Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

März/2000

Spalte:

311–314

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Iwand, Hans Joachim

Titel/Untertitel:

Christologie. Die Umkehrung des Menschen zur Menschlichkeit. Bearb., kommentiert und mit einem Nachwort versehen von E. Lempp und E. Thaidigsmann.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 1999. 539 S. gr.8 = Iwand Nachgelassene Werke, N.F. 2. Lw. DM 178,-. ISBN 3-579-01846-9.

Rezensent:

Werner Brändle

Wer nach dem Erscheinen des ersten Bandes der Nachgelassenen Werke (NF) noch heimlichen Zweifel hegte, ob sich der Aufwand denn auch lohne, der kann nun nach dem Erscheinen der Christologie I.s beruhigt sein: Diese Edition lohnt nicht nur, sie ist vielmehr in Zeiten christologischer Dürre eine anspruchsvolle und lehrreiche Herausforderung und Bereicherung. Es trifft denn auch m. E. zu, was die Herausgeber im Vorwort schreiben: "Indem Iwand von der Stellvertretung Jesu Christi her die Selbstbezüglichkeit des Menschen, das menschliche ,Für-mich’, als die gnadenlose Verkehrung des göttlichen ,Für-den-Menschen’ erkennt, wird der Anstoß, den die Lehre von der Stellvertretung Jesu Christi der Neuzeit von Anfang an bereitet hat, nicht schamvoll umgangen oder entschärft, sondern in seiner soteriologischen Härte erkannt und geltend gemacht." (10)

1. Ediert sind in dem umfangreichen Band drei Vorlesungen I.s , die er in den fünfziger Jahren in Bonn gehalten hat: 1) Christologie. Eine Einführung in ihre Probleme [1953/54] (17-229); 2) Menschwerdung Gottes. Christologie I [1958/59] (231-289) und 3) Tod und Auferstehung. Christologie II [1959] (293-433). Im Anhang (437-495) sind zwei Aufsätze, Thesen und Notizen I.s aus dem genannten Zeitraum abgedruckt, die nochmals in Kurzform das Anliegen I.s eindrücklich vorführen. Sowohl die Vorlesungen als auch die Aufsätze sind bisher nicht veröffentlicht. Im Editionsbericht (521-524) wird Auskunft über den Archivbestand in Beienrode, das Ziel der Bearbeitung und über die Vorarbeiten gegeben. Deutlich wird dabei wiederum wie schon in Bd. 1 der ,Nachgelassenen Werke’ die pragmatische Zielsetzung der Edition: Hinweise zur damaligen Vorlesungssituation sind konsequent getilgt; wiedergegeben ist ein Text, der dem "erkennbaren Gedankengang" (523) der Vorlesung folgt; die ,vage Genauigkeit’, die damit dem Leser zugemutet wird, stört kaum. Jedoch: Die Gründe, warum z. B. die Überschrift I.s zu Kap. 2 (Vorlesung 1953/54) "Die Stellung der Christologie im Ganzen der Dogmatik" umgeändert wurde in: "Die Menschwerdung Gottes und die Wirklichkeit des Menschen" (25), werden nirgends genannt.

Die Herausgeber fassen in ihrem Nachwort (501-519) die aus ihrer Sicht zentralen Aspekte von I.s christologisch-soteriologischem Denken zusammen. Hilfreich sind dabei einerseits die Hinweise zu "Iwands Stellung im Zusammenhang des Neuprotestantismus", andererseits die wenigen Bemerkungen zur Sprache I.s. Die Herausgeber dürften richtig gesehen haben, wenn sie schreiben: "Die Vorlesungen mühen sich um die Erfassung einer Sache. Aber dieses Erfassen wendet sich immer wieder zeichenhaft in den Ausdruck eines Erfaßtseins, der anzeigt, um welchen Gegenstand es in diesen Vorlesungen geht." (506) Man kann es auch so formulieren: Der Mut und die Unerbittlichkeit, mit der I. seine christologischen Erkenntnisse - die Menschwerdung Gottes und die Versöhnung der Welt durch das Kreuz Jesu Christi - vorträgt, drückt sich in einem Sprachstil aus, der ständig zwischen einem assertorischen und argumentierenden Reden schwankt. Dem Leser bleibt dabei die Chance, selbst mit zu denken und im Wechsel des Sprachstils I.s die notwendige Differenz zwischen Glauben und Verstehen zu spüren bzw. offen zu halten.

2. Überblickt man die drei Vorlesungen I.s, so wird deutlich, dass die dogmen- bzw. theologiegeschichtlichen Teile immer kürzer ausfallen. Die Auseinandersetzung I.s mit seinen Gegnern: vor allem dem dt. Idealismus (Hegel), der Ritschl-Schule und seinen zeitgenössischen Kollegen (F. Gogarten, E. Brunner, H. Vogel und K. Barth) werden mehr und mehr in die Darstellung der eigenen Position ,aufgehoben’. D. h., die Referate zu den einzelnen Positionen werden kürzer und das eigene Profil gewinnt. Das Ergebnis dieser Auseinandersetzungen und dieses Denkprozesses nennt I. abschließend in Kap. 4 seiner Christologie II prägnant: "Der Glaube ist kein Werturteil" (425). Wohl geschieht im Glauben an Jesus Christus ein Urteilen, "aber ein Urteil Gottes, das in Jesus Christus, und zwar in seinem Tode, eine objektive, eine in den Augen Gottes vollkommene und endgültige Darstellung erfahren hat. Das Evangelium sagt uns doch zunächst, was dieser Tod in den Augen Gottes ist und bedeutet, es sagt uns dies als ein Urteil, das uns gegenüber, ungeachtet unserer eigenen Stellungnahmen dazu, gilt. Es gilt mit einer Autorität, in welcher Gottes Wort als solches gilt." (428) Der Glaube, der als Werturteil und damit nur als anthropologisches Vermögen verstanden würde, wäre nach I. ein Widerspruch gegen das Handeln Gottes, gegen den lebenschaffenden Geist Gottes.

"Insofern beziehe ich mich im Glauben wirklich auf ein - auf mein! - Sein! ,Euer Leben ist verborgen mit Christus in Gott’ (Kol 3,3). Dieses Leben - gerichtet und wiedergeboren -steht vor mir in Jesus Christus; nicht sein Leben, ein Leben, das sich objektivieren, historisieren, von meinem Leben und Dasein unterscheiden ließe. Vielmehr ist hier jener Wechsel gesetzt, daß sein Leben mein Leben und sein Sterben mein Sterben, sein Dasein mitten unter uns zugleich sein Dasein für uns ist. In ihm ist die Wahrheit des Menschen vor Gott Geschichte geworden, besser gesagt: Es ist Ereignis geworden, daß Gott für uns ist. Wenn ich dieses pro me ergreifen will, das ,Für mich’-Sein Gottes, dann muß ich Christus ergreifen. Das heißt Glaube." (429 f.)

Mit diesen zentralen Sätzen I.s wird deutlich, mit welcher Wucht und teilweise auch ärgerlichen Einseitigkeit I. Christologie sowohl von der Soteriologie her denkt und expliziert als auch durchgängig und mit der ganzen Schärfe seiner Argumentation die Grenze zwischen Theologie und Anthropologie oder- lutherisch ausgedrückt - zwischen dem ,schuldigen und verdammten Menschen und dem rechtfertigenden und rettenden Gott’ zu ziehen bereit ist. I. ist in keiner Phase seiner Darlegungen bereit, von dieser neutestamentlichen bzw. lutherischen Erkenntnis abzuweichen - das macht die Faszination und Bedeutung dieses Theologen aus. In diesem Zusammenhang sei jedoch auch auf das durchgängig pneumatologische bzw. trinitätstheologische Defizit der Position I.s hingewiesen. Ganz am Schluss des Kapitels über ,Kreuz und Auferstehung Jesu Christi’ weist I. auf das Wirken des Heiligen Geistes hin, das uns "die Spannung zwischen dem Schon und dem Noch nicht" (423) aushalten lehre. "Der Geist, weil er eben der lebenschaffende Geist ist (vgl. Röm 8,6), muß etwas zu tun haben mit dieser Verbindung zwischen uns, den hier lebenden und seufzenden, den in unserem Auferstehungsglauben durch die Wirklichkeit des Lebens immer aufs neue angefochtenen Menschen und dem erhöhten Herrn" (423). Mit anderen Worten: An einer trinitätstheologisch durchdachten Vermittlung seiner christologisch-soteriologischen Erkenntnis ist I. nicht interessiert.

