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Ausgabe:

März/2000

Spalte:

323–325

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Heitink, Gerben

Titel/Untertitel:

Pastorale Zorg. Theologie - Differentiatie - Praktijk.

Verlag:

Kampen: Kok 1998. 298 S. gr.8 = Handboek Praktische Theologie. Geb. hfl. 59.-. ISBN 90-242-9300-6.

Rezensent:

Albert K. Ploeger

Gerben Heitink ist derzeit in den Niederlanden nicht nur der wichtigste protestantische Praktische Theologe, sondern vor allem eine Autorität auf dem Gebiet der Seelsorge. Mit Recht wurde er beauftragt, dieses Handbuch zu schreiben. Er bietet einen Überblick über die Entwicklung und die heutige Sachlage in Deutschland, den Vereinigten Staaten und den Niederlanden.

In Teil I, "Theologie", führt H. den Begriff "pastorale zorg" ein (27-42) und beschreibt drei aktuelle Richtungen (43-85). Danach erörtert er seine These der Bipolarität in der Theologie der Seelsorge: "Von Psychologie zu Theologie" und "Von Theologie zu Psychologie" (86-126), woraus die Funktionen der Seelsorge abgeleitet werden (127-147). In Teil II, "Differentiatie", beschreibt H. die Seelsorge in Gemeinden und Einrichtungen, ausgehend von den Folgen der Ausdifferenzierung von Teilbereichen der Gesellschaft (151-225). In Teil III, "Praktijk", richtet H. seine Aufmerksamkeit auf die Praxis (229-263). Das Handbuch endet mit guten Registern.

H. bevorzugt für Seelsorge das Wort "pastorale zorg" (englisch "pastoral care"). Obwohl auch auf holländisch das Wort "zielzorg" (Seelsorge) existiert, wird generell "pastorale zorg" gebraucht - also auch von H., der sich überhaupt als Meister im Brückenbauen zwischen mehreren Theorien, Standpunkten und Terminologien zeigt. Seelsorge meint s. E. Zuwendung und Aufmerksamkeit, die sich auf den ,ganzen’ Menschen, und namentlich auf sein geistliches Funktionieren richtet. Seelsorge beachtet Situationen und Erfahrungen von Kontingenz, von Not und Verlust und fragt sich: Was macht einem Menschen dann noch Mut? Hier erhebt sich die Sinnfrage, und Menschen werden eingeladen, ihre Biographie zu rekonstruieren sowie ihren Glauben. Seelsorge kommt aus der christlichen Tradition mit ihren jüdischen Wurzeln und findet in Begegnung statt, im Gespräch und Ritual, entweder zwischen Einzelnen oder in Gruppen von Gemeindegliedern, untereinander oder als professionelle Beratung. In der seelsorgerlichen Praxis machen Menschen Erfahrungen von Heilen, Unterstützen, Begleiten und Versöhnen (Clebsch & Jaeckle: "healing, sustaining, guiding and reconciling"; 127) in ihrem Leben. Schließlich soll die Seelsorge Beziehungen unterhalten zu anderen, auch materiellen, Formen von Sorge, Pflege und Beratung innerhalb des Kontextes der modernen Gesellschaft (41).

Seelsorge ist also nicht nur eine Sache der Pfarrerin und des Pfarrers. H. wählt eine inklusive Annäherung an den Begriff der Seelsorge, d. h. bei ihm gehen ,cura generalis’ und ,cura specialis’ eine enge Beziehung ein (18, 130). Denn Seelsorge ist erstens gegenseitige Sorge der Gemeindeglieder in der Koinonia (129; unter Hinweis auf Kuhnkes Gemeindemodell). Die Idee der Koinonia ist vergleichbar mit der Freiwilligkeitskirche van der Vens, aber bei H. grundsätzlich, als calvinistisch-presbyterianische Ortsgemeinde gedacht.

Obzwar H. diesem doppelten Ansatz treu bleibt, ist sein Handbuch vor allem für Pfarrer und Pfarrerinnen und Theologiestudierende geschrieben. Das wird schon deutlich im ersten Teil "Theologie". Theologie ist hier Praktische Theologie, die - wie H. in seiner Einführung in die Praktische Theologie (1993) ausführlich beschrieben hat - "bipolar" ist. Einerseits stellt er die traditionellen theologischen Wissenschaften wie Systematische und Biblische Theologie dar, und andererseits die sozialen Wissenschaften. Die kerygmatische Seelsorge (Thurneysen u.a.) setzt er in Beziehung zur dialektischen Theologie (Barth u. a.). Hier ist Psychologie nur blasse Hilfswissenschaft. Dagegen steht in der therapeutischen Seelsorge (Boisen/Hiltner, Scharfenberg u. a.), die er mit der Korrelationstheologie Tillichs verbindet, die Psychologie im Mittelpunkt, manchmal auf Kosten der Theologie. H. selbst möchte (mit Hartmann, Josuttis u. a.) eine Zwischenposition vertreten, die er die hermeneutische Seelsorge nennt, bezogen auf hermeneutische Theologie seit Schleiermacher und neueste Narratologie. Hier kommt sein Ausgangspunkt bei der Bipolarität voll zum Ausdruck. Sowohl die Theologie als auch die Psychologie werden beide hundertprozentig gleich bewertet: "Sie verhalten sich ,auf die Weise von Chalzedon’ zueinander: ,unvermischt und unverändert’, ,ungetrennt und ungeschieden’ (105; nach Riess 1973)." Hier mache ich eine kritische Zwischenbetrachtung.

Es ist m. E. schwer verständlich, wie man diese christologischen Kategorien hier benutzen kann. Aus gutem Grund hat Bohren betont, dass ein pneumatologischer Ausgangspunkt günstiger wäre. Außerdem sind die in distanzierter Forschung mit Recht unterschiedenen psychologischen und theologischen Positionen in der Lebenswelt meistens sehr vermischt. Dort gibt es ja - glücklicherweise- manche Übergänge (Welsch) und unproblematisiertes Hintergrundwissen (Habermas). Seelsorger sollen, wenn sie ihre Pastoranten verstehen möchten, davon ausgehen, dass jeder Mensch (auch sie selbst) in der Glaubensspraxis theologische und psychologische Erkenntnisse vermischt. Vielleicht liebt Gottes Geist die Psychologie genau so oder mehr als die Theologie ... Wie dem auch sei, in der Praxis zählt der Glaube. Soweit diese Bemerkung.

In Teil II "Differentiatie" beschreibt H. die Folgen der Ausdifferenzierung von Teilbereichen der Gesellschaft, die sich in den Niederlanden - wie in der ehemaligen DDR - auch auf alle staatlich subventionierten Institutionen ausgewirkt haben, mit Ausnahme des Unterrichts. Zur Zeit ist die Hälfte der Bevölkerung aus den Kirchen ausgetreten, und ein Viertel meint, dass es Gott oder das Ultimate nicht ,gibt’. Das hat nicht nur große Folgen für die Kirchen, die vergreisen, sondern auch für Seelsorge in Krankenhäusern usw. H.s Anliegen ist es, eine breite Theorie zu entwerfen, die für professionelle und freiwillige Mitarbeiter der Kirche hilfreich ist, und die ihnen eine Disposition verschafft, die offen ist für die ganze Skala von Kirchentreuen bis distanzierten Mitgliedern sowie für die Pluralität von Glaubensarten, mit Berücksichtigung des persönlichen Kontextes des individuellen Menschen.

H. verortet Seelsorge im Bereich des geistlichen Funktionierens - mit ihrer eigenen Funktion: der persönlichen Sinngebung. Im Prozess der Sinngebung kann man aus der Perspek-tive des Pastoranten drei Niveaus unterscheiden, die einander gegenseitig durchdringen. Es sind das das kognitive Niveau (und das Deutungsmuster des Menschen), das emotionale Niveau (und die geistliche Gesundheit) und das experimentelle oder Erfahrungsniveau (und die Spiritualität des Pastoranten) (151-172). Anschließend bespricht H. erstens die Seelsorge in Gemeinden (Hausbesuch, Rituale usw.; 173-189), zweitens die Seelsorge in gesellschaftlicher Perspektive (politisch, prophetisch, emanzipatorisch; er referiert an Jentsch, dass in der Seelsorge "beraten", "bezeugen" und "befreien" unterschieden wird, wobei das letzte Element ein Aspekt von Beratung und Bezeugung ist; 190-208). Drittens referiert er über Seelsorge in Einrichtungen (209-223). Hier plädiert H. mit guten Argumenten für ,engagierte - und deshalb differenzierte - Seelsorge’ statt ,allgemeiner Lebenshilfe’.

Im letzten Teil, III. "Praktijk", orientiert sich H. am pastoralen Gespräch (229-249) und dem Handwerk der Pfarrerin und des Pfarrers (250-263). Sachen, die schon theoretisch erörtert sind, werden hier in praktischer Hinsicht ausgearbeitet. Hier wird u. a. auch die prinzipielle "Ebenmenschlichkeit" (ein Neologismus seines Lehrmeisters Firet) neben der "Asymmetrie" in der pastoralen Beziehung diskutiert sowie die Gesprächstechnik. Immer geht es H. um die Förderung der hermeneutisch-kommunikativen Kompetenz im Bereich der Seelsorge. Mit seinem integrativen Bemühen beabsichtigt er, dass alle, die seelsorgerlich tätig sind, in Freiheit ihren eigenen Stil entwickeln können.

Das Buch ist, H.s Ausgangspunkt wegen, eine Fundgrube für Seelsorger, die gerade anfangen oder neue Wege suchen. Leider verschwimmt aber manchmal durch die Vielheit der diskutierten Meinungen die durchgehende Linie. Das ist schade, denn H.s integrative Bemühungen ergeben ein eigenes seelsorgerisches Profil, das höchst interessant ist und auch im Ausland noch mehr Aufmerksamkeit verdient. Hoffentlich findet sein Buch auch deutsche Leser und Leserinnen, und hoffentlich wird eine Übersetzung seiner Grundtheorie ermöglicht.