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Ausgabe:

Dezember/1998

Spalte:

1182–1184

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Lienkamp, Andreas, u. Christoph Lienkamp [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Die "Identität" des Glaubens in den Kulturen. Das Inkulturationsparadigma auf dem Prüfstand.

Verlag:

Würzburg: Echter 1997. 347 S. gr. 8. Kart. DM 58,-. ISBN 3-429-01922-2.

Rezensent:

Hermann Brandt

Unter dem Thema dieses Sammelbandes fand 1996 ein Symposium statt, das von der Katholischen Akademie "Die Wolfsburg", Mühlheim/Ruhr, und der Bischöflichen Aktion Adveniat, Essen, veranstaltet wurde. Der Band dokumentiert die gehaltenen Referate und die Zusammenfassung der Arbeitsergebnisse von fünf theologischen Foren und bietet insgesamt 23 Texte.

Der Untertitel ist vermutlich in Anlehnung an den Aufsatz von Margit Eckholt, Auf dem Prüfstand. Kirchlich-theologische Inkulturation in Lateinamerika, in: HerKorr 50 (1996), 418-423, formuliert worden. Und wie bei (theologischen) Veröffentlichungen häufig, ist der Untertitel exakter als der Obertitel. Während das Stichwort Inkulturation in den Titeln fast aller Referate vorkommt, ist von "Identität" (der Sinn der Anführungszeichen wird nirgendwo erläutert) nur im Titel von drei Beiträgen die Rede. Im übrigen lassen die sehr verschiedenen Erfahrungsberichte aus Praxisfeldern in Lateinamerika erkennen, daß "das" Inkulturationsparadigma in Gestalt einer Vielzahl unterschiedlicher Inkulturationen in den Blick genommen wird. Deren gemeinsamer Nenner ist de facto regional (Schwerpunkt: Lateinamerika) und konfessionell (römisch-katholisch) bestimmt; von daher ist die häufige Parallelisierung von Inkulturation und Evangelisierung in vielen Referaten erklärlich (anders z. B. bei dem Reformierten David Bosch aus Südafrika, der in seinem Standardwerk Transforming Mission über "Mission als Inkulturation" handelt).

Eine detaillierte Würdigung der einzelnen Referate ist im hier vorgegebenen Rahmen unmöglich. Daher seien wenigstens ihre Titel und ihre Autorinnen und Autoren mitgeteilt.

Im I. Teil "Hermeneutische Vergewisserung" überwiegen die europäischen Autoren: A. A. Roest Crollius SJ bringt im 1. Kapitel terminologische Klärungen: "Die ethnologisch-religionswissenschaftliche und missionstheologische Diskussion um En- und Inkulturation". Kap. 2 - "Religionssoziologische und praktisch-theologische Perspektivierung" (sic) - enthält Referate von K. Gabriel ("Ritualisierung in säkularer Gesellschaft. Anknüpfungspunkte für Prozesse der Inkulturation") und V. Drehsen ("Synkretismus ist nicht gleich Synkretismus. Zum Kriterienproblem bei der Anverwandlung des Fremden"). Kap. 3 thematisiert das Verhältnis von Evangelium und Kultur durch zwei systematische Reflexionen aus europäischer bzw. lateinamerikanischer Perspektive (P. Hünermann: "Evangelium und Kultur zwischen Anerkennung und Transformation" bzw. M. de Carvalho Azevedo SJ: "Christentum - eine plurikulturelle Erfahrung"). Auf beide reagiert María Pilar Aquino: "Glaube und Kultur. Eine Antwort", die beide Autoren feministisch anhand der "analytischen Kategorien des soziokulturellen Geschlechts" überprüft (ihren Sexismus-Vorwurf gegen Hünermann gründet sie allerdings nicht auf sein o. g. Referat, sondern auf eine Schrift aus dem Jahre 1989).

Im II. Teil "Praxis der Inkulturation in Geschichte und Gegenwart", dem mit 160 Seiten umfänglichsten des Bandes, kommen dann ausschließlich lateinamerikanische Autorinnen und Autoren zu Wort. Im Sinne einer "historischen Vergewisserung" (Kap. 4) gibt M. M. Marzal SJ einen vorzüglichen Überblick über "Inkulturationsprozesse in der Geschichte Lateinamerikas und seiner Kirche. Von 1492 bis Santo Domingo". Die gegenwärtigen Inkulturationsprozesse werden dann in dreifacher Perspektive behandelt: Praxis und Verkündigung des Glaubens in indigenen Kulturen (Kap. 5), in den afroamerikanischen Kulturen (Kap. 6) und unter den Bedingungen der Großstadt (Kap. 7), - im einzelnen: X. Albo SJ: "Samenkörner des Wortes oder dichtbelaubte Bäume indigenen Glaubens. Inkulturation von außen und innen"; Cl. Acuña Siller: "Inkulturation. Erfahrungen der Indianerpastoral in Mexiko"; J. Lachnitt SDB: "Evangelisierung und Praxis des Glaubens in den indigenen Kulturen"; R. L. Spires: "Identität - Glaube - Kulturen - Inkulturation. ,Wir tragen einen Schatz in irdenen Gefäßen’ (2Kor 4,7)"; sodann L. Hurbon: "Das Christentum, die afrikanischen Religionen und das Problem der Inkulturation"; J. M. Santos: "Inkulturation und Schwarze-Frau-Sein. Eine Lebenserfahrung"; U. Ashley: "Evangelisierung und Glaubenspraxis in afroamerikanischen Kulturen. Zur Rettung der schwarzen Identität" (der Untertitel findet sich nur im Inhaltsverzeichnis); und schließlich M. Salinas: "Evangelisierung und Praxis des Glaubens unter den Bedingungen der Großstadt. Inkulturationsprozesse und Volksreligion in Chile"; A. do Carmo Cheuiche OCD: "Evangelisierung und Glaubenspraxis unter den Bedingungen städtischer Lebensweisen"; Regina M. Manoel: "Die ’Identität’ des Glaubens in den Kulturen".

Der III. Teil "Kontextualität - Identität - Universalität. Weltkirche als Lerngemeinschaft" setzt ein mit dem Thema "Der christliche Glaube vor der Herausforderung der Kulturen - strukturelle Vergleichbarkeiten und mögliche Lernerfahrungen" (Kap. 8); hier liegt das Schwergewicht auf theologischer Reflexion, Kriterien- und Definitionsfragen. Auffällig ist, daß alle Autorinnen und Autoren dieses Kapitels aus Europa stammen: M. Delgado, "Die Rede von Gott im lateinamerikanischen Kontext"; J. Sayer: "Inkulturation und Ekklesiologie/Pastoral/Basisgemeinden"; H.-J. Höhm/ G. Kruip: "Inkulturation. Prozesse der Dekulturation und die Option für die Armen"; M. Eckholt: "Inkulturation und Frauen"; N. Werz: "Inkulturation und Medien". - Den Abschluß bildet Kap. 9 "Kontextualität - Identität - Universalität" mit einem grundlegenden und programmatischen Referat von P. Suess: "Kontextualität, Identität, Universalität. Der Streit um das Inkulturationsparadigma".

Im Anhang finden sich Verzeichnisse über die Autorinnen und Autoren, die Namen aller Personen, die an dem Symposium teilgenommen haben sowie ein Personenregister.

In dem Band sind also sehr unterschiedliche Genera versammelt: Konzentrierte historische Analysen, anschauliche Fallstudien, Erfahrungsberichte, aber auch Definitionsversuche und Begriffsbestimmungen, also sowohl deskriptive wie normative Beiträge. Dabei liegt der Schwerpunkt der lateinamerikanischen Referate auf dem "Narrativen", der der europäischen auf der theologischen, insbesondere der ekklesiologischen Reflexion. Wie hätte das Symposium ausgesehen, so fragt sich der Rez., wenn es in Lateinamerika stattgefunden hätte und den Europäern dabei die Rolle des Berichtens über ihre Inkulturationserfahrungen, den Teilnehmenden aus Lateinamerika (vielleicht unter Einschluß der Pfingstler!) hingegen die Aufgabe der Kriterienbestimmung zugefallen wäre? Aber wie dem auch sei - besonders der Teil II des Bandes vermittelt ein instruktives Bild der sich in Lateinamerika vollziehenden Inkulturationsprozesse, angesichts derer es fraglich erscheint, ob sie überhaupt auf einen Inkulturationsbegriff gebracht werden können. Die entsprechenden Versuche bleiben widersprüchlich. Während etwa einerseits anhand der Begriffgeschichte der historische Zusammenhang von En- und Inkulturation gezeigt wird (17 ff.), kann andererseits die Enkulturation (als kulturell-anthropologischer Prozeß) als das Ziel der kirchlich-pastoralen Inkulturation gefordert werden (176 f.).

