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Ausgabe:

Juni/2020

Spalte:

516–524

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Janowski, Bernd

Titel/Untertitel:

Anthropologie des Alten Testaments. Grundfragen – Kontexte – Themenfelder.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2019. XIX, 805 S. Lw. EUR 99,00. ISBN 978-3-16-156949-4.

Rezensent:

Jan Dietrich

Mit diesem Band legt Bernd Janowski nach zahlreichen Vorarbeiten, von denen viele in dieses Buch Eingang finden, sein Hauptwerk zur Anthropologie des Alten Testaments vor. Nach einem Vorwort (VII–X) und einem Blatt mit chronologischen Übersichten (XIX) ist das Buch in sieben Hauptteile mit 13 Paragraphen und weiteren Unterabschnitten gegliedert (1–548), woraufhin ein 150-seitiger Quellenanhang (551–700) sowie Verzeichnisse zu Abkürzungen, Literatur, Abbildungen und Registereinträgen (701–805) den Band beschließen. Die sieben Hauptteile umfassen neben einer Einführung und einem Resümee die Themenfelder Lebensphasen, Personbegriff, Soziales Handeln, Welterfahrung sowie Anthropologien von größeren Literaturblöcken.
Das hier zu besprechende Buch versteht sich als Nachfolger von Hans Walter Wolffs Klassiker Anthropologie des Alten Testaments von 1973, das 2010 von J. mit zwei Anhängen neu herausgegeben wurde. In jüngster Zeit hat sich zwar die Anthropologie des Alten Testaments zu einem blühenden Forschungsfeld entwickelt. Vor allem seit der von Silvia Schroer und Thomas Staubli vorgelegten Körpersymbolik der Bibel (1998, 22005) sind zahlreiche Artikel, Sammelbände und Monographien zu Themen der alttestamentlichen Anthropologie erschienen. Doch nach dem Klappentext des hier zu besprechenden Buches hat es seit der Wolffschen Monographie von 1973 keinen systematischen Gesamtentwurf in monographischer Form zur Anthropologie des Alten Testaments mehr gegeben, so dass mit dem hier vorgelegten Werk vielleicht ein neuer Klassiker geboren ist, der sich auch hervorragend als Lehrbuch eignet.
Eine umfassende Anthropologie des Alten Testaments lässt sich nicht schreiben, ohne den Blick über das Alten Testament hinaus zu werfen. Dass J. dies unternimmt, wird schon an den Widmungen seines Buches an die folgenden Autoren deutlich: Hellmut Brunner, Walter Burkert, Elena Cassin, Jean-Pierre Vernant und Hans Walter Wolff. Das biographisch konnotierte Vorwort begründet diese Widmungen damit, dass diese Forscher aus der Ägyptologie, Altorientalistik, Gräzistik und der alttestamentlichen Wissenschaft »als Wegbereiter einer Anthropologie der Antike gelten dürfen« und dem Autor »immer eine Quelle der Inspiration« (X) waren. Als eine Quelle der Inspiration zählt für J. auch Claude Lévi-Strauss, der gleich zu Beginn des Vorworts zitiert wird und dessen Vorlesungen J. in Paris beigewohnt hat. Tatsächlich ziehen sich nicht nur quellenorientierte Vergleiche mit den Nachbarkulturen, sondern auch Vergleiche und Überlegungen durch das Buch, die Gedanken aus der historischen und philosophischen Anthropologie sowie aus der Ethnologie aufnehmen.
Der 150-seitige Quellenanhang enthält vor allem Quellen aus Ägypten, Mesopotamien, Anatolien, Syrien-Palästina und Griechenland, aber auch aus Rom, dem späteren antiken und rabbinischen Judentum sowie aus dem Koran. Dieser Anhang ist nicht nur geographisch gegliedert, sondern auch nach Themenfeldern unterteilt und auf eine Weise nummeriert, dass im Hauptteil des Buches immer wieder auf die Quellen mit Hilfe des Anhangs und seiner Nummerierungen verwiesen werden kann, ohne dass die Vergleichsquellen jedes Mal selbst ausführlich zitiert werden müssten. Allein diese Anlage macht dieses Werk zu einem wertvollen Lehrbuch und zeigt, wie sehr J. die Anthropologie des Alten Testaments in eine umfassend verstandene Anthropologie der Antike einbettet, die für Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den einzelnen Kulturen sensibel ist.
In zahlreichen Kapiteln kann J. auf eigenen, anderenorts publizierten Vorarbeiten aufbauen, und das gilt auch für die Einführung (1–42). Diese behandelt Grundfragen einer alttestamentlichen Anthropologie anhand von forschungsgeschichtlichen Aspekten, Perspektiven für einen Neuansatz und eine Darstellung zur Konzeption des Buches. Der Abschnitt zum Forschungsstand heißt bezeichnenderweise »forschungsgeschichtliche Aspekte«, denn ein umfassender Forschungsüberblick wird weder zur historischen oder philosophischen noch zur alttestamentlichen Anthropologie selbst geliefert. Stattdessen wird eine kurze Einführung in die philosophische und historische Anthropologie geboten und nach deren Bedeutung für die alttestamentliche Anthropologie gefragt. Gemeinsam mit der philosophischen Anthropologie gilt es, die Zukunftsoffenheit und Fähigkeit zum Transzendieren der natürlichen Teilhabe an der Welt zu beachten. Gemeinsam mit der historischen Anthropologie sind essentialistische Engführungen zu überwinden, aber erfahrungsnahe, historisch sensible Kategorien zu entwickeln, die einerseits unterschiedliche Menschenbilder in der Bibel und eine historische Lebenswelt auch jenseits der Texte anerkennen und andererseits nicht in »eine vage Pluralität von Anthropologien« (7) abgleiten, so dass das feine Verhältnis zwischen Besonderheiten und Universalien je nach Kultur und Zeit neu zu untersuchen und zu bestimmen ist. Im Unterschied zur philosophischen und historischen Anthropologie geht eine genuin theologische Anthropologie sub specie Dei von einer dritten Beziehungsgröße neben Mensch und Welt aus: »Unter Berufung auf die Gegenwart Gottes wird die Theologische Anthropologie die anthropologische Grundfrage ›Was ist der Mensch?‹ deshalb auch anders beantworten.« (10)
Der Abschnitt über forschungsgeschichtliche Aspekte zur alttestamentlichen Anthropologie fokussiert am Beispiel von Ps 8 auf den Ansatz von Wolff und fragt auf ihm aufbauend nach Perspektiven für einen Neuansatz. Hier wäre eine kurze Darstellung der Forschungsgeschichte vor Wolff und eine ausführlichere Diskussion der zahlreichen neueren Arbeiten hilfreich. Die neue und neueste Forschung wird zwar in den anschließenden Kapiteln ständig berücksichtigt, findet im Forschungsüberblick selbst aber nur unter dem Thema »kritische Anfragen an H. W. Wolff« (17–19) und am Ende des Abschnitts zur Konzeption des Buches Beachtung. Der eigene Ansatz erweitert dagegen den Wolffschen um neue Perspektiven, die nach den anthropologischen Konstanten und ihren jeweiligen Konkretionen in historischen Lebensumständen und literarischen Kontexten fragen.
Die konkreten Lebensumstände werden in natürliche Lebensbedingungen, kulturelle Lebensformen und das religiöse Symbolsystem (im Singular) unterteilt. Letzteres wird anhand der Jerusalemer Tempeltheologie veranschaulicht, indem unter anderem die Unterscheidung zwischen phänomenologischer und semiotischer Wahrnehmung durch Beispiele vom Angesicht Gottes (»phänomenologische Wahrnehmung«) und Gottesthron (»semiotische Wahrnehmung«) eingeführt wird (35). Es ist zu fragen, ob sich Phänomenologie und Semiotik im Alten Testament, einem Textkorpus, nicht überschneiden und die genannten Beispiele nicht auch dem jeweils anderen Bereich zugeordnet werden könnten. Während die literarischen Kontexte deutlich machen, dass wir es mit Anthropologien im Plural und durchaus unterschiedlichen Menschenbildern je nach literarischem Kontext zu tun haben, ist das Verhältnis zwischen anthropologischen Konstanten und ihren jeweiligen historischen Konkretionen diffiziler. J. nennt mehrere Phänomene, die auch im Alten Testament als anthropologische Konstanten die Menschenbilder jenseits historischer Konkretionen prägen (Körper/Geschlecht, Individuum/Gemeinschaft, Krankheit/Heilung, Leben/Tod, Erzählen/Beten/Musizieren). Spezifisch biblische Konzepte sind die »Erfahrung der Leiblichkeit«, das »Ethos der Gerechtigkeit« sowie das »Bewusstsein der Endlichkeit«. Sie sind die tragenden Elemente, die sich durch das Alte Testament ziehen und die »ebenso wie die kulturellen und religiösen Varianten m. E. zu den Eckpunkten der alttestamentlichen Anthropologie(n)« (39) gehören.
Hauptabschnitt II »Von der Wiege bis zur Bahre – Phasen des Le­bens« (43–133) wendet sich mit seinen beiden Paragraphen »Biographische Aspekte« (§ 2) sowie »Gender- und Generationenaspekte« (§ 3) der Erschaffung des Menschen, der Geburt und Namengebung, Alter und Tod sowie dem Geschlechter- und Generationenverhältnis zu. Die kreatürliche Passivität durch Formung aus dem Ackerboden und Belebung mit Gottesatem präsentiert eine ganzheit-liche Vorstellung vom Menschen als einem lebendigen Wesen, womit Forschern widersprochen wird, die einen Dualismus von Leib und Seele im Alten Testament sehen. Aufbauend auf außerbiblischen Texten im Quellenanhang (Q 124, 127) und unter Einschluss von alttestamentlichen Texten, die averwenden (z. B. Ps 146,4; Koh 3,19–21;12,7) hätte sich der Rezensent eine Diskussion von nordwestsemitisch nbš/npš gewünscht, die ausführlicher be­gründet, warum in den betreffenden Texten kein Dualismus vorliegt. Der Exkurs zu næpæš (»Seele«) geht sensibel die unterschiedlichen Bedeutungsaspekte dieses zentralen Begriffes durch und verweist auch auf vergleichbare und unterschiedliche ψυχή-Vorstellungen im alten Griechenland. Gleiches gilt für die Interpretation der ausgewählten Texte zu Geburt und Namengebung, die unter anderem die Bedeutung der Gottesbeziehung und persön-lichen Frömmigkeit bei der Geburt ebenso wie die Bedeutung der Namengebung und Beschneidung für Individuation und Sozia-lisation hervorheben. Eine Darstellung der Alters- und Todesvorstellungen, etwa die Idee vom Leben als einem vollumfänglichen Ganzen ebenso wie die öffentlich-soziale Dimension der sympathetischen Klage- und Trauerriten fügt sich an und wird durch einen religionsgeschichtlichen Exkurs zur Gottesbeziehung der Toten abgeschlossen.
Die Rolle der Geschlechter ist kulturell geprägt, durch Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau sowie eine patriarchale Struktur, doch findet sich in der nichtpriesterlichen Urgeschichte »ein kritisches Korrektiv zu traditionellen Rol-lenbildern« (94), das nicht nur die Überwindung der Einsamkeit durch Zweisamkeit thematisiert, sondern auch soziale Konventionen transzendiert, indem noch vor der üblichen Einbindung der Frau in den Clan des Mannes hervorgehoben wird, dass es der Mann ist, der sein Vaterhaus für die Zweisamkeit mit der Frau verlässt. Wenngleich in Gen 2 f. diese Zweisamkeit als ursprungsmythische Verbindlichkeit festgehalten wird, so geht J. auch auf den Verbindlichkeitsanspruch der üblicherweise geltenden Heirats- und Taburegelungen ein. Während der pater familias dem Haus- und Lokalkult vorstand, so war der religiöse Handlungsspielraum von Frauen als »Schwellenwächterinnen des Lebens« (S. Schroer) auf den Hauskult (als Hebammen) und den Lokalkult (als Klagefrauen) bezogen. Die Bedeutung genealogischen Denkens weist auf die identitätsstiftende Einbettung des Einzelnen in die generationenübergreifende Gemeinschaft der Großfamilien, wobei es den Status des Jugendlichen, vielleicht auch eine eigens »erlebte Kindheit« (D. Michel) nicht gab, wohl aber die Idee einer generationenübergreifenden Erziehungs- und Lerngemeinschaft, wie sie vor allem im Deuteronomium entworfen wird.
Hauptabschnitt III »Mit Leib und ›Seele‹ – Elemente des Personbegriffs« (135–224) umfasst eine gründliche Darstellung der »Leibsphäre des Menschen« (§ 4) und der »Sozialsphäre des Menschen« (§  5), wobei § 4 Bedeutung und Funktionsverständnis der Körperorgane und der Emotionen, § 5 sozialanthropologische Grundlagen und Gefährdungen des Zusammenlebens beschreibt. Zum Verständnis der »synthetischen Körperauffassung« im Alten Testament greift J. auf klassische und neuere Arbeiten zurück. Das gilt auch für die Rede vom »aspektiven Denken«, das nicht unproblematisch aspektive Darstellungen aus der ägyptischen Kunstgeschichte (»Sehbilder«) auf die Sprache und das Denken überträgt (»Denkbilder«). Ob tatsächlich die additive Reihung von Körperteilen darauf schließen lässt, dass der Körper nur als »die Summe einzelner Organe und Glieder« (141) verstanden wurde? Daneben bestehen das von J. zu Recht herausgestellte Prinzip der Konnektivität, die Vorstellung über Bedeutungsfunktionen einzelner Körperteile, die Physiognomik, die »den Zusammenhang von äußerer Erscheinung und innerem Wesen« (147) erfasst sowie teilweise ganzheitlich gebrauchte Begriffe wie »Fleisch«, »Haut« und »Knochen«, das »Blut« als organischer Träger der »Lebenskraft« und das »Herz«, das J. als Personenzentrum für das menschliche Denken, Fühlen, Wollen und Entscheiden ausführlich beschreibt.
Das Kapitel zu den Emotionen schließt § 4 ab. Es wird erstens anhand von Oppositionspaaren wie Lieben und Hassen, Lachen und Weinen, zweitens anhand von Analysen der Angst und Depression und drittens anhand von Krankheit und Heilung aufgezeigt, wie sehr Emotionen »ein zentraler Aspekt des Körperthemas sind.« (160) Der »Spitzensatz« zur Nächsten- und Fremdenliebe in Lev 19,18.34 wird auf der Basis des Masoretischen Textes übersetzt: »Du sollst deinen Nächsten (V. 18)/ihn (sc. den Fremden) (V. 34) lieben – (er ist) wie du!« (163) Weil sich »wie du« attributiv auf den Nächsten und nicht adverbial auf das Verb »lieben« bezieht (wie in der Septuaginta), legt J. im Anschluss an Andreas Schüle den Ruf zur Nächstenliebe im Unterschied zur und gegen die Selbstliebe aus, doch bleibt die Frage, ob die grammatikalischen Varianten der MT- und LXX-Version inhaltlich so unterschiedlich ausgelegt werden sollten, als ob sich der Masoretische Text »protestantisch« von einer negativ gewerteten Selbstliebe abgrenzt. Jenseits der Frage nach der historisch plausibelsten Interpretation bleibt mit psychologischen Untersuchungen und philosophischen Überlegungen wohl festzuhalten, dass richtig verstandene Nächsten- und Selbstliebe einander bedingen und zwischen verschiedenen Formen der Selbstliebe zu unterscheiden ist, etwa zwischen gesunder und gemeinschaftsstärkender Selbstliebe sowie ungesunder und asozialer Selbstsucht (vgl. etwa G. Haeffner, Philosophische Anthropologie, Stuttgart 32000, 229; E. Fromm, Selbstsucht und Selbstliebe, in: Ders., Liebe, Sexualität und Matriarchat. Beiträge zur Geschlechterfrage, München 1994, 177–210, hier: 206).
Die alttestamentliche Sensibilität für die Grundlagen des Zusammenlebens steht im Fokus von § 5 und wird am Prinzip der Anerkennung, am Ethos der Hingabe und am Prinzip der Gastfreundschaft verdeutlicht. Die Idee der rettenden Gerechtigkeit, die im Alten Orient vornehmlich dem Sonnengott und dem König zukommt, wird im Alten Testament auf JHWH übertragen und als Ethos der Solidarität mit den Schwachen von ganz Israel eingefordert. Recht tun und Hingabe lieben (Mi 6,8) wird als innere Haltung der Beständigkeit am Begriff ḥæsæd (»Güte«) festgemacht und an Ruth als »personifizierte Hingabe« exemplifiziert. Die Spannung zwischen dem Verständnis von ḥæsæd als »unerwartete und unverdienbare Großherzigkeit« (J. Jeremias) jenseits von Äquivalenzvorstellungen und einem »respondierende[n] Verhalten« (D. Michel) auf der Basis von Äquivalenzvorstellungen wird nicht aufgelöst (190).
»Gefährdungen des Zusammenlebens« beschließen § 5. Gemeinschaftswidriges Verhalten in Handlungen und Worten wird anhand von Mi 7,1–7, Spr 6,12–19 und Ps 69 dargestellt (Zu Mi 7 könnte noch der Topos von der verkehrten Welt Erwähnung finden.). Die Paradigmen sozialer Verachtung werden an den Formen von Ehre und Schande generell und an den Phänomenen der Entblößung, des Bespuckens des Angesichts und der Pfändung des Gewandes im Besonderen aufgezeigt. Das Phänomen der Freundschaft wird ebenso wie das Prinzip der Feindesliebe mit Hilfe zahlreicher altorientalischer wie biblischer Texte entfaltet und das Kriterium wahrer Freundschaft an der Treue in Bedrängnis und Not festgemacht, die Feindesliebe als » Maßstab für das Menschsein« und »Meilenstein der biblischen Anthropologie« (224) verstanden.
Hauptabschnitt IV lautet »Vom tätigen Leben – Formen des sozialen Handelns« (225–314) und behandelt in § 6 die Tätigkeiten des Menschen (Arbeit und Ruhe, Wirtschaft und Recht) und in § 7 die Kommunikation des Menschen (Sprache, nonverbale Kommunikation, Gebet, Musik und Opfer). Die Subsistenzwirtschaft Israels war auf familiäre Lebenssicherung ausgerichtet und konstruierte Gemeinschaft nicht primär über Wertschöpfung und Tausch, sondern über die Prinzipien Verwandtschaft und Erbbesitz. Die Einrichtung des Sabbats an jedem siebten Tag unabhängig vom naturbezogenen Vollmond-Sabbat stärkt soziale Gemeinschaft, indem die sowohl schöpfungstheologisch als auch heilsgeschichtlich be­gründete Verordnung von Ruhe dem gesamten menschlichen und tierischen Hausstand zukommt. Die Entstehung prekärer Arbeitsverhältnisse wird anhand biblischer und außerbiblischer Quellen geschildert und die Idee der generösen Gerechtigkeit, die über Adäquatheits- und Äquivalenzvorstellungen hinaus das Prinzip der Barmherzigkeit in die Gerechtigkeit aufnimmt, als »Herz des alttestamentlichen Gerechtigkeitsbegriffs und seines Potentials zur Regelung und Befriedung von Konflikten« (257) ausgewiesen. Die Geschichte der Rechtsprechung im alten Israel wird kurz dargestellt, das Gebot der Unparteilichkeit gegenüber dem Ansehen der Person hervorgehoben, der sozialkritisch-prophetische Blick auf den Kreislauf der Gerechtigkeit an Am 5 f. verdeutlicht sowie an Jes 1,21–26 herausgestellt, wie »die Gerechtigkeit Gottes die menschliche Gerechtigkeit garantiert und restituiert« (269).
Alttestamentliche Kommunikationsformen decken § 7 ab. J. gibt einen Überblick über alttestamentliche Redeformen und weist Israel als Erzählgemeinschaft aus, die individuelle Rettungserfahrungen und vor allem die kollektive Heilsgeschichte im kulturellen Gedächtnis verankert und sich diese Heilsgeschichte über die Generationen hinweg beständig durch erzählende Sprechhandlungen identitätsstiftend vergegenwärtigt. J. gibt ebenfalls einen Überblick über alttestamentliche Gesten und prophetische Zeichenhandlungen, wobei er Letztere mit Rüdiger Schmitt als Antizipation einer göttlichen Intervention interpretiert. Ein Exkurs über Sehen und Hören schließt sich an. Im Alten Testament findet sich eine »Anthropologie der Sinne« (290), die weder dem Sehen noch dem Hören den Vorrang einräumt (Andere Sinne werden hier nicht weiter behandelt.). Stattdessen scheint ein je unterschiedlicher Vorrang in je verschiedenen Traditionssträngen auf, so beispielsweise das Hören in der Tradition des Bilderverbots.
Zu den Kommunikationsformen gehört auch der Kontakt mit dem Heiligen, weshalb Gebet, Musik und Opfer Hauptabschnitt IV abschließen. Gebetshaltungen werden dargestellt und das Gebet als Ort ausgewiesen, wo sich »das Werden der Person mittels der Sprache« (294) vollzieht. Der Abschnitt über Opfer und Opferkritik behandelt die Opferkritik ausführlicher als die Opfer selbst. Das hat seinen Grund darin, dass in Propheten- und Psalmentexten eine »Akzentverschiebung vom Ritus zum Gebet bzw. vom Kult zur Anthropologie« (306) festzustellen ist, beispielsweise wenn in der Prophetie Kriterien zur Beurteilung des Kultes entwickelt werden, die selbst jenseits des Kultes liegen, oder wenn Gebete anthropologisch (leiblich) verortet und als wahres Opfer herausgestellt werden. Ein Exkurs über Essen und Trinken, der unter anderem die soziale Bedeutung dieses Phänomens herausstellt, beschließt diesen Hauptabschnitt.
»Räume und Zeiten – Aspekte der Welterfahrung« sind mit ihren Paragraphen zur Ordnung des Raums (§ 8) und zum Rhythmus der Zeit (§ 9) das Thema von Hauptabschnitt V (315–403). § 8 widmet sich dem natürlichen Raum (leibbezogene Wahrnehmung der Himmelsrichtungen, Verhältnis zur Natur) und dem sozialen Raum (Dorfkultur, Vierraumhaus, öffentlicher Torbereich) sowie dem symbolischen Raum (Erinnerungs- und Erzählräume, Weltbilder). § 9 widmet sich der Zeiterfahrung mit ihren natürlichen und sozialen Rhythmen einschließlich Zeitrechnung, Kalendern und Festen. Raum- und Zeiteinteilungen beruhen »auf dem Primat der menschlichen Wahrnehmung« (318), so, wenn einige (nicht alle) Himmelsrichtungen auf den menschlichen Standpunkt bezogen sind, wenn der Raum mittels Gesten und Werkzeuggebrauch als Extension des Leibes jenseits der Körpergrenze erfahren und wenn sowohl die Natur in Analogie zum Menschen bis hin zur Personifikation beschrieben wird als auch die Maßeinheiten ausgehend von menschlichen Körperlängen entworfen werden. Die typische Dorfkultur ist dezentral und subsistenzwirtschaftlich ausgerichtet, die Stadtkultur durch berufliche Ausdifferenzierung und soziale Institutionalisierung und Hierarchisierung geprägt. Das Tor wird in seiner sozialen Bedeutung als Handels-, Gerichts- und Versammlungsplatz herausgestellt. Die Existenz eines Schlafgemachs im hinteren Hausbereich wird wegen ihrer religionsgeschichtlichen Bedeutung erwähnt. Die anthropologische Frage nach der Existenz einer architektonisch ermöglichten »Privatsphäre« hätte diskutiert werden können ebenso wie die These von einem mit dem Vierraumhaus verbundenen Ethos der Egalität (vgl. S. Bu­nimovitz/A. Faust, Building Identity. Das Vierraumhaus und der »Israelite Mind«, in: B. Janowski/K. Liess [Hrsg.], Der Mensch im alten Israel. Neuere Forschungen zur alttestamentlichen Anthropologie, Freiburg 2009, 401–418).
Nachdem die Bedeutung von identitätsstiftenden Erinnerungs- und Erzählräumen anhand von Hexateuchtexten dargelegt wurde, stehen die Vorstel-lungen vom Weltganzen im Fokus. Hier kann J. auf eigene Arbeiten zu alt­-testamentlichen und altorientalischen Weltbildern zurückgreifen, so dass der Abschnitt auf engem Raum entscheidende religionsgeschichtliche Erkenntnisse verdichtet und Zusammenhänge mit anthropologischen Vorstellungen anhand von Ps 36 beschreibt. Ließe sich die Verbindung spezifischer anthropologischer und religionsgeschichtlicher Vorstellungen, etwa das gleichzeitige Aufkommen von Individualität/Introspektion und monotheistischem Weltbild, auch genetisch erklären?
Die alttestamentliche Zeiterfahrung lässt sich nicht in dem Schema lineare Heilsgeschichte vs. zyklische Naturgeschichte einfangen, sondern zeigt sich in einem spezifischen Zusammenspiel beider Aspekte. Nach Kohelet wird das Vergangene nicht »im Sinn des Fortschrittsglaubens qualitativ überboten, sondern das Beständige […] wiederholt sich und erneuert sich ständig« (369). Einige Feste Israels, die als »religiöse Kontrapunkte zur Alltagswelt«, als »Erfahrung des Heiligen« und der »Zeit der Fülle« (381 f.) eine zentrale Rolle spielen, verbinden Linearität und Zyklizität insofern, als das Einmalige der Geschichte im Fest zyklisch immer wieder vergegenwärtigt »und im kulturellen Gedächtnis Israels verankert« (390) wird. Es werden die Frühjahrs- und Herbstfeste, insbesondere Passa und Mazzot (Dtn 16), Sukkot und Credo (Dtn 26) sowie am ausführlichsten Jom Kippur (Lev 16) dargestellt und im Anschluss an Jan Assmann als Chronotope ausgewiesen, »die als Elemente einer gemeinsamen Kultur identifizierbar und erlebbar sind.« (403) Bei manchen Abschnitten wie dem Exkurs zu den Chaosbeschreibungen wäre eine stärkere Fokussierung auf die anthropologisch bedeutsamen Aspekte wünschenswert. An die Ansicht, dass das Jahr 587 v. Chr. »ein[en] traumatischer Schock mit weitreichenden Folgen für das alttestamentliche Gottes- und Menschenbild« (385) darstellt, kann die inzwischen extensive alttestamentliche Traumaforschung anschließen.
Hauptabschnitt VI behandelt Menschenbilder in verschiedenen literarischen Kompositionen (405–517). Der Überblick über Menschenbilder im Ersten Kanonteil (§ 10) umfasst die Anthropologie der Urgeschichte und der Priesterschrift; der Überblick über Menschenbilder im Zweiten und Dritten Kanonteil (§ 11) die Anthropologie des Königtums sowie Prophetische Anthropologie; Menschenbilder im Dritten Kanonteil (§ 12) behandeln die Anthropo-logie der Psalmen und der Weisheit. In der Anthropologie der Ur­geschichte, die »nichts weniger als eine magna carta der biblischen Anthropologie« (407) darstellt, wird der Mensch in der Imago Dei-Vorstellung mittels Universalisierung ursprünglich königsideologischer Herrschaftstraditionen als »lebendige Statue Gottes« begriffen. Bei der Interpretation dieser »Royalisierung« sowie der Begriffe ṣælæm und demût verweist J. auf ägyptische und mesopotamische Parallelen, nicht jedoch auf die ebenfalls diskussionswürdige Inschrift von Tell Fekheriye. Die Herrschaft über die Tiere wird nicht als Folge, sondern als Interpretament der Gottebenbildlichkeit verstanden. Diese Herrschaft, die »unter dem Primat des Se­gens (Gen 1,28!)« steht und »ihre Grenzen am Ganzen der Schöpfungswelt« (412) findet, hat zur Aufgabe, das Funktionieren der Schöpfungswelt zu garantieren, nicht jedoch, es in Frage zu stellen – unter anderem auch deshalb, weil nach Gen 9,8–17 »auch die Tiere zum Gottesbund gehören« (414) und der Mensch »als Bild Gottes zwar zur Herrschaft beauftragt, aber als Geschöpf inmitten der anderen Geschöpfe erschaffen ist.« (415)
Die Anthropologie der nichtpriesterlichen Urgeschichte beschreibt in der Paradiesgeschichte den allzu menschlichen »Konflikt zwischen Erkenntnis und Verfehlung« in der »Dialektik von Verbot und Übertretung« (416 f.). Das Wissen um Gut und Böse gilt als Orientierungswissen zur Unterscheidung »zwischen Lebenszuträglichem und Lebensabträglichem« (417), das dem Menschen auch die Grenze zwischen Gott und Mensch aufzeigt und ihn in Gefahr bringt, Sünde zu begehen (Gen 4,1–16), während die Flutgeschichte die Dialektik zwischen menschlicher Bosheit und göttlicher Gnade vor Augen stellt. Der Abschnitt zur Priesterlichen Anthropologie arbeitet die Bezüge zwischen der Schöpfung und der Einwohnung Gottes auf dem Sinai und in der Stiftshütte heraus, welche die Begegnung zwischen Gott und Mensch ermöglicht – Tempelbauer ist hier denn auch das Volk Israel und nicht der König. J. ordnet die Unterscheidungen zwischen rein und unrein, heilig und profan einander zu, beschreibt die Kleidung des Hohepriesters, die symbolisch sowohl auf die Stiftshütte als auch das Volk Israel verweist, und führt dann die zentrale Bedeutung der kultischen Aspekte von Versöhnung und Vergebung anhand des Sünd- und Schuldopfers nach Lev 4 f. vor Augen. J. fokussiert dabei auf den personalen Aspekt der Versöhnung (Eine Auseinandersetzung mit Milgrom erfolgt nicht.) und versteht die Handaufstemmung in Korrektur der eigenen Identifikationshypothese – »sie stellt als Berührungsgestus einen engen Zusammenhang zwischen Mensch und Tier her« (440). Die Bedeutung des »Wechselgeschehen[s] zwischen dem die Sühnehandlung vollziehenden Priester und dem die Vergebung gewährenden Gott« (441) »zeigt sich u. a. daran, dass fast alle Opfer […] und zahlreiche Riten […] sühnende Qualität erlangen« (441).
§ 11 beschreibt zwei prominente Herrschafts- und Vermittlerrollen, den König und den Propheten, wie sie in den Geschichts- und Prophetenbüchern zutage treten (vgl. neuerdings auch K. Pyschny/S. Schulz [Hrsg.], Debating Authority. Concepts of Leadership in the Pentateuch and the Former Prophets [BZAW 507], Berlin 2018). Neben der religiösen Legitimation des Königs (Ps 2 u. a.) wird vor allem die soziale Vermittlerrolle des aktuellen wie zukünftig erhofften Königs hervorgehoben, der im Anschluss an altorientalische Vorstellungen Gerechtigkeit auf eine Weise durchsetzen soll, dass er sich als gerechter Richter für die personae miserae einsetzt und dabei als »Mittler des Heils« (449) auch die Fruchtbarkeit des Landes (Ps 72) bzw. einen umfassenden heilvollen Zustand gewährleistet (Jes 7; 9; 11). Die Transformation dieser Vorstellung zur Vorstellung vom Menschen als einem königlichen Herrscher erfolgt in königsloser Zeit, insofern nach Ps 8 Gott dem Menschen »die universale Ordnungsfunktion des Königs« (459) überträgt. Der königliche Mensch wiederum wird sich »durch den Blick zum gestirnten Himmel und durch das Innewerden der eigenen Situation coram Deo (V. 4 f.)« (461) der Würde und Grenze seiner Macht bewusst und antwortet seinem Schöpfer mit dem Lobpreis.
»Stellvertretung und Neuschöpfung« sind die beiden Aspekte, die J. unter dem Thema »Prophetische Anthropologie« verhandelt. Beide vollziehen sich »im Bereich der nachexilischen Prophetie« (461), so dass die Vermittlerrolle des vorexilischen Propheten sowie des Priesters nur kurz gestreift wird. Die Prophetie über den Gottesknecht, der für Israel leidet, »weil oder obwohl er gerecht ist« (462), setzt traditionelle Vorstellungen vom Tun-Ergehen-Zusammenhang außer Kraft und beschreibt ein Geschehen, bei dem der Stellvertreter den Platz einer Person einnimmt, den diese »aus eigener Kraft einzunehmen […] nicht in der Lage ist« (465). Am vierten Gottesknechtslied wird ausgeführt, wie der Schülerkreis Deuterojesajas Leiden und Tod des Gottesknechts »als stellvertretende Lebenshingabe […] zugunsten der ›Wir‹ […] deutet« (466). Eine »zweite gravierende Akzentverschiebung im Menschenbild der nachexilischen Zeit« betrifft die »Akzentverschiebung vom Kult zur Anthropologie«, die J. am Phänomen der »Neuschöpfung des Sünders« (471) in den kultkritischen Psalmen und in Rückgriff auf die Anthropologie Ezechiels veranschaulicht. Hier wird Sünde verinnerlicht, so dass es im Anschluss an Hossfeld/Zenger der mit einem erneuerten bzw. gereinigten Herzen und Geist verwandelte Beter selbst ist, dessen Hingabe als Opfergabe gilt und den entscheidenden Gottesbezug konstituiert.
§ 12 präsentiert eine Anthropologie der Psalmen und eine Anthropologie der Weisheit. Bei der ersten kann J. vor allem auf seiner Monographie zum Thema aufbauen (Konfliktgespräche mit Gott. Eine Anthropologie der Psalmen, Neukirchen-Vluyn 2003, 52019). Die Psalmen zeigen eine »anthropologische[...] Tiefendimension« (484), indem sie im Rahmen des konstellativen Personenbegriffs den Gottes-, Selbst- und Sozialbezug des Beters in einem umfassenden, ganzheitlichen Sinne entfalten. »Mit ihren Sprachbildern leuchten sie den dunklen Raum des Todes aus und entwerfen Gegenbilder der Hoffnung und des Lebens.« (481) Dies gilt sowohl für die Klage, die »mit dem Topos ›Berührung der Unterwelt‹« (494) arbeitet, als auch für den Dank, der öffentlich »mit dem allgemeinen Glaubenswissen« (489) vermittelt wird und Voraussetzungen thematisiert, »über die derjenige, der sich als dankbar erweist, nicht verfügt« (486), wie auch für die wenigen Fälle, in denen der Beter seine »Hoffnung auf eine Gottesgemeinschaft, die das Vergehen von Fleisch und Herz überdauert« (499), zum Ausdruck bringt.
Die Anthropologie der Weisheit greift auf lebenspraktisches Erfahrungswissen zurück, das dem Menschen Orientierungswissen und Richtlinien für die Kunst des Lebens an die Hand gibt. Hierbei muss sich das menschliche Herz als »das Organ, das auf die Entsprechung zwischen Innen und Außen achtet und damit den Prinzipien der Aufrichtigkeit (vs. Lüge), der Wahrheit (vs. Trug) und der Gerechtigkeit (vs. Sünde) folgt« (502), nach dem Tun-Ergehen-Zusammenhang richten, der sich nicht zwangsläufig, sondern nach den Regeln der sozialen Interaktion und »dem Prinzip der Gegenseitigkeit« (506) einstellt. Hiob gilt als »der exemplarische Mensch«, der als »der Gerechte leidet, weil oder obwohl er gerecht ist.« (509) Der Dialogteil behandelt diese Paradoxie und schließt in 42,1–6 mit dem »Abschied [Hiobs] von der Vorstellung, an seinem Schicksal bemesse sich der Lauf der Welt.« (516)
Das abschließende Resümee ist mit »Der ganze Mensch« überschrieben (519–547). Es bindet die gewonnenen Erkenntnisse zu­sammen, ordnet sie in weitere Fragehorizonte ein und zieht wichtige rote Linien. Die Frage nach einer Sachmitte alttestamentlicher Anthropologie wird »mit Hilfe der integrativen Formel vom ›ganzen Menschen‹« beantwortet, die nicht als »vager Holismus«, sondern »als ein komplexes Beziehungsgefüge« im Sinne einer »relationalen oder konstellativen Anthropologie« erscheint, für welche »die Erfahrung der Leiblichkeit, das Ethos der Gerechtigkeit und das Bewusstsein der Endlichkeit charakteristisch« ist (519). Sind diese Charakteristika zu allgemein, weil sie sich auf die eine oder andere Weise in allen Kulturen finden – modernen, indigenen wie vergangenen? J. trifft den Kern der Sache, insofern sich das Alte Testament durch eine besondere Sensibilität für die genannten Aspekte auszeichnet. Für die Erfahrung der Leiblichkeit kommt dem Herzen eine »Schlüsselrolle« (541) zu, denn es »ist das Beziehungs- und Resonanzorgan schlechthin« (540). Für das Ethos der Gerechtigkeit ist eine Ethisierung des Gottes- und Menschenbildes wesentlich, und für das Bewusstsein der Endlichkeit »die Fähigkeit, mit dem Wissen um die eigene [geschöpfliche, J. D.] Vergänglichkeit ›weise‹ umzugehen« (544).
Bei der Entwicklung der alttestamentlichen Anthropologie unterscheidet J. zwischen natürlichen und sozialen Konstanten auf der einen sowie kulturellen und religiösen Varianten auf der anderen Seite und postuliert eine Entwicklung von impliziter zu expliziter Anthropologie. Während es »Vor­stellungen vom Menschen im Sinne einer ›impliziten Anthropologie‹« schon seit den Zeugnissen der Erstverschriftung ab dem 10. Jh. v. Chr. gibt, setzen explizite Reflexionen über das Wesen des Menschen erst ab dem 9./8. Jh. v. Chr. ein, die »im 8./7. Jh. v. Chr. zu entscheidenden Vertiefungen führten und in exilisch-nachexilischer Zeit ihre späten Ausformungen erfuhren« (526). Die Vertiefungen zeichnen sich durch Ausdifferenzierung anthropologischer Themen, durch Verinnerlichung und ethische Durchdringung der Gottesbeziehung aus, die späten Ausformungen durch explizite Reflexionen über Geschöpflichkeit, Gottebenbildlichkeit, Leiderfahrungen und die Grundfrage »Was ist der Mensch«? Die Frage nach dem Aufkommen der Idee vom »inneren Menschen« nimmt nicht das romantisch, expressionistisch und neuhumanistisch geprägte Konzept zur Voraussetzung, das vor allem Charles Taylor im Blick hatte, als er nach historischen Vorstufen der Vorstellung von inneren Tiefen fragte, aus denen der Mensch zur Entfaltung seiner eigenen, in ihm schlummernden Fähigkeiten schöpfe (C. Taylor, Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt a. M. 1996). Stattdessen wird im Anschluss an Jan Assmann nach persönlicher Frömmigkeit gefragt, die durchaus im Inneren des Menschen (Herz und »Seele«) verankert wird.
In diesem entwicklungsgeschichtlichen Abriss wird auch das »Theorem der Achsenzeit« (524) behandelt, indem J. Jaspers über längere Passagen zitiert und sich der Kritik Assmanns anschließt. Allerdings ist die Theorie zur Achsenzeit über Jaspers hinaus weiterentwickelt worden und kann nicht länger kritisch bedacht werden, ohne auf das Werk Robert Bellahs einzugehen, der sowohl das Theorem der Achsenzeit als auch ihre religionshistorische Einordnung ausführlich und kritikwürdig begründet hat und dabei auch die Bedeutung Israels gemäß neuerer alttestamentlicher Forschung anders einschätzt als Jaspers ( Religion in Human Evolution. From the Paleolithic to the Axial Age, Cambridge MA 2011).
Das Buch schließt in Rückgriff auf die Frage »Was ist der Mensch?«. Diese Grundfrage aus Ps 8 wird in Auseinandersetzung mit der Position der Aufklärung (Kant) aufgegriffen und ihr theologischer Gehalt in der Adressierung an Gott hervorgehoben. Auch wenn die Gegenüberstellung zur Aufklärung ein wenig apologetisch er­scheint, so ist doch richtig, dass die anthropologische Grundfrage im Alten Testament nicht ins Leere läuft, sondern an ein Gegenüber jenseits von Mensch und Welt gestellt werden kann. Indem ein »Dritter« die Bühne betritt, verfügt die biblische Anthropologie vielleicht über mehr Reflexions- und Resonanzspielräume als manch moderne Kulturen.
So ist die hier vorgelegte Anthropologie eine genuin theologische Anthropologie des Alten Testaments. Dies führt J. dazu, As­pekte zu behandeln, die auch für eine Theologie des Alten Testaments relevant wären. Andere Aspekte, die für anthropologische Fragen ebenfalls relevant sein könnten, werden an manchen Stellen vernachlässigt. Im Abschnitt zur Priesterlichen Anthropologie beispielsweise nimmt die Shekhina-Theologie einen breiten Raum ein (432–438), während die zahlreichen Sühnehandlungen und -riten, die neben Lev 4 f. ebenfalls anthropologisch relevant sind, nur kurze Erwähnung finden (440 f.). Nun hat die Shekhina-Theologie eben auch anthropologische Bedeutung, indem sie der Begegnung zwischen Gott und Mensch einen Ort gibt, und diese Verquickung von Anthropologie und Theologie zeichnet das vorliegende Buch an vielen Stellen aus. So darf der Leser versichert sein, dass er mit dieser Anthropologie ein Grundlagenwerk in Händen hält, das auch als Theologie des Alten Testaments mit anthropologischem Fokus gelesen werden kann.
Es ist diesem Buch, das auch schon Buch des Monats der Theologischen Literaturzeitung vom Juli/August 2019 war (siehe den entsprechenden Beitrag von Friedhelm Hartenstein), nur zu wünschen, dass es nicht nur Aufnahme in Seminare zur Anthropologie des Alten Testaments findet, sondern auch in Vorlesungen zur Theologie des Alten Testaments und zahlreiche anthropologisch interessierte Leser auch jenseits der theologischen Fachdisziplinen gewinnt.