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Ausgabe:

März/2000

Spalte:

294–297

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Ohme, Heinz

Titel/Untertitel:

Kanon ekklesiastikos. Die Bedeutung des altkirchlichen Kanonbegriffs.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 1998. XVII, 666 S. gr.8 = Arbeiten zur Kirchengeschichte, 67. Lw. DM 298,-. ISBN 3-11-015189-8.

Rezensent:

Bengt Hägglund

Der Begriff Kanon wird in der antiken Literatur vielfältig verwendet. Da er in der heutigen Theologie hauptsächlich in der Bedeutung "Kanon der heiligen Schrift" verwendet wird, muss vielleicht vorausgeschickt werden, dass die vorliegende Arbeit nicht die üblichen und oft diskutierten Fragen vom Prozess der Kanonbildung, dem Umfang des biblischen Kanons und Ähnliches behandelt. Dieser abendländische Sprachgebrauch geht hauptsächlich auf Augustin zurück (482). Die altkirchliche Verwendung des Kanonbegriffs, um die es hier geht, ist vielfältiger und bezieht sich auf mehrere Problemkreise. Von der allgemeinen Bedeutung "Richtschnur, Maßstab etc." her findet der Begriff mehrfache Verwendung im Vorgang der Bekennnisbildung wie auch in der Festlegung kirchlicher Rechtsbestimmungen.

Es gibt schon - in Arbeiten von Herman Oppel und Leipold Wenger - Untersuchungen zur Begriffsgeschichte des Wortes Kanon in der profanen Sprache, wobei die reiche theologische Verwendung bewusst ausgeschlossen wird. Deshalb füllt die vorliegende Arbeit eine Lücke in der Forschung zu diesem Thema, zusätzlich zu ihrer theologiegeschichtlichen Bedeutung.

Unter "Voraussetzungen" informiert der Vf. über die Etymologie des Wortes Kanon, das von einer konkreten Bedeutung als Schilfrohr, Stab, Richtscheit herkommend eine abstrakte Bedeutung bekommen hat: Regel, Maßstab usw., verwandt mit Begriffen wie Gesetz (nomos), Grenze (horos), Kriterium. In Blick auf die außerchristlichen Quellen sind dabei vor allem Texte des Philo von Alexandrien und spätere römische Rechtstexte von Interesse. In der Einleitung werden auch die neutestamentlichen Belege des Wortes behandelt, Gal 6,16 und 2Kor 10,13-16, die scheinbar relativ geringe Bedeutung für die weitere theologische Verwendung hatten.

Der "Hauptteil A" analysiert die theologisch wichtige Verwendung der Begriffe kanon und regula in zentralen Texten des 2. und 3. Jh.s, d. h. bei Irenäus, Tertullian, Klemens von Alexandrien, Hippolyt von Rom, Origenes und Novatian. Hier stehen vor allem die Termini regula veritatis, regula fidei, kanon ekklesiastikos (bei Klemens) im Blickpunkt.

Die Forschungsgeschichte spielt eine wichtige Rolle in dieser Arbeit. Erst wenn der Vf. die früheren Beiträge gründlich geprüft hat, lässt er seine eigenen Ergebnisse zu Worte kommen. Da die Harnack-Schule und ihre Nachfolger die regula fidei und entsprechende Begriffe nur als andere Ausdrücke für das Taufbekenntnis, also als feste Formulierungen für den christlichen Lehrinhalt auffassten, traten diese Begriffe in der Forschung in den Hintergrund. Der Vf. kann zeigen, dass ältere Forscher wie C. P. Caspari und J. Kunze schon früh eine richtigere Deutung vorgeschlagen haben. Sonst schliesst er sich den Forschungen von van den Eynde, Flesseman und van Leer an, die u. a. von einer Unterweisung in der taufvorbereitenden Katechese als Inhalt der regula fidei oder regula veritatis reden (65). Es geht um das, was das Christenleben von Anfang an normiert hat und das als das ursprünglich Offenbarte festgehalten wird. Der Wahrheitsbegriff bezieht sich auf die objektive Tatsächlichkeit der offenbarten Heilstatsachen. "Der Glaube ruht auf wahrhaften Tatsachen", wie Irenäus es ausdrücken kann (66; Epid. 3).