Ein häufiger begegnendes Motiv ist das der Unterscheidung einer Inkulturation nach außen und nach innen, erstere verstanden im Sinne der "Evangelisierung der Kulturen", letztere als "Einfluß der kulturellen Traditionen" der Völker auf die Herausbildung einer Pluralität autochthoner "Ortskirchen" (23 f. unter Verweis auf Ad Gentes 22). Wenn hierbei der Akzent auf die Inkulturation "von innen" gelegt wird, "also ausgehend von der religiösen Erfahrung der indigenen Völker selbst" (137), so wird damit "die Tatsache" berücksichtigt, daß jedes indigene Volk, auch wenn es bereits christlich ist, seine Religion (im kulturellen Sinne des Wortes) hat (138). Diese bemerkenswerte Auffassung verschiedener "Religionen" innerhalb des Christentums ist ein Reflex der Situation Lateinamerikas, in der es entgegen mancher Revitalisierungsversuche "unberührte" originäre vorkolumbianische Religionen nicht mehr gibt (so zu Recht auch Delgado); auch sogenannte autochthone Kulturen werden von "Dekulturationsprozessen" erfaßt, vgl. 287. Aber der bei der Beschreibung dieser Prozesse verwendete Religionsbegriff wird nicht weiter reflektiert.

Die synonyme Verwendung von Religion und kultureller Tradition hat aber Konsequenzen für das Verständnis von Identität, worunter weniger die Identität "des" Glaubens verstanden wird, sondern die verschiedenen Identitäten katholischer Christinnen und Christen in Lateinamerika in ihrem individuellen bzw. kollektiven Subjekt-Sein: als Unterdrückte, Indios, Schwarze, Frauen usw. Insofern die Befreiungstheologie die Armen zu ihrer Identität befreien will, wird die Befreiungstheologie als "inkulturierende Leistung der Kirche Lateinamerikas" gesehen, die darauf zielt, die Identität der Kulturen zu verteidigen (vgl. 282) und die Gemeinden als Räume zu entwickeln, in denen Selbstwertgefühl entstehen kann und die Armen, Frauen, Schwarzen, Indios ihre spezifische Identität gewinnen können (vgl. 260 f.).

Daß eine sich aus dem Evangelium verstehende Identität sich unter Umständen auch gegen solche religiös-kulturellen Identitäten richten muß, wird explizit eigentlich nur von Hünermann ("kulturkritisches Moment im Glauben", 57 ff.) und vor allem von Suess thematisiert: "Die Identität des Evangeliums", dessen Wahrheit "in der Person Jesu Christi, dem menschgewordenen Wort Gottes" gefunden wird, "ist anders beschaffen als die Identität von Gesellschaftsgruppen. Die Kulturen sind von dieser Welt, das Evangelium ist in dieser Welt, ohne von dieser Welt zu sein... Die Identität des Evangeliums darf nicht in seinem kulturellen Ausdruck gesucht werden. Ebensowenig geht es um eine genetische oder biologische Identität. Die Tatsache, daß die Identität des Evangeliums und die Identität von Völkern und sozialen Gruppen auf unterschiedlichen Ebenen liegen, bildet die Voraussetzung für eine nicht-kolonisatorische Evangelisierung" (322 f.).

Und es zeigt sich, woher der durch das II. Vatikanum vermittelte "inkulturative Elan" eigentlich stammt und wer ihn lange vor den lateinamerikanischen Inkulturationen theologisch begründet hat: aus den ersten Jahrhunderten der Kirche und den "Topoi der Anfänge des Christentums" ("Vorbereitung auf das Evangelium", "Saatkorn des Wortes"), die einst Justin, Irenäus, Clemens v. A. und Euseb und das Konzil von Chalkedon formuliert haben (319 f.). Das "neue" Paradigma "Inkulturation" - so die Herausgeber (11) - erscheint am Ende der Sache nach als Reaktualisierung des Anfangs. Begriffe sind gelegentlich viel jünger (vgl. 17 ff.) als das durch sie Bezeichnete.