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Ausgabe:

März/2000

Spalte:

329–332

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Müller, Stephan E.

Titel/Untertitel:

Krisen-Ethik der Ehe. Versöhnung in der Lebensmitte.

Verlag:

Würzburg: Echter 1997. XI, 606 S. gr.8 = Studien zur Theologie und Praxis der Caritas und Sozialen Pastoral, 7. Kart. DM 72,-. ISBN 3-429-01885-4.

Rezensent:

Jürgen Ziemer

Diese gekürzte (!) Würzburger Habilitationsschrift widmet sich einem zentralen Aufgabenbereich pastoralen Handelns, nämlich den Krisen von Ehen vor allem in der Lebensmitte. Der Vf. betont, es gehe nicht um eine umfassende Eheethik und auch nicht um eine Beschreibung der Krise der Institution Ehe in unserer Gesellschaft. Im Blickpunkt stehe vielmehr die Auseinandersetzung mit einem spezifischen Erfahrungsfeld des Ehelebens, das er wesentlich als "Zustimmungskrise eines oder beider Ehepartner zum Ehepartner und zur Ehe mit ihm" (319, A 1.) versteht. Das Anliegen der Arbeit ist nicht primär ein praktisch-theologisches, sondern ein fundamentalethisches. Dennoch gibt es eine praktische Absicht: Der Vf. hat sich vorgenommen, eine "Krisen-Ethik in prophylaktischer Absicht" (3) zu schreiben; damit meint er eine Zusammenschau aller derjenigen theologischen und nichttheologischen Aspekte, die für eine Bewältigung von Krisen in der mittleren Ehephase relevant sein könnten. Dem entsprechend ist das Buch vierteilig aufgebaut: Auf zwei humanwissenschaftliche Kapitel (10 ff.; 96 ff.) folgt ein Kapitel ethischer Theoriebildung unter dem Titel "Humanwissenschaften und Moraltheologie" (271 ff.); zum Schluss wird dann die "theologische Krisen-Ethik der Ehe" als "Ethik der Versöhnung zwischen Mann und Frau in der Lebensmitte" (368 ff.) dargestellt. Damit ist dann auch gleich die innere Ausrichtung genannt: Krisenbewältigung wird verstanden als Versöhnungsarbeit (vgl. 4). Dann kann, das ist die Überzeugung des Vf.s, eine Krise zum "Wendepunkt personal-relationalen Wandels" (575) werden.

Zur Erreichung seiner Ziele und zur Begründung seiner Thesen geht der Vf. sehr sorgfältig Schritt für Schritt voran und diskutiert eine Fülle einschlägiger Literatur. In dem sozialwissenschaftlichen Eingangskapitel werden die aus der soziologischen Literatur sich ergebenden empirischen Daten für die Situation der Ehe heute und die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für partnerschaftliches Leben übersichtlich dargestellt. Dabei hebt der Vf. den Wandel von einem nomozentrischen zu einem autozentrischen Welt- und Wertverständnis(63, 67, 82) und damit im Zusammenhang eine deutlich beobachtbare "Labilisierung des christlichen Glaubens" (88 ff.) hervor. Noch wichtiger für das Verständnis von Ehekrisen in der Lebensmitte sind dem Vf. dann offensichtlich die "Erkenntnisse der Psychologie und Psychotherapie" (96 ff.). Dieses Kapitel ist im Wesentlichen tiefenpsychologisch ausgerichtet - freilich unter besonderer Berücksichtigung der personalen Anthropologie (vor allem August Vetters, vgl. 7, A1) und einer personalen Psychotherapeutik (zu der der Vf. vor allem von Gebsattel, Herzog-Dürck, Görres und auch Willi rechnet). Die Gefährdungspunkte für die eheliche Gemeinschaft werden anhand der psychoanalytischen Neurosenpsychologie erläutert und konkretisiert. Leitgesichtspunkt ist dabei die Wahrnehmung des "ungelebten Lebens" (127 ff.), die sich für jede Persönlichkeitsstruktur anders darstellt (147 ff.). Dem Vf. gelingt es, unterschiedliche Krisenbilder von Ehen in ihrem weithin unbewussten Motivationsgefüge darzustellen. Für pastoralpsychologisch ausgebildete Leser mag dieser Teil reichlich viel Bekanntes enthalten, dafür eröffnen dann aber die anthropologischen und moraltheologischen Erwägungen zu jeder Persönlichkeitsstruktur und deren Beziehungsverhalten interessante und erhellende Einsichten. Als Beispiel sei hingewiesen auf das, was der Vf. über die "Angst vor der Freiheit" bei Depressiven schreibt (212 ff.).

Für die ethische Theoriebildung (271 ff.) verwahrt sich der Vf. deutlich gegen jede reduktionistische Sichtweise, also sowohl gegen "Psychologismus" und "Soziologismus" wie gegen "Moralismus" und "Theologismus" (272). Es geht ihm um "gegenseitige Verwiesenheit bei gleichzeitiger Respektierung der Eigenständigkeit" (283) von theologischen und humanwissenschaftlichen Herangehensweisen. Nur so sei ein umfassender Zugang zum Phänomen der Ehekrise möglich. Auf diesem Hintergrund bemüht sich der Vf. um die Ausarbeitung einer theologischen "Tugendethik" (319 ff.).

Hierbei gehe es nicht primär um "die Bestimmung des sittlich Richtigen", sondern vor allem um die "Verfaßtheit der sittlichen Person" (331). Tugendethik erhält damit einen therapeutischen Akzent, sie zielt auf sittliche Kompetenz. Unter Bezugnahme auf eine Formulierung von D. Mieth bestimmt der Vf. Tugenden als sittliche Haltungen, die ihrerseits als "Selbstverpflichtungen der menschlichen Freiheit ..." interpretiert werden sollten (333). Im Blick auf das Ehethema möchte der Vf. Tugend vornehmlich als "sittliche Lebenstüchtigkeit" verstehen. Diese schließe auch die Fähigkeit ein, "mit einer Krise umzugehen und sie bewältigend zu bestehen" (344). Das wird dann im Einzelnen noch expliziert und auch gnadentheologisch interpretiert.

Das große Abschlusskapitel des Buches ist dann der "Theologischen Krisen-Ethik der Ehe" im engeren Sinne gewidmet (368-572). Dabei werden die in den vorangegangenen Kapiteln gewonnenen Einsichten - wie die einer dialogischen Herangehensweise an die Krisenphänomene und der tugendethische Ausgangspunkt - für das Gesamtthema fruchtbar gemacht. Zunächst geht es um ein angemessenes Krisenverständnis. Der Vf. nimmt Erkenntnisse der Krisenpsychologie auf (371 ff.) und versucht die Krise auch aus der Sicht des Glaubens zu verstehen (390 ff.). Krise wird als Herausforderung zur "Verwesentlichung der personal-relationalen Existenz" (389) verstanden und zugleich als "Kairos" gedeutet, in dem der Ruf Gottes an den Einzelnen und das Paar ergeht (393), um dann in der "Bereitschaft und im Vollzug der Versöhnung" "die Alternative der Krisenbewältigung" (398) zu erkennen. Zur Versöhnungshaltung gehören gerade im Blick auf die krisenhaften Probleme in einer Ehe für den Vf. die drei Aspekte von "Erkenntnis, Annahme, Wandlung", und zwar jeweils "in Bezug auf das Ich, Du, Wir" (407). Das wird nun wieder im Einzelnen aufgeschlüsselt und vertieft. Es geht im Prozess der Versöhnung um - so die Kapitelüberschriften: "Selbsterfahrung - Selbstentfaltung" (438 ff.) "Du-Erfahrung - Entfaltung der Du-Bezogenheit" (506 ff.) und "Wir-Erfahrung - Entfaltung des Wir" (531 ff.). Leitend ist bei diesen Ausführungen stets ein "Krisenethos, dessen Herzmitte die cooperatio mit der Gnade darstellt" (557). Letztlich wird für den Vf. auf diese Weise der "sakramentale Charakter" der Ehe erfahren (552). Immer wieder fragt er, wie die Ehepartner der Realität ihrer Krise standzuhalten vermögen und sich den darin stehenden Herausforderungen zur Wandlung und auch zum Verzicht (vgl. 446) gewachsen zeigen können. Dazu sei ein "kooperatives Ethos" nötig, das zugleich "Glaubensethos" sei (552).

Es ist nicht möglich, im Rahmen einer Rezension auch nur annähernd einen Eindruck von der Fülle der Gedanken zu bieten, die dieses Buch enthält. Viele Argumentationsgänge, Einzelbeobachtungen und Anregungen sind aufschlussreich und zustimmungswürdig. Sie erweisen den Autor als gründlichen, um Genauigkeit und Redlichkeit des Denkens bemühten Theologen. Bei der Fülle des von ihm ausgebreiteten Materials muss man freilich auch eine erhebliche Anstrengung des Lesens auf sich nehmen, um die "Goldkörner" dieser Arbeit zu finden. Besonders im letzten Teil der Arbeit verstärkt sich der Eindruck, dass sich vieles doch irgendwie wiederholt und der Vf. ein biss-chen zum Opfer seiner eigenen Gliederungssystematik geworden ist. Darüber hinaus bleiben auch weitergehende Fragen:

Der Vf. betont gleich zu Beginn, dass er im Grunde "leichtere Krisen" (3) im Auge habe. Das bestätigt sich das ganze Buch hindurch. Und dem entspricht, dass die Scheidungsthematik nahezu unbeachtet bleibt. Aber wird das dem Anspruch einer Krisenethik wirklich gerecht? Geht es nicht in allen wirklich ernsten Ehekrisen immer auch um Sein oder Nichtsein der Beziehung? Das werden die meisten in der Eheseelsorge oder Eheberatung tätigen Mitarbeiter vermutlich so erleben. Kann man eine Krisenethik der Ehe entwerfen, ohne die Möglichkeiten einer Trennung kritisch zu bedenken? Müssen Beraterinnen und Seelsorgerinnen immer "Zustimmungshelfer", wie der Vf. oft betont, sein oder kann es nicht eine Situation geben, wo sie Trennungshelfer werden müssen?

Kompetente Hilfe in Ehekrisen sollte gewiss von der Hoffnung auf "Versöhnung in der Lebensmitte" geprägt sein. Aber kann man dies deshalb auch als operationales Ziel von Beratungsprozessen bestimmen? Wie ist es mit den Krisensituationen, in denen einfach die Voraussetzungen für Versöhnung nicht gegeben sind? Man denke etwa an die Fälle, in denen Gewalt im Spiel ist. Vermutlich wird der Vf. zustimmen, dass es Ehekonflikte gibt, in denen zunächst Versöhnung ein sehr fernes Ziel ist. Das aber müsste auch theologisch-ethisch und pastoralpsychologisch in einer Krisenethik der Ehe reflektiert sein, die den Anspruch erhebt, auf die Wirklichkeit gelebten Lebens bezogen zu sein.

Eine auffallend untergeordnete Rolle spielen in den Darlegungen des Vf.s Fragen der Sexualität. Krisenerfahrungen in der Ehe haben aber doch sehr häufig mit sexuellen Enttäuschungs- und Versagenserfahrungen zu tun. Überhaupt kommen die Bereiche des Körperlichen in dieser Krisenethik der Ehe viel zu kurz. Auch die Thematik der sexuellen Treue bzw. Untreue im Zusammenhang mit signifikanten Erfahrungen der mittleren Lebensjahre (Stichwort "Torschlußpanik") bleibt unerörtert.

Auch in anderer Hinsicht frage ich mich, wie nah diese Krisenethik der Ehe an der Realität auch christlicher Gemeinden ist. Der Vf. schränkt seine Überlegungen auf Paare ein, die in der Eheform leben. Egal, wie man nun nichteheliche Lebensgemeinschaften ethisch beurteilen mag, aus dem Blickwinkel von Seelsorge und Beratung jedenfalls ist doch wohl daran festzuhalten, dass den Kirchen die Sorge um gelingende Partnerschaften in einem umfassenden Sinne aufgegeben ist. Das müsste auch in den ethischen Diskurs einbezogen werden.

Nur ganz am Rande erwähnt der Vf., dass die christliche Ethik sich auch im "Dialog mit den Nicht-Glaubenden" (323) bewähren will. Aber das wird im Blick auf die Eheleute kaum realisiert. Wie geht man mit der Tatsache um, dass im seelsorgerlichen oder beraterischen Gespräch um die Ehe in vielen Fällen, auch unter Christen, die Ansprechbarkeit auf Sachverhalte des Glaubens, auf die der Vf. abhebt, äußerst gering ist? Hier hätte man sich vom Ansatz des Buches her noch mehr Konkretion gewünscht und Hilfen für eine ethische Orientierung über die Grenzen der Gemeinde hinaus.

Die hier besprochene Krisenethik der Ehe von Stephan E. Müller ist in der katholischen Tradition verwurzelt. Das betrifft theologische Denkfiguren (z. B. Gnadenlehre, Sakramentsverständnis, Tugendethik) und (vermutlich auch) das dem Vf. vor Augen liegende Erfahrungsfeld. Es ist ganz verständlich, dass das so ist. Wenn aber in einem 600 Seiten starken Buch zur Ehe-Ethik evangelische Autoren so gut wie überhaupt nicht erwähnt werden, kann man seine Verwunderung nicht ganz zurückhalten. Ich denke nur etwa an die einschlägigen Arbeiten von Hermann Ringeling; selbst seine hierhergehörenden Beiträge in dem ansonsten zitierten "Handbuch der christlichen Ethik" erscheinen nicht einmal im Literaturverzeichnis, von anderen Autoren ganz zu schweigen.

Den zuletzt genannten Punkt möchte ich nicht zu hoch bewerten, und er sollte den Blick für die Vorzüge dieser Arbeit nicht zu sehr trüben. Das Buch von Müller bietet reichlich Stoff für präzise Problemerfassung und eigene Urteilsbildung, und es gewährt einen umfassenden Einblick in die eheethische Diskussion innerhalb der katholischen Theologie.

Für Leser, die sich für seine Lektüre nicht ganz so viel Zeit nehmen können oder wollen wie der Rezensent, wäre seine Benutzbarkeit wesentlich erhöht worden, hätte man sich dazu entschlossen, ihm auch Register beizugeben.