3. Bleibt noch kurz auf die einzelnen Themen bzw. Gliederung der Vorlesungen I.s und seine Kritik an K. Barth hinzuweisen. Die beiden ersten Vorlesungen gehen - trotz eines Abstands von fünf Jahren - in ähnlicher Weise vor. Nach einer Darlegung der christologischen Aufgabe wird ausführlich die Notwendigkeit der Inkarnation dargelegt und gegen spekulative Irrwege verteidigt. Danach folgt eine Auseinandersetzung mit der Tradition bzw. der Christologie im 20. Jh. Kap. 4 der Vorlesung von 1953/54 bietet dann eine interessante Rekonstruktion der Zwei-Naturen-Lehre mit einer Kritik an Schleiermacher und dem Ergebnis, dass "mit dem Wegfall der Zwei-Naturen-Lehre ... das stellvertretende Handeln Christi unbegreiflich wurde." (185) I. zeigt die traditionellen Fehler dieser Lehre auf und macht deutlich, dass es sich nicht um zwei paritätische Größen handelt, sondern um eine Akzentuierung, die Gottes Handeln als Maßstab setzt. "Mit Jesus Christus ereignet sich also innerhalb der Menschheitsgeschichte etwas ganz und gar Analogieloses, etwas für unsere Begriffe Unfaßbares ..." (192).

Die dritte Vorlesung (Christologie II) konzentriert sich ganz um die Auslegung des stellvertretenden Kreuzestodes Jesu Christi: "Vom Tode her will das ganze Leben (Jesu) verstanden sein, nicht umgekehrt." (361) In drei großen Kapiteln umkreist und expliziert I. diese seine These: 1) Der Ort der Christologie: Zwischen Mythos und Historie; 2) Die Form der Christologie: Die Botschaft; 3) Der Inhalt der Botschaft. Dabei wiederholt I. unerbittlich, dass sich im Tode Jesu Gottes Wille bzw. sein Gericht über diese Welt vollzieht. "Der Tod Jesu ist jedenfalls als ein solcher Gerichtsakt proklamiert und verkündigt. Wenn wir ihn nicht in dieser Sicht, in dieser Bestimmtheit erfassen und begreifen, haben wir ihn ganz sicher noch nicht von seiner eigentlichen Mitte, seiner tiefsten Tiefe her verstanden." (389)

I. würdigt die Christologie Barths, indem er ihre antidealistische Wendung, d. h. gegen alle anthropologischen Versuche, das Wesen des Menschseins extra Christum zu bestimmen, rühmt. "Das ist das eigentliche Thema der Menschwerdung, daß die Gnade Gottes gleichwertig, ja identisch ist mit dem Menschen Jesus." (283). In seiner Besprechung Barths von 1953/54 referiert I. sehr ausführlich Barths Position in KDIII/2 und fragt dann, im Zusammenhang der Darlegung von ,Humanität und Sünde’: "Ist Karl Barth nicht in Gefahr - jede Anthropologie gerät in diese Gefahr - Mitmenschlichkeit als ,Vorverständnis’ der christlichen Existenz zu behaupten?" (146) Bei allem Respekt vor Barths theologischer Urteilskraft sieht I. bei ihm - im Blick auf Barths theologische Anthropologie - die Gefahr des Schwärmerischen, d. h. die Differenz zwischen Gut und Böse scheint verwischt zu werden.

I.s Christologie ist ein genaues Studium wert, denn - um es mit I.s Schlusssätzen zu sagen -: "Wer ich bin, das weiß ich erst in dem Augenblick, in dem mir Gott sagt, wer er ist. Dieser in Gott gerechtfertigte Jesus Christus - der ist mein Leben; indem ich ihn ergreife, ergreife ich meine Prädestination." (433)