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Ausgabe:

März/2000

Spalte:

291–294

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Reinbold, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Der älteste Bericht über den Tod Jesu. Literarische Analyse und historische Kritik der Passionsdarstellungen der Evangelien.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 1994. XII, 357 S. gr.8 = Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche, 69. Lw. DM 168,-. ISBN 3-11-014198-1.

Rezensent:

Nikolaus Walter

Die Arbeit von W. Reinbold, eine von Hartmut Stegemann betreute Göttinger Dissertation von 1992/93, für deren verspätete Besprechung ich um Entschuldigung bitten muss, hat sich zwei Ziele gesetzt: die Rekonstruktion des vorsynoptisch-vorjohanneischen Passionsberichts und die historische Auswertung dieses (rekonstruierten) Berichts (und anderer Texte) im Blick auf das Passionsgeschehen selbst. Beide Vorhaben werden klar voneinander getrennt gehalten (20 f.; 215 Anm. 394) und mit stark entwickeltem - wenn auch nicht immer ganz konsequent durchgehaltenem - methodischen Bewusstsein angegangen. Auf eine kurze Einleitung (1-3) folgen die Hauptteile I.: "Quellenkritik: Gewinnung des ältesten Passionsberichtes" (5-215) und II.: "Historische Analyse" (217-317) sowie ein Epilog: "Die behauptete Schuld der Juden am Tod Jesu und die Folgen" (318-325); es folgen Literaturverzeichnis (326-352) