweichenden Meinungen von teilweise erheblichem Gewicht" (I, 359). Im Artikel "Empfängnisregelung, moraltheologisch" (I, 579-583) betont Bernhard Häring nachdrücklich die Notwendigkeit, die Bevölkerungsexplosion ernst zu nehmen; höchst kritisch diskutiert er darum "Humanae vitae", unter Rückgriff auf Lehrmeinungen Alfons von Liguori, und konfrontiert die Sichtweise des II. Vatikanischen Konzils der "Engführung durch ,Casti connubii’" (1930). Gegen die Einflussnahme und den Autoritätsanspruch Roms setzt er die Überzeugung: "Doch die Zeichen der Zeit stehen auf Wandel. Die Bedeutung und Kraft der öffentlichen Meinung und des Freimuts in der Kirche nimmt zu" (I, 583). Der Artikel Ehe (II, 508-519) beginnt mit einer umfassenden sozialwissenschaftlichen Darlegung heutigen Eheverständnisses (I, 508-512; Franz-Xaver Kaufmann), behandelt dann die Rechtslage (I, 512-514 Dieter Schwab), blickt auf die Tradition katholischen (I, 514-515; Matthäus Kaiser) und evangelischen Eherechts (I, 515-517; Dietrich Pirson) zurück und geht sehr knapp im Schlussteil "ethisch" (I, 517-519; Hans-Günter Gruber) auf Wandlungen im Eheverständnis und historische Freisetzungsprozesse ein, die heute zu beachten seien. Er enthält im Wesentlichen eine sozialhistorische Deutung der Krise und des Wandels der Ehe, welche differenzierende sozialethische Bemühungen um ehe- und familienfreundliche Bedingungen fordert, um dadurch die Stabilität der Ehe zu sichern. Moraltheologische Ausführungen fehlen; die katholische Sicht wird nur über das kanonische Recht eingebracht. Im Artikel "Homosexualität" (II, 224-230) wird zuerst der Problemstand referiert (II, 224-227; Martin Dannecker), dann die Rechtslage dargelegt (II, 227-228; Friedrich-Christian Schroeder), ehe die ethische Bewertung erfolgt (II, 228-230 Adrian Holderegger). Die ethische Bewertung habe das kulturanthropologische Faktum zur Kenntnis zu nehmen, "daß Sexualität kein apriori festgelegtes Kulturphänomen darstellt" (II, 228). Die Beurteilung von Homosexualität als "contra naturam" wird kritisch gesehen. Der gegenwärtige Diskussionsstand wird eingehend in seiner Strittigkeit referiert. Für den kirchlichen Bereich "ergeben sich mit zunehmender Anerkennung homo-sexueller Lebensformen spezifische, kontrovers diskutierte Probleme": Trauungsähnliche Amtshandlungen bei homosexuellen Paaren und die Verträglichkeit offen gelebter Homosexualität mit einer kirchlichen Amtsträgerschaft. Schließlich zum Schwangerschaftsabbruch (III, 262-278): Auch hier werden der Problemstand in der Medizin (III, 262-267; Lutwin Beck / Hermann Hepp/Elisabeth Heywinkel) und danach die Rechtslage (III, 267-274; Albin Eser) eingehend und sorgfältig dargestellt. Schließlich folgt eine knappe ethische Stellungnahme von Johannes Gründel (III, 274-278), welche einerseits auf die Enzyklika "Evangelium vitae" (1995) hinweist und andererseits die Konfliktsituation betont. Die katholische Kirche könne überdies bei einem Schutz menschlichen Lebens vor der Geburt nur dann "glaubwürdig bleiben, wenn sie zugleich sichere Methoden einer Empfängnisverhütung bejaht, deren Wahl letztlich der Gewissensentscheidung der betreffenden Eheleute zugewiesen bleibt" (III, 277). Ferner: "Niemand wird eine Frau von vornherein diffamieren, weil sie abgetrieben hat" (III, 277). Die Position katholischer Beratungsstellen (III, 260 f.) wird nach dem Stand von Anfang 1998 geschildert - also vor dem Papstbrief zur Schwangerschaftsberatung 1999.

Durchweg wird also nicht ein geschlossener oder gar der dezidiert katholische Standpunkt in der Sexual- und Ehemoral proklamiert, sondern stattdessen werden Probleme und Konfliktlagen beschrieben. Die Sicht ist bei theologischen Fragestellungen durchweg eine gemeinchristliche. Vor dem Ersten Weltkrieg ging unter protestantischen Gebildeten der Satz um: "catholica non leguntur", auch im Blick auf Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft. Dies hat sich geändert. Wer eine abgewogene Präsentation des Problemstandes und differenzierte Argumentation sucht, ist an katholisch initiierte Werke gewiesen, etwa nicht nur an das Lexikon der Bioethik, sondern auch z. B. an das Staatslexikon.