Mit regula veritatis meint Irenäus vor allem die zentralen Glaubenssätze der Gotteslehre, der Christologie und der Soteriologie, was auch direkt mit seiner Auseinandersetzung mit dem Gnostizismus zu tun hat. Schon bei Irenäus bezieht sich aber die regula veritatis gleichzeitig auf die rechte Lebensführung, also auf die Ethik. Das Neue in O.s Analyse, Irenäus betreffend, besteht darin, dass er die "Richtschnur der Wahrheit" so definiert, dass sie "die Bedeutung eines Symbols überschreitet und das gesamte in der Taufkatechese empfangene Kerygma umfaßt, das im Vollzug des Glaubens das Christenleben von Anfang an normiert" (77).

Damit tritt die regula veritatis bei Irenäus historisch gesehen in Verbindung mit dem, was man als "die Katechese der Urchristenheit" genannt hat. Die Definition wird dem gerecht, was Irenäus wie auch Tertullian betonten, dass die regula von Anfang an, d. h. von Christus selbst eingesetzt, in der christlichen Gemeinde überliefert wurde.

Obschon Tertullian - wie J. N. D. Kelly zusammengefasst hat - unter dem Ausdruck regula fidei durchweg das gleiche wie Irenäus unter seinem "Kanon der Wahrheit" versteht, d. h. die Lehre, wie sie in der Kirche durch die Schrift und die Tradition weitergegeben wird (79), so begegnen bei Tertullian noch weitere Fragen, die hier ausführlich erörtert werden. Es wird oft vorausgesetzt, dass die regula fidei bei Tertullian denselben Inhalt wie bei Irenäus hat, d. h. sich auf den objektiven Glaubensinhalt bezieht. Nach einer genauen Analyse des Vorkommens der Begriffe - sowohl in der montanistischen Periode als auch bei dem "katholischen" Tertullian - kann der Vf. zeigen, dass die regula eine erweiterte Bedeutung erhält, so dass die regula veritatis auch die disciplina umfasst, d. h. das Normative für Glaube und Leben der Christen wie auch für die Ordnung der Kirche. Der Begriff disciplina bekommt eine besondere Bedeutung für die Frage der regula bei Tertullian. Dabei handelt es sich nicht um Vorschriften der kirchlichen Instanzen oder ähnliches, sondern eher um eine "regula Dei", d. h. um eine regula veritatis im universellen oder absoluten Sinn (120 f.).

Kanon ekklesiastikos war der Titel einer Arbeit von Klemens von Alexandrien, die verlorengegangen ist. Nach Äußerungen über den Inhalt der Schrift bei anderen Autoren kann angenommen werden, dass es sich in dieser Arbeit vor allem um die authentische Auslegung des Alten Testaments handelt. Übrigens ist bei Klemens viel schwieriger als bei anderen Kirchenvätern festzustellen, was er mit regula fidei, oder entsprechenden Ausdrücken meint. Der Vf. zitiert ein Urteil von E. Molland, "that Clement of Alexandria is one of the most difficult authors in the whole christian literature" (122).

Der Ausdruck kanon ekklesiastikos kann beim heutigen Leser einen fehlerhaften Eindruck erwecken: Als ob es sich dabei um ein von der Kirche errichtetes Regelsystem handele. Im Grunde geht es um den Christusglauben als Anfang (arche) der Wahrheit und um die damit zusammenhängende Auslegung der heiligen Schrift. "Als Wahrheitskriterium rechter Schriftauslegung steht der Kanon der Wahrheit nicht außerhalb der Schrift. Damit folgt auch die Abgrenzung gegenüber Irrlehre, falscher Auslegung der Schrift und falscher Praxis. Der Kanon bezieht sich auch auf die christliche Lebensgestaltung und die kirchliche Ordnung" (154). - Die Analyse von Klemens’ Theologie gehört zu den Höhepunkten dieser Arbeit.

Die weitere Untersuchung des Kanon-Begriffes bei den älteren Kirchenvätern, die auch Hippolyt, Origenes und Novatian betrifft, leitet uns noch weiter weg von der älteren Vorstellung von der Glaubensregel als einer festen Formulierung des Taufbekenntnisses. Was von Origenes gesagt wird, kann als eine Zusammenfassung dienen: "So ist in ,den Kanon’ als Richtschnur die normative Bestimmung all dessen eingeschlossen, was Glaube und Leben der Kirche hinsichtlich ihres Kerygmas, ihres Wandels und ihrer Ordnung betrifft" (215). Inhaltlich geht der Kanon keineswegs über die Schriften hinaus (216).

