Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

März/2000

Spalte:

334–337

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Ven, Johannes A. van der

Titel/Untertitel:

Formation of the Moral Self.

Verlag:

Grand Rapids: Eerdmans 1998. XIII, 410 S. gr.8 = Studies in Practical Theology. Kart. £ 29,99. ISBN 0-8028-4439-1.

Rezensent:

Christian Walther

Innerhalb des letzten Jahrzehnts ist die ,Moralerziehung’, unter anderem 1925 von Emile Durckheim bereits eingehend behandelt, wieder zum zentralen Thema einer breit gefächerten Diskussion geworden, die längst fächerübergreifend geführt wird. (Darüber gibt unter anderem die gerade erschienene Sammlung von Vorträgen Auskunft, die A. Treml und seine Mitarbeiter unter dem Titel: "Die Natur der Moral" [Hirtzel: Stuttgart 1999] herausgegeben haben. Siehe aber auch Klaus Dehner, Lust an Moral. Die natürliche Sehnsucht nach Werten, Wissenschaftliche Buchgesellschaft: Darmstadt 1998). Die vorliegende Arbeit von van der Ven schließt an diese Diskussion an und führt sie im Rahmen praktisch-theologischer Erörterungen weiter.

Praktische Theologie wird in diesem Zusammenhang vom Vf. als "Theorie der religiösen Praxis" begriffen und auf drei Ebenen entfaltet: auf der Makroebene von Gesellschaft und Kultur, auf der Mesoebene der Kirche und auf der Mikroebene der Individuen. Er vermeidet dabei allerdings eine exklusive Identifikation mit der Kirche. Lediglich noch als ein Faktor neben anderen wird sie in dieser Arbeit behandelt.

Bemerkenswert ist an der Arbeit des Vf.s, dass die in der abendländischen Geistesgeschichte erfolgte Trennung von Religion und Moral aufgegeben und beides wieder zusammen gesehen wird. Auf diese Weise kommt bei ihm Moral als systemischer Bestandteil der Religion in den Blick und wird damit zum Gegenstand der praktischen Theologie, die so auch in die Lage gebracht wird, eine Theorie der Moralerziehung in religiöser Perspektive zu entwickeln. Theorie heißt in diesem Zusammenhang: Zusammenschau aller die Moral beeinflussenden Faktoren (Bildung, Konfession und Gemeinde, Eltern, Geschwister, Gruppe, Lehrer, andere Personen). Vor diesem Hintergrund bekommt die Arbeit des Vf.s den Charakter eines weit gespannten Versuchs, in den ebenso sozialwissenschaftliche und erziehungswissenschaftliche Einsichten wie kritisch-konstruktive philosophische und theologisch-ethische Erkenntnisse integriert werden.

Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass die Grenzen zwischen theologischer Ethik und praktischer Theologie undeutlich werden. Was der Vf. ausführt, könnte ebensogut auch im Rahmen theologischer Ethik abgehandelt werden. Die Frage, ob die Ethik der Moral gegenüber nicht eine eigenständige, spezifisch kritische Funktion habe, und ob darum nicht doch ein Unterschied zwischen Moralität und Ethik gemacht werden müsse, gerät durch diese Gleichsetzung aus dem Blickfeld. Diese Unterscheidung wird heute jedoch gemacht (so beispielsweise von Luhmann) und daran die Frage geknüpft, ob die Ethik nicht als eine prüfende Instanz begriffen werden müsse, die gerade die Moral darauf hin zu befragen habe, inwieweit sie ihre gesellschaftliche Funktion, nämlich das Überleben der Gesellschaft sichern zu helfen, tatsächlich angemessen ausübt, oder ob sie beispielsweise darauf reduziert wird, nur noch Konflikte auszulösen.

Der Vf. führt sein Programm in acht Schritten durch: 1. Wege in die Moralerziehung, 2. Disziplin, 3. Sozialisation, 4. Übertragung, 5. Entwicklung, 6. Klärung, 7. Emotionale Formung und 8. Charaktererziehung.

Die Notwendigkeit, das Thema Moralerziehung eingehenden Erörterungen zu unterziehen, geht für den Vf. aus der moralischen Krise hervor, die für ihn wie für viele andere zum Kennzeichen der gegenwärtigen Gesellschaft geworden ist. Deren dominante Faktoren, als welche Kapitalismus, Liberalismus und Szientismus angegeben werden, beinhalten nach Meinung des Vf.s keine moralischen Prinzipien, Werte und Normen, so dass das Defizit eben durch eine erneute Besinnung auf Moral und ihre Bedeutung für das individuelle wie für das soziale Leben behoben werden muss. Diese Sicht könnte allerdings erheblich relativiert werden, wenn man sich der Problematik von der Systemtheorie her nähert. Sie begreift die Moral als eine system-immanente Struktur, deren Funktion die Sicherung des Überlebens eben des sie generierenden Systems ist. Danach müsste dann Kapitalismus, Liberalismus und Szientismus auch zugestanden werden, dass sie aus systemischen Gründen Moral, Werte und Normen entwickeln. Für eine wissenschaftlichem Anspruch genügende Auseinandersetzung mit ihnen wird die bloße Behauptung, dass sie keine Moral, keine Werte und keine Normen besitzen, kaum ausreichen. Überhaupt muss an dieser Stelle gefragt werden, ob hier nicht ein Gegensatz aufgerichtet wird, der möglicherweise wieder geeignet ist, die öffentliche Geltung der Moral einzuschränken. Bei der Moralerziehung darf diese Möglichkeit nicht außer Acht gelassen werden, weil sonst die Moral eben doch wieder nur auf den privaten Bereich eingegrenzt bliebe. Schließlich geht es doch darum, wie in einer moralisch qualifizierten Weise mit der kapitalistischen Wirtschaft, dem Liberalismus und dem Szientismus als einer Wissenschaft, Forschung und Technik hoch einschätzenden Einstellung umgegangen wird.

Doch eine "Diagnose" der moralischen Situation im eigentlichen Sinne beabsichtigt der Vf. auch gar nicht. Seine Absicht ist es vielmehr, die Besorgtheit über die Krise der Moral in die Forderung nach einer Moralerziehung zu übersetzen und diese Forderung ebenso in geistesgeschichtlich breit angelegter Weise zu begründen, wie die Übersetzung der Forderung selber in gangbaren Schritten kenntlich zu machen. Dabei schließt er sich einerseits Habermas an, wenn er dessen Kriterien des Zweckmäßigen, des Guten und des Rechten übernimmt. Andererseits findet aber auch Paul Ricurs Modell der Komplementarität bei ihm Beachtung, mit der in einer gegebenen Situation das Gute, das Richtige und das Weise zu einander in Beziehung gesetzt werden.

Die Frage nach den Kriterien wird dann mit der Frage nach der Bedeutung der Religion und ihrer Tradition verbunden. V. erweist sich dabei als Gegenstimme zu denjenigen Stimmen, die meinen, der Religion keine oder doch nur noch eine sehr eingeschränkte Bedeutung zuerkennen zu können. Für ihn ist die Religion und zwar in der durch das Christentum erfolgten geschichtlichen Ausprägung, nicht aber als eine Art Naturreligion, eine nach wie vor sowohl privat wie sozial bedeutende und vor allem prägende Größe.

In dieser Beziehung zeichnet sich bei ihm eine ähnliche Position ab, wie sie beispielsweise auch von Trutz Rendtorff schon seit Jahren vertreten wird (vgl. zuletzt T. Rendtorff, Theologie als Kulturwissenschaft, in: Karl Gabriel, Johannes Horstmann, Norbert Mette [Hg.], Zukunftsfähigkeit der Theologie, Paderborn 1999, 33-43). Darüber hinaus begreift er Religion als einen Text, der ein Netz von Bedeutungen enthält, die es im gegebenen Kontext der historischen Situation zu verstehen gilt. Moralität als integraler Bestandteil der Religion wird als Subtext verstanden, dem wiederum Kriterien für die Religiosität und die von ihr beeinflusste Praxis entnommen werden können. Konkret sieht der Vf. die Funktion der Religion in drei Bereichen. 1. Sie integriert andere Ideen, Beliefs und Werte, 2. sie orientiert, indem sie moralischen Elementen die Richtung vorgibt, 3. sie kritisiert historische Entwicklungen.