VII. Abschließende Bemerkungen

zum Projekt Bioethik


Eine Gesamtbetrachtung wird bei mancher Kritik im Einzelnen das Vorhaben im Ganzen nur als höchst ambitioniertes und gelungenes Unternehmen würdigen und loben können. Die Darstellungsform ist freilich noch nicht der Weisheit letzter Schluss. Auf manche Breiten und Redundanzen wurde bereits verwiesen. Ob Stichworte wie "Auschwitz", "Okkultismus", "Selbstorganisation", "Schifffahrt" (ein rein verkehrstechnisch angelegter Beitrag) in das Lexikon gehören, bleibt zu diskutieren. Manche Fachartikel geben zu Rückfragen Anlass (z. B. die Artikel Migration, Blutspende/Bluttransfusion). Anderes fehlt. Lücken wurden bereits genannt.

Man könnte weitere Wünsche äußern: Charakter ("Character Ethics" von S. Hauerwas ist nur im Beitrag "Suizid" beiläufig erwähnt), Intention, Interesse als fundamentalethische Fragestellungen, neben dem Bereich des Affektiven; Subsidiarität hat keinen eigenen Artikel, das Thema wird unter den Sozialprinzipien behandelt; Staat hat keinen eigenen Artikel, Sozialstaat findet sich nicht, dafür Sozialpolitik. Rationierung wird einmal erwähnt (II, 144 unter Gesundheitswesen), das Thema wird auch noch bei Sozialmedizin gestreift. Freizeit kommt vor, Muße nicht. Das sind Desiderate, hinter denen allerdings auch Probleme der Gestaltungsform stehen könnten: Ein Lexikon ist nämlich ein Nachschlagewerk in alphabetischer Anordnung. Es sollte möglichst umfassend, aber auch relativ knapp informieren. Handbücher hingegen ordnen zumeist schwerpunktmäßig nach Sachgebieten und Themen. Das wäre auch in diesem Fall bei Themen wie Energie, Genetik, Umwelt und anderen Sachgebieten möglich gewesen; dadurch könnten Überschneidungen und Wiederholungen vermieden werden, welche die lexikalisch-alphabetische Anordnung zwangsläufig mit sich bringt. Das amerikanische Vorbild und Pendant nennt sich Enzyklopädie. Enzyklopädien sollen als "Umkreis des Wissens" (enkyklios paideia, "Kreis der Bildung") einen Wissenszusammenhang systematisch erfassen. Vermutlich wäre eine Kombination aus einem alphabetisch geordneten Lexikon und einem thematische Schwerpunktsetzung systematisch darstellendem Handbuch die am ehesten angemessene Form der Darstellung.

Neben der eher formalen Überlegung zur Darstellungsform stellt schließlich die Einordnung der Ethik ein weiteres grundsätzliches Problem dar. Problemstände lassen sich lexikalisch eher erfassen, ethische Urteilsschemata entziehen sich weitgehend der lexikalischen Zuordnung und Erörterung. Das Lexikon der Bioethik ist, zu Recht, zunächst auf das individuelle, sittliche Subjekt hin orientiert, die Person (vgl. den eingehenden Artikel von Armin Wildfeuer III, 1-9) sowie bezogen auf Menschenrechte (II, 670-674, philosophisch: Konrad Hilpert; 679-683, rechtlich: Gerhard Luf) und Menschenwürde/Personwürde (II, 683-688; Johannes Schwartländer). Dazu kommt ergänzend hinzu als maßgebliche Orientierungsangabe die Wendung vom ärztlichen Berufsethos zur Patientenethik (II, 842-844; Stella Reiter-Theil). Der Bezugspunkt an sich ist also klar. Weniger geklärt ist hingegen die Relevanz ethischer Theorien für die Entscheidungsfindung angewandter, praktischer Ethik. Die offene Frage ist: Schließen unterschiedliche theoretische Ansätze einen Konsens in der jeweiligen konkreten Entscheidung aus? Das ist oft erkennbar gerade nicht der Fall. Dazuhin ist der Pluralismus in ethischen Argumentationen und Überzeugungen zu berücksichtigen. (Pluralismus hat auch keine eigenes Stichwort.) In der amerikanischen Diskussion spielen vier Prinzipien eine Rolle, die T. L. Beauchamp und J. Childress gemäß ihrem Verständnis von Bioethik als praktischer Ethik formuliert haben, nämlich: Achtung der Autonomie des Betroffenen, Nichtschadensprinzip, Fürsorgeprinzip und Verteilungsgerechtigkeit (respect for autonomy, non-maleficence, beneficence, justice). Neben dieser Prinzipienethik finden sich jedoch weitere ethische Konzeptionen der Deontologie (z. B. im Anschluss an Kant), Versuche einer Erneuerung der Kasuistik, das Konzept eines Kontraktualismus, der vom Patientenvertrag ausgeht. Man könnte weitere ethische Konzeptionen nennen: utilitaristische Folgenabschätzung; Wertethik; diskursive Legitimation usw. Kurzum: Die ethischen Begründungsmodelle sind höchst vielfältig. Sie lassen sich auch nicht einfach schlicht unter Stich- und Schlagworten subsumieren. Das erschwert ihre lexikographische Erfassung. Manche kritische Anfragen richten sich denn auch generell an die Auffassung vom Status der Ethik in der Bioethik. Da ist augenblicklich vieles noch im Fluss.

