Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

März/2000

Spalte:

305–308

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Leonhardt, Rochus

Titel/Untertitel:

Glück als Vollendung des Menschseins. Die beatitudo-Lehre des Thomas von Aquin im Horizont des Eudämonismus-Problems.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 1998. VIII, 322 S. gr.8 = Arbeiten zur Kirchengeschichte, 68. Lw. DM 168,-. ISBN 3-11-015691-1.

Rezensent:

P. Richard Schniertshauer SJ

Immanuel Kants Bestreitung der ethischen Relevanz des Glücks und die Kritik der lutherischen Theologie an einer eudämonistischen Ethik stellen den Horizont von Leonhardts Rekonstruktion der Lehre des Thomas von Aquin von der beatitudo dar. Insofern ist L.s Arbeit nicht nur eine historische Rekonstruktion dieser Lehre aus rein antiquarischer Absicht, sondern von systematischem Interesse getragen und geleitet. Das Ergebnis der sehr kenntnisreichen und detaillierten Rekonstruktion der thomasischen Position, die sich auf die Summa Theologiae als zentralen Text stützt, aber auch die frühen theologischen Synthesen, das Commentum in Quatuor Libros Sententiarum und die Summa contra Gentiles berücksichtigt, ist, dass die Kennzeichnung der beatitudo-Lehre als eudämonistisch irreführend ist und aus einem für die Neuzeit charakteristischen Missverständnis herrührt.

Die sowohl von Kritikern als auch Apologeten der thomasischen beatitudo-Lehre vorgebrachte These, dass für Thomas das Letztziel menschlichen Handelns und menschlicher Sittlichkeit die eigene Glückseligkeit als Selbstvervollkommnung sei, und dass Gott lediglich ein weiteres, diesem vielleicht sogar untergeordnetes finis ultimus sei, wird von L. überzeugend zurückgewiesen. Unter Verweis auf Summa Theologiae I, 44, 65 und 103 zeigt L., dass die Glückseligkeit des Menschen bei Thomas konsequent theozentrisch verstanden wird. Alle menschlichen Tätigkeiten sind Teil der göttlichen gubernatio mundi, deren Ziel wiederum Gott ist. "Die beatitudo gilt als der dem Menschen bestimmte modus specialis des sich in der gubernatio Dei realisierenden göttlichen Selbstbezugs" (219). Zu Recht verweist L. darauf - der Gedanke findet sich so ähnlich wohl schon bei Irenäus von Lyon -, dass Gottes Ehre sich "gerade in der perfectio hominis verwirklicht." (219) Insofern stehen die beiden Letztziele, die mancher Kritiker bei Thomas konstatiert hat, weder unbezogen noch in einem Konkurrenzverhältnis zueinander, sondern sind innerlich, als Teil des göttlichen Heilsplans, dessen letztes Ziel die Selbstverherrlichung Gottes ist, aufeinander bezogen. Aber sie sind, so L., so aufeinander bezogen, dass die menschliche Glückseligkeit der göttlichen Verherrlichung dient. Glückseligkeit wird nicht zuerst als Erfüllung des menschlichen Strebens und der menschlichen Sehnsüchte verstanden, sondern als Ziel des göttlichen Heilshandelns am Menschen, und von daher auch als Gnadengeschenk, das sich der Mensch freilich dann noch anzueignen hat.

L. geht in diesem Zusammenhang auch auf das heftig diskutierte Problem der Gottesliebe für die beatitudo-Lehre ein. Während der Aquinate nicht leugnet, anders als zum Beispiel Meister Eckhart, dass in der Gottesliebe Platz nicht nur für amor amicitiae und amor concupiscentiae ist, weist er doch der ersteren den Primat zu. Aber in der Gottesliebe darf auch die eigene Glückseligkeit erstrebt werden, was, aufgrund der Struktur des "etwas für jemanden zu wollen" (in diesem Falle für mich) zum amor concupiscentiae gehört. Im eigentlicheren Sinne ist Gottesliebe jedoch amor amicitiae, in der nicht mehr etwas, sondern jemand, und in diesem Falle der Freund (Gott) geliebt und affirmiert wird. "Nicht die je eigene beatitudo steht im Mittelpunkt des amor amicitiae, sondern die Bejahung des göttlichen Heilsplans, unabhängig von der Reflexion auf das bonum privatum." (232) Hier sind wir, wie der kundige Leser wittert, ganz nahe an jener heftigen Kontroverse des 17. Jh.s über die "desinteressierte Liebe", die für sich selber nichts mehr wünscht und will. Wie unabhängig von der Reflexion auf das bonum privatum, und es handelt sich ja nicht um irgendein privat Gutes, sondern um die ewige Glückseligkeit, kann aber die Gottesliebe sein? Beruht die Liebe zu Gott bei Thomas von Aquin nicht doch auf der Voraussetzung, dass Gott dieses bonum privatum, nämlich meine Glückseligkeit, will? Nehmen wir einmal an - eine Annahme, die L. nicht explizit tätigt -, dass Gott in seinem Heilsplan meine Glückseligkeit nicht will. Hätte ich dann noch einen Grund dafür, Gott zu lieben? Man könnte freilich noch auf irgendein bonum universale, ein größeres Gut, verweisen, aber diese Antwort dürfte vermutlich nicht befriedigen und führt zudem halbwegs in einen zweifelhaften göttlichen Utilitarismus. Was meint L. also, wenn er sagt, die Bejahung des göttlichen Heilsplans stehe im Mittelpunkt der Gottesliebe (insofern diese amor amicitiae ist), unabhängig von dem Privatgut der eigenen Glückseligkeit. Was heißt hier "unabhängig"?