In Novatians bekannter Arbeit De trinitate wird die regula veritatis als Ausgangspunkt für seine Darstellung der Lehre von Gott dem Schöpfer und Jesus Christus als dem wahren Gott und Menschen genommen. Man hat bisweilen die Arbeit als eine Lehrschrift über die regula veritatis aufgefasst, was jedoch nicht bedeutet, dass er die regula auch in anderen Beziehungen zu Worte kommen lässt. Es handelt sich nur um den Ausgangspunkt für die Gotteslehre und Christologie in Frontstellung gegen Gnosis und andere Formen der Häresie.

Im "Hauptteil B", der die Verwendung des Kanon-Begriffes in den kirchlichen Konflikten und Entscheidungen der ersten drei Jahrhunderte umfasst, behandelt der Vf. u. a. auch die ältesten Belege des Begriffes. Die älteste Berufung auf die "Richtschnur des Glaubens" findet er im Osterfeststreit - in einem Brief von Bischof Polykrates von Ephesus an Viktor in Rom (ca. 189-198). Auch hier bezieht sich der Ausdruck nicht nur auf einen dogmatischen Inhalt, sondern auf das Normative im Leben der Kirche und in ihrer liturgischen Ordnung.

Auch anhand anderer Beispiele aus den ersten drei Jahrhunderten kann festgestellt werden, dass kanon oder regula noch nicht für synodale Beschlüsse verwendet wird, sondern sich auf das Normative im absoluten Sinn für Glauben und Leben in der Kirche, auf das Christusbekenntnis, auf typologische Auslegungsnormen und apostolische Weisungen für die kirchliche Ordnung bezieht. Kirchliche Vorschriften im allgemeinen oder synodale Beschlüsse werden also in diesen älteren Quellen nicht unter dem Begriff kanon ekklesiastikos subsumiert.

Andersartig, komplizierter - und hier und da unklarer - wird die Verwendung des Kanon-Begriffes in den folgenden Jahrhunderten, in der Zeit nach der "konstantinischen Wende". Dieser schwierigen Problematik ist der "Hauptteil C" gewidmet. Zur entscheidenden Veränderung kommt es, als kanon in der pluralen Verwendung kanones beginnt, terminus technicus für Synodalbeschlüsse zu werden.

Man dachte - so auch A. von Harnack -, dass diese Veränderung mit der Nicaea-Synode 325 eintritt. Das ist aber nicht der Fall. In den Nicaea-Akten verwendete man noch den Begriff kanon ekklesiastikos im älteren Sinn für die Richtschnur, die das Evangelium, die Gebote Gottes und die Weisungen der Apostel ausmachen. Dieser Kanon liegt hinter den Synodalbeschlüssen, fällt aber mit diesen nicht zusammen. Der Sprachgebrauch bei verschiedenen Synoden und in anderen entsprechenden Quellen in Bezug auf die Verwendung des Kanon-Begriffes hat der V. genau untersucht. Dass die Synodalbeschlüsse oft als kanones bezeichnet wurden, hatte oft nur formale Bedeutung: bei Hinweisen auf verschiedene rechtliche Bestimmungen. Eine tatsächliche theologische Verschiebung fand erst dann statt, als man die kirchlichen Synodalbeschlüsse, um ihre Autorität zu stärken, als kanones bezeichnete, die direkt apostolischen Anordnungen entsprungen waren.

Die hier gezeichnete Entwicklung bestätigt die Bedeutung der ursprünglichen, auf die prophetische und apostolische Botschaft begründeten Instanz, die als kanon tes aletheias, regula veritatis oder regula fidei von den älteren Kirchenvätern definiert wurde, gegenüber all dem, was die Kirche auf ihren Synoden als Ordnung der Kirche feststellte. Will man diesbezüglich das Ergebnis der Untersuchung kurz zusammenfassen, lässt sich sagen, dass der schon bei Klemens von Alexandrien vorkommende Terminus kanon ekklesiastikos im Lichte der folgenden Entwicklung missverständlich wurde. Es handelte sich nämlich ursprünglich nicht um das, was die Kirche verordnet hatte, sondern um eine fundamentale regula, die vor allen kirchlichen Beschlüssen für Glaube und Leben entscheidend war.

Eine vorbildlich klare, instruktive Analyse kennzeichnet diese Arbeit. Dazu kommt, dass sie durch mehrere kurze Zusammenfassungen leicht überschaubar ist. Das Buch ist mit einem Literaturverzeichnis und fünf verschiedenen Registern versehen.