Auf diese Weise übt sie ihren Einfluss auf in Einzelschritten zu klärende Felder aus. Das gilt für die Erziehung, die als ein Prozess der moralischen Verständigung begriffen wird. Das setzt sich fort in den Bereich der Disziplin, der hier, im Unterschied zu der erfahrenen Abwertung in den letzten Jahrzehnten, eine positive Bedeutung zuerkannt wird. Denn Disziplin stellt, nach Meinung des Vf.s und im Gegensatz zu ihrer Entwertung in antiautoritären Auffassungen den Hauptschlüssel für eine Erneuerung und moralische Stützung der Gesellschaft dar. Zudem hat es Disziplin mit Kontingenz-Bewusstsein zu tun, das seinerseits auf Erfahrungen mit den Grenzen beruht, auf die eine auch noch so planvolle Gestaltung der Lebensverhältnisse immer wieder stößt, und die respektiert werden müssen. Disziplin ist letztlich ein entscheidendes Medium menschlicher Selbstbescheidung.

Weiterhin wird der Moralerziehung im Rahmen dessen, was der Vf. als "Transmission" (Übersetzung oder auch Umsetzung) beschreibt, die Aufgabe zugewiesen, emotionale Energien auf die Ausbildung und Förderung von Tugenden zu lenken, um einerseits moralische Rationalität zu entwickeln, mit der andererseits im Sinne Ricurs Forderungen des bonum commune erfüllt werden können. Tugenden werden hier als Eigenschaften gesehen, die Personen motivieren, das rechte Ding zur rechten Zeit in der richtigen Weise zu tun. Der moralischen Entwicklung selber wird der Weg vorgezeichnet, von begrenztem moralischen Denken zu abstraktem und erweitertem moralischen Denken zu führen. Dabei wird der Erschließung moralischer Traditionen und der Auseinandersetzung mit den sie tragenden religiösen und moralischen Gemeinschaften eine besondere Rolle zugewiesen. Sie sind entscheidende Faktoren bei der Rekonstruktion und Entwicklung moralischer Prinzipien und Haltungen überhaupt. Der Vf. macht immer wieder deutlich, dass er der Hermeneutik und der von Habermas bevorzugten Methode der kommunikativen Ethik eine besondere Bedeutung in den intersubjektiven Verständigungsprozessen über Normen und Werte beimisst.

Die Verbindung von Religion und Moral findet schließlich im letzten Kapitel über "Charakterbildung" eine Hervorhebung. Darin erhält die biblische Ankündigung des Endgerichts und die in ihm ausgedrückte Forderung, das Ende zu bedenken, eine besondere Würdigung. Es ist der klassische Grundsatz des respice finem, dessen Bedeutung für die Charakterbildung damit ebenso herausgestellt wird wie das in der Religion gepflegte narrative Element mit seinen Hinweisen auf die Bedeutung des Tragischen für eine im moralischen Sinne erfüllte Lebensführung.

V.s Arbeit weist erneut in eindringlicher und bedenkenswerter Weise auf die Bedeutung der Religion für die Moral im Medium der Erziehung hin. Es ist ein interessantes Buch, weil es Verengungen und Verdrängungen überwinden hilft, welche durch Religionskritik und eine deutliche Abwertung der Moral, die beide auch in der Theologie des 20. Jh.s ihre Spuren hinterlassen haben, entstanden sind. Jedes Kapitel ist von hohem informativem Wert, weil detailliert kenntlich gemacht wird, dass Moralerziehung eine Grundvoraussetzung für sinnerfüllte Lebensführung ist.