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Ausgabe:

März/2000

Spalte:

332–334

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Stadelmann, Helge [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Bausteine zur Erneuerung der Kirche. Gemeindeaufbau auf der Basis einer biblisch erneuerten Ekklesiologie. Bericht von der 10. Theologischen Studienkonferenz des Arbeitskreises für evangelikale Theologie (AfeT) vom 7.-10. September 1997 in Bad Blankenburg.

Verlag:

Gießen-Basel: Brunnen; Wuppertal: Brockhaus 1998. VI, 329 S. 8. ISBN 3-7655-9429-6 u. 3-417-29429-0.

Rezensent:

Eberhard Winkler

Der Herausgeber weist im Vorwort darauf hin, dass "heiße Eisen" angefasst werden, wenn evangelikale Theologen aus Landeskirchen, landeskirchlichen Gemeinschaften und Freikirchen miteinander darüber reden, wie Grundlagen für die Kirche von morgen aussehen könnten. In der Evangelischen Allianz stellt die Frage nach der biblisch begründeten Lebensform der Kirche und damit nach der praktischen Ekklesiologie die schwierigste und in ihren Konsequenzen konkreteste Problematik dar. R. Hille, Vorsitzender der Deutschen Evangelischen Allianz, erläutert einleitend "Perspektiven evangelikaler Ekklesiologie: dargestellt an der Glaubensbasis der Deutschen Evangelischen Allianz". Als deren Spezifika nennt er die "Ekklesiologie ,von unten’", d. h. den Ansatz beim persönlichen Christsein, das Allgemeine Priestertum als Alternative zu religiösem Individualismus und hierarchischer Institution, die Betonung des Missionsauftrags und die evangelische Profilierung der klassischen Attribute Heiligkeit, Einheit, Katholizität und Apostolizität.

Wie schwierig der Dialog über die konkurrierenden Kirchenmodelle immer noch ist, zeigt gleich der erste längere Beitrag, in dem St. Holthaus Freikirche, Volkskirche und Bekennende Kirche in historischer Perspektive beleuchten will. Dass nicht nur die seit 1919 vergangene Staatskirche, sondern auch die Volkskirche in freikirchlicher Sicht negativ und als Auslaufmodell erscheint, verwundert nicht. Es verblüfft aber, dass das Verhältnis der Landes- zu den Freikirchen "nicht anders als mit dem Begriff ,Unheilsgeschichte’" zu beschreiben sein soll (23), und dass vor Bismarcks Zivilgesetzen Zwangstaufen "an der Tagesordnung" gewesen seien. O. Dibelius wird bescheinigt, er habe für theologische Untersuchungen zur Ekklesiologie kein Verständnis gehabt! - Das Korreferat von R. Ebeling geht nicht auf diese merkwürdigen Behauptungen ein, sondern erinnert an die Diskussion der Kirchenmodelle in der Bekennenden Kirche und besonders bei Bonhoeffer, der weder für die Restauration der Volkskirche nach dem Krieg noch für den Weg in die Freikirche als Autorität herangezogen werden kann.

Dem Neutestamentler J. van Bruggen war das Thema "Apostolischer Gemeindebau" gestellt, zusammen mit der Frage, ob "widersprüchliche Ekklesiologien im Neuen Testament" vorliegen. Er kommt zu dem Ergebnis, dass es im Grunde gar keinen ,apostolischen Gemeindebau’ gibt, sondern nur einen "apostolischen Ausgangspunkt" für den "Gemeindebau". Das entscheidende Kriterium sei "die Frage, ob die Gestaltung der Organisationsformen dem vorgegebenen Ziel dient". Die "einzige Funktion, die eindeutig eine dauerhafte Einrichtung sein soll", nennt der reformierte Autor das Ältestenamt als örtliches Leitungsamt. Die im Thema enthaltene Frage beantwortet der Vf. so, dass es im Neuen Testament keine widersprüchlichen Ekklesiologien gebe, wohl aber eine Vielfalt, in der sich die unwiederholbaren Merkmale der Anfangssituation ausdrücken. Besondere Autorität schreibt er den Reden des Petrus in der Apg., dem von ihm stammenden Mk (!) und den beiden Pt-Briefen zu. W. Haubeck kritisiert in seinem Korreferat diese Priorität, und er betont aus freikirchlicher Sicht, dass die Gemeinde im Neuen Testament "kein Corpus mixtum, in dem Glaubende und Nichtglaubende grundsätzlich und gleichberechtigt miteinander leben" ist, sondern "eine Gemeinschaft von Glaubenden".

H.-W. Neudorfer berichtet über die Forschung zur neutestamentlichen Ekklesiologie anhand ausgewählter Arbeiten von K. Berger, J. Roloff und P. Stuhlmacher. Bei Letzterem "haben wir es - cum grano salis - mit einer durchaus ,freikirchlichen’ Position und Sicht der Kirche zu tun" (108). Der Vf. fragt dazu aus volkskirchlicher Sicht, "ob denn die Entwicklungen, die die Kirche während der letzten 2000 Jahre erlebt hat, ganz und gar ohne Geisteswirken" abgelaufen sind. - "Faktoren des Gemeindewachstums nach dem exegetischen Befund der Apostelgeschichte" untersucht W. Reinhardt mit dem Ziel, sie für den missionarischen Gemeindeaufbau heute fruchtbar zu machen.

R. Gebauer stellt als freikirchlicher Theologe neutestamentliche Erwägungen zu einer biblisch erneuerten Taufpraxis an und findet den Schlüssel dazu in deren ursprünglichem missionarischen Sitz im Leben. Daraus folgert er den grundsätzlichen Verzicht auf die Säuglingstaufe und "einen engsten zeitlichen Zusammenhang des Zum-Glauben-Kommens mit der Taufe". Hier zeigt sich wieder, wie schwierig die Verständigung an dieser praktisch höchst bedeutsamen Stelle infolge der unterschiedlichen Vorverständnisse ist. - "Die Bedeutung der Charismen im Gemeindebau" behandelt S. Großmann ebenfalls aus freikirchlicher Sicht. Er sucht eine gesunde Mitte zwischen einer "Charismaabwehr" und einer "Power-Charismatik" und legt besonderen Wert auf die Öffnung des Gottesdienstes für charismatische Erfahrungen.

U. Swarat findet als Baptist die "Notae ecclesiae" in der Verkündigung des Evangeliums und im Bekenntnis des Glaubens. Kirche ist "nicht schon dort, wo das Evangelium angeboten, sondern erst dort, wo es auch im Glauben angenommen wird" (182). R. Meier kritisiert als Lutheraner, dass Swarat die Sakramente nicht zu den unverzichtbaren Notae zählt. Bekenntnis, Gemeinschaft, Liebe usw. nennt Meier abgeleitete Notae. - Die viel diskutierte Frage nach "Kirche als Institution oder Ereignis" beantwortet J. Eber, indem er den Gottesdienst als Weg aus falschen Alternativen zu einer gemeinsamen Ekklesiologie interpretiert. "In der Konzentration auf den Gottesdienst kann der Gegensatz zwischen ,landeskirchlicher’ und ,freikirchlicher’ Kirchenform überwunden werden" (204).

"Die Kontextualisierung neutestamentlicher Ekklesiologie im Gemeindebau" erörtert C. Ott unter der Fragestellung, wie die Gemeinde ihren biblischen Auftrag auf eine kulturell verständliche und relevante Weise erfüllen kann, ohne ihr Wesen aufzugeben. Er bestimmt diesen Auftrag in Bezug auf die Beziehung zu Gott als Anbetung, in Bezug auf die Beziehung zur Welt als Sendung und in Bezug auf die Beziehung der Gemeindeglieder untereinander als Erbauung. Dieser Auftrag bildet das normative Prinzip, der Kontext den formalen, relativen Rahmen.

J. Mette und N. Schmidt stellen "Ekklesiologische Erwägungen zum Gemeindeaufbau im Gnadauer Kontext" an, indem sie zuerst kurz in die historischen Gnadauer Dokumente zur Gemeindefrage einführen und zeigen, "daß die ,Freikirche’ immer wieder als abschreckendes Beispiel herangezogen wird, als Feindbild gewissermaßen" (252). Sie halten selber die Volkskirche für "ein Auslaufmodell" (257), und sie meinen, die Betonung der ekklesiologischen Fragen rücke ein Randthema in die Mitte. Hier liegt ein verkürztes Verständnis von Ekklesiologie vor, das besonders in der von J. Eber vollzogenen Verbindung von Kirchen- und Gottesdienstverständnis bereits korrigiert wurde.

Der Gnadauer Kontext bestimmt auch das von H. Hempelmann engagiert vorgetragene "Plädoyer für die Zukunft der Landeskirchlichen Gemeinschaften als ,Kirchen alternativen Typs’". Damit sind örtliche Gemeinschaften als Personalgemeinden mit dem Status einer selbständigen Gemeinde inklusive aller entsprechenden Lebensäußerungen gemeint. Dieses Modell soll besonders der mittleren und jüngeren Generation das Bleiben im landeskirchlichen Rahmen erleichtern. In der Praxis werden die traditionellen Modelle des "ergänzenden Dienstes" (Gemeinschaftsstunde zusätzlich zum Gottesdienst der Parochialgemeinde) und des "partiell stellvertretenden Dienstes" (Prediger handeln teilweise in landeskirchlichem Auftrag) immer weniger akzeptiert. H. tritt mit dem "Modell 3" der Forderung entgegen, Gemeinden nach einem "Modell 4" außerhalb der Landeskirchen zu gründen. Er sieht in Letzterem die Gefahr eines postmodernen Individualismus und einer Preisgabe des Öffentlichkeitsanspruchs. Kirchenrechtlich ergeben sich Fragen besonders zum Mitgliedschaftsrecht, da die "Kirchen alternativen Typs" für Menschen offen sein müssen, die (noch) nicht bereit sind, in eine Landeskirche einzutreten.- H. Stadelmann äußert sich als freikirchlicher Theologe skeptisch zu diesem Modell und meint, dass doch irgendwann im 21. Jh. "alle Kirchen unter freikirchlichen Rahmenbedingungen in einer säkularen Gesellschaft existieren".

Abschließend berichtet K. Wetzel über "Gemeindebau und Gemeindewachstum in der Zwei-Drittel-Welt". Er schildert Beispiele aus Indonesien und erklärt Voraussetzungen für Gemeindebau und -wachstum in Asien, Afrika und Lateinamerika. Protestantismus erweist sich dort als Bewegung, von der wir lernen können und müssen, unsere Nabelschau aufzugeben. Theologie und kirchliche Praxis ohne missionarische Perspektive sind in den größten und wachsenden Teilen der Weltchristenheit undenkbar. Den Autoren dieses mit einem Register versehenen Bandes ist dafür zu danken, dass sie provozierend daran erinnern, wie notwendig diese Perspektive auch für Theologie und Kirche in Deutschland ist.