Dem Rez. scheint, dass eine solch pointierte und zugespitzte Formulierung bereits auf die weitere Entwicklung verweist, gerade in der darin enthaltenen hypothetischen Annahme, und dem Denken des heiligen Thomas letztlich fremd ist. Darauf verweisen auch L.s Ausführungen zur Neuzeit: Während Glück und Heil beim Aquinaten noch als Einheit gedacht werden, treten sie bereits bei Luther auseinander. Ihren Höhepunkt findet die Kontroverse um die desinteressierte Liebe jedoch in der Auseinandersetzung zwischen Bossuet und Fénelon. Dank der Zuspitzung der thomasischen Position in der Rekonstruktion durch L. erscheint dabei der Aquinate wie ein Vorläufer Fénelons. So verwundert auch nicht L.s recht kategorische Einschätzung - er folgt darin weitgehend der Analyse und Bewertung Robert Spaemanns -, Fénelon sei aus diesem Streit "politisch zwar als Verlierer, moralisch jedoch als Sieger" (267) hervorgegangen. Wie sehr der Leonhardtsche Thomas nach Fénelon schmeckt, mag einer der von Papst Innozenz XII. verurteilten Sätze illustrieren: "In demselben Zustand heiliger Indifferenz wollen wir nichts für uns, alles für Gott. Keineswegs wollen wir, daß wir aus eigenem Interesse vollkommen und selig seien; sondern wir wollen alle Vollkommenheit und Seligkeit, insofern es Gott gefällt zu bewirken, daß wir diese Dinge unter dem Eindruck seiner Gnade wollen." (Denzinger-Hünermann, 2355) Gewiss ist in dieser heiligen Indifferenz der Horror vor dem eigenen Interesse auf die Spitze getrieben und ein Ideal konstruiert, das sich von der Bodenhaftigkeit des aristotelischen Eudämonismus weit entfernt hat. Ob es allerdings so bekömmlich ist, dass man von seinen Vertretern als "moralischen Siegern" sprechen kann, mag bezweifelt werden. Auch im lutherischen Deutschland fiel der Quietismus der Madame de Guyon und Fénelons auf fruchtbaren Boden, nicht zuletzt im Kreis um Herrn von Fleischbein. Wer sich dafür interessiert, mag Karl Philipp Moritz psychologischen Roman "Anton Reiser" zur Hand nehmen. Es sei jedoch warnend darauf hingewiesen, dass der sogenannte Quietismus darin nicht gerade als bekömmlichste Lehre erscheint: "Das ganze Hauswesen bis auf den geringsten Dienstboten bestand aus lauter solchen Personen, deren Bestreben nur dahin ging, oder zu gehen schien, in ihr Nichts (wie es die Madam Guion nennt) wieder einzugehen, alle Leidenschaften zu ertöten, und alle Eigenheit auszurotten."

Mit dieser Charakterisierung des von Fleischbeinschen Haushaltes auf der ersten Seite des Romans ahnt man schon, was dem kleinen Anton Reiser bevorsteht. Eine Injektion von robustem Eigeninteresse auch in die Got-tesliebe wäre vielleicht angesagt gewesen. Spaemann folgend, behauptet L.: "Bossuet, der den aus der Tradition überkommenen Zusammenhang zwischen Natur und Gottesliebe aufrechterhalten will, muß sich den Vorwurf gefallen lassen, daß er genau dadurch das Anliegen der Tradition verfehlt, weil der neuzeitliche Naturbegriff, auf dessen Boden beide Kontrahenten stehen, gerade nicht als Paradigma für die der caritas eigene Selbsttranszendenz taugt." (268) Dies ist wohl nicht das letzte Wort in dieser Sache, was auch überraschend wäre, ist doch das der Theologie wesentliche Problem von Natur und Gnade angesprochen, das vermutlich nie ausdiskutiert werden wird, solange Theologie getrieben wird. Auch wenn man der Gottesliebe und überhaupt jeglicher Liebe (zumindest insofern es sich um caritas handelt) Selbsttranszendenz zubilligt, so bleibt doch die Frage, wie weit diese Selbsttranszendenz geht, genauer gesagt: ob diese bis zu der von L. anvisierten Unabhängigkeit reicht.

Trotz dieser Kritik scheint dem Rez. die grundlegende These L.s, dass die thomasische beatitudo-Lehre nicht eudämonistisch (im Sinne des neuzeitlichen Verständnisses von Eudämonismus) ist, überzeugend präsentiert und begründet. L.s Buch gelingt es, eindringlich zu zeigen, dass sich eine Auseinandersetzung mit der Lehre des Aquinaten von der menschlichen Glückseligkeit nach wie vor lohnt und dass diese nach wie vor genügend Zündstoff birgt.