Das Lexikon der Bioethik bildet insoweit auch einen unabgeschlossenen Diskussionsprozess ab, dessen Zielsetzung und Ursprung in der Debatte selbst zum Teil noch unklar und strittig ist. Eine solche Diskussion ist aber dringlich erforderlich - und deshalb sind kontroverse Positionen sorgfältig zu hören, sofern sie sachlich und argumentativ begründet werden. Das Lexikon will in dieser Lage zur Versachlichung beitragen; deshalb wird der Problemstand so ausführlich und umfassend ausgebreitet. Das Lexikon folgt aber nicht der These von einem Sachzwang, der sich mit unwiderstehlicher Gewalt durchsetzt. Vielmehr geht es in ihm darum, zu entdecken, wie und an welchen Stellen ethische Reflexion kritisch, korrigierend und orientierend ansetzen kann. Die Verbindung von Expertise und Ethik eröffnet dafür Möglichkeiten und Wege. Die Tendenz dabei ist die einer Verbesserung oder "Optimierung" der Orientierung und Entscheidungsfindung. Die Diskussion um die Bioethik gleicht gegenwärtig dem Versuch in den aufgewühlten Fluten des Lebens zu navigieren. Man kann das Bild noch in anderer Hinsicht bemühen und angesichts des unendlichen Meeres der Lebenswissenschaften in der Bioethik einen mächtigen Rettungsring für hilflose Zeitgenossen suchen. Das Lexikon selbst ist freilich eher nach dem Modell eines Seenotkreuzers konstruiert - seetüchtig zwar auf dem Ozean der Lebenswissenschaften, aber mit Schwierigkeiten bei Untiefen und eben wenig beweglich, wie es große Schiffe und Boote nun einmal sind.

Die Görres-Gesellschaft hat das Projekt "Bioethik" initiiert. Dafür verdient sie Respekt, Dank und Anerkennung. Das war und ist ein ambitioniertes wie komplexes und schwieriges Vorhaben. Auf evangelischer Seite findet sich nichts Vergleichbares. Denn der deutsche Protestantismus hat derzeit weder die personellen, noch die finanziellen, noch auch die ideellen Ressourcen für ein analoges Vorhaben. Warum dem so ist, ist ein neues, weitläufiges und komplexes Thema, das mit der Distanz des Protestantismus zu Bildung und Kultur seit dem Kirchenkampf und der Nachkriegszeit zusammenhängt.

Es wäre zu wünschen, dass auch der Protestantismus es nicht von vornherein bei einem Pathos prophetischen Protests belässt, sondern seinerseits die Herausforderungen sachlich und kritisch begleitend aufnimmt, vor welche die Bioethik Theologie und Kirche, ja die ganze Christenheit stellt. Angesichts dieser Herausforderungen setzt das Lexikon Maßstäbe und bildet einen Meilenstein, an dem sich die künftige Diskussion orientieren kann und muss.

Summary

This review is concerned with the conceptual history of Bioethics: in particular, the origins of "Bioethics" in the USA, where an Encyclopaedia of Bioethics was published in 1978 for the first time. It discussed the connection between life (Bio) and moral values (Ethics) inherent in "Bioethics", thereby raising the controversial nature of this subject. This became clear for example in the Bioethics Convention of the Council of Europe: the "Convention on Human Rights and Biomedicine".

Two types of understanding need to be distinguished: a narrower view of Bioethics as medical ethics, and a broader view of Bioethics as comprehensive instructions for responsible action with every form of life. This dictionary/encyclopaedia also deals with another form of understanding, namely particular emphasis on environmental ethics. A basic problem consists of the assignment of information to the actual state of knowledge and its ethical evaluation. Conception, contents, and methodological approach of this dictionary/encyclopaedia are dealt with individually. Special attention is given to the role of ethics in relation to factual statements; an addition to the specific contribution of Theology. In sum, the open questions raised by Bioethics and the strengths and weaknesses of this three-volume encyclopaedic work are appraised in the conclusion.

Fussnoten:

* Lexikon der Bioethik. Hrsg. im Auftrag der Görres-Gesellschaft von Wilhelm Korff, Lutwin Beck u. Paul Mikat, in Verb. mit Ludger Honnefelder. Gerfried W. Hunold, Gerhard Mertens, Kurt Heinrich u. Albin Eser. Bd. 1: A-F. 820 S. ISBN 3-579-00232-5. Bd. 2: G-Pa. 845 S. ISBN 3-579-00233-3. Bd. 3: Pe-Z. 894 S. ISBN 3-579-00234-1. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1998. ISBN Gesamtwerk 3-579-00264-3.