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Ausgabe:

Dezember/1998

Spalte:

1184–1186

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Shadid, W. A. R., and P. S. van Koningsveld [Eds.]

Titel/Untertitel:

Political Participation and Identities of Muslims in Non-Muslim States.

Verlag:

Kampen: Kok 1996. IX, 239 S. 8. Kart. hfl. 69.50. ISBN 90-390-0611-3.

Rezensent:

Dieter Becker

Die Verfasser der Beiträge dieses Sammelbandes fragen nach Art und Umfang politischer Partizipation von Muslimen in verschiedenen Staaten Westeuropas und nach den damit korrelierenden Formen religiöser, kultureller und ethnischer Identität. Ein Schwerpunkt liegt auf der Situation in den Niederlanden und Großbritannien, aber auch die Situation in Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien wird eruiert. Neben der Haltung von einzelnen wird die Rolle von Organisationen und Institutionen untersucht.

Der internationale Vergleich macht deutlich, daß europäische Muslime in dem Bemühen, sich auf der nationalen Ebene repräsentative Organisationen zu schaffen, die für die islamischen Gemeinden im Gegenüber zu staatlichen Stellen als Sprecher fungieren können, bisher wenig erfolgreich waren. Daß ungefähr 40 % der in der europäischen Union ansässigen Muslime die Staatsbürgerschaft des jeweiligen Landes angenommen und daß bis 1995 etwa 6.000 Gebetshäuser und Moscheen errichtet wurden, deutet allerdings auf den festen Willen dieser Menschen, sich in Europa zu verwurzeln.

Im ersten Teil (The Role of Organizations in Political Participation) findet sich u. a. ein Beitrag über den türkischen Islam in Deutschland von Valéry Amiraux. Die Vfn. diskutiert in ihrem Beitrag die Schwierigkeiten türkischer Muslime, die deutsche Staatsbürgerschaft zu erlangen, sowie die Tendenz der Bundesregierung, den Islam als eine Religion mit Gaststatus zu betrachten und auftretende Probleme durch das für die Beziehungen zur Türkei zuständige Auswärtige Amt regeln zu lassen. Sie thematisiert auch die bisher erfolglosen Bemühungen muslimischer Organisationen, den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts zu erhalten, und damit einen gleichberechtigten Zugriff auf öffentliche Mittel für religiös geprägte Aktivitäten zu gewinnen. Die Vfn. weist darauf hin, daß die Bundesregierung vor allem mit der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion e.V. (DITIB) zusammenarbeitet, die den regierungsoffiziellen Islam in der Türkei vertritt. Eine Ausrichtung an den Bedürfnissen von Muslimen im deutschen Kontext sowie neue Strategien hinsichtlich einer Öffnung klassischer Positionen, insbesondere für Sport, Erziehung, Musik und Frauenfragen, wird jedoch vor allem von zwei anderen Organisationen verfolgt, dem Verband islamischer Kulturzentren e. V. (IKZ) und der Avrupa Milli Görüs Teskilatlari (AMGT; "Nationale Sicht"). Beide richten ihre Arbeit mit Erfolg an der Stellung aus, die Religion in nichtmuslimischen westlichen Gesellschaften hat. Ihre Optionen zielen u. a. darauf, Islam in Deutschland sowohl auf der kollektiven wie auf der persönlichen Ebene neu zu definieren und ihm eine Legitimität als religiösem Bezugsrahmen geben.

Im zweiten Teil (Attitudes Towards Political Participation) geht es um die politische Mitarbeit von Muslimen in nichtmuslimischen Staaten und die Frage, wie Muslime heute die traditionelle Unterscheidung zwischen dem "Haus des Islam" und dem "Haus des Krieges" auf die Situation in Europa anwenden: pragmatisch, idealistisch-utopisch, reinterpretativ oder traditionalistisch? In der Beantwortung dieser Frage entscheidet sich, ob und wie ein Muslim am politischen Leben in einer nichtmuslimischen Gesellschaft teilnehmen kann (Anpassung, Rückzug auf ein islamisches Familienleben, Übernahme politischer Verantwortung, Militärdienst usw.). Es wird deutlich, daß es eine große Breite islamischer Auffassungen in dieser Frage gibt, die im Gegensatz zu immer wieder behaupteten Stereotypen stehen. Exemplarisch beleuchtet wird die politische Partizipation von Muslimen in Großbritannien. Sie zeigt sich - unterstützt durch das britische Wahlsystem - vor allem im lokalen Bereich. Auf nationaler Ebene haben muslimische Politiker in den Parteien mit Widerständen zu kämpfen. Besonders in der Labour Party gewinnen Muslime aber zunehmend an Einfluß. Interviews mit Führern verschiedener muslimischer Gruppen zeigen, daß fundamentalistische Organisationen wenig Einfluß auf Muslime haben, die sich heute in Großbritannien als Kandidaten in den verschiedenen politischen Parteien zur Verfügung stellen. Die historische Erfahrung des Islam in Indien, wo religiöse Gelehrte Wege der Koexistenz und sogar Kooperation mit der nichtmuslimischen britischen Herrschaft fanden, ist für asiatische Muslime, die heute in England leben, offenbar bestimmender als der direkte Bezug auf die Sharia.

Im dritten Teil (Identities and Integration) geht es vor allem um jüngere Immigranten und ihre Anschauungen über das Zusammenspiel von muslimischer Identität und Integration in säkulare westliche Gesellschaften. Etwa am Beispiel der Untersuchungen über Jugendliche in den Niederlanden zeigt sich, daß die Befolgung islamischer Riten und Lebensformen und die Zustimmung zu islamischen kulturellen Normen im Rückgang begriffen sind. Ferner wird deutlich, daß Religion und ethnische Identität eng korrelieren und daß religiöse Orientierung und soziokulturelle Integration in einem gewissen Gegensatz zueinander stehen. So zeigen die Untersuchungen, daß muslimische Jugendliche sich religiös weniger engagiert verhalten, wenn sie beginnen, sich mehr als Holländer zu fühlen. Vor allem leiden Jugendliche jedoch unter der Haltung, die Einheimische Fremden gegenüber haben, und dem negativen Image des Islam, das in den Medien verbreitet wird. In einem weiteren Beitrag wird gezeigt, daß Unterschiede in der soziokulturellen Identifikation nicht von der Immigrationsgeschichte abhängen, sondern vor allem von der Sprache, die im Elternhaus gesprochen wird. Als falsch erweist sich ferner die Annahme, daß junge Immigranten, die an einer ausschließlich türkisch bestimmten ethnischen Identität festhalten, zu einem geringeren Grad an der neuen Gesellschaft partizipieren als junge Türken, die sich als teilweise assimiliert betrachten. Die Präferenz für eine vor allem türkische Identität bedeutet so nicht notwendig Segregation. Viele optieren ethnisch für eine neue Identität, ohne jedoch das eigene kulturelle Erbe aufzugeben. Staatliche Unterstützung zur Erhaltung dieses Erbes erweist sich deshalb als hilfreicher für den Prozeß der Integration als eine Politik, die diese kulturellen Bedürfnisse nicht beachtet. Eine Untersuchung bezüglich des Verhaltens von Migranten gegenüber islamistischen Bewegungen in ihren Heimatländern belegt, daß die größte Gruppe es vorzieht, zu politischen Problemen dort auf Abstand zu gehen, wobei die Haltung gegenüber islamistischen Bewegungen eng mit dem religiösen Engagement korreliert.

Das Buch dokumentiert als zweiter und letzter Band die Referate eines Kongresses über Islam, Hinduismus und Politik in Westeuropa, der 1995 in Leiden stattfand und von der Dutch Organisation for Scientific Research (N.W.O.) organisiert wurde. Literaturhinweise zu den einzelnen Kapiteln sind am Ende in einer Gesamtbibliographie zusammengefaßt. Ein höchst interessanter und notwendiger Band, der zeigt, daß die angeschnittenen Fragen heute nur noch in europäischer Zusammenarbeit sachgerecht untersucht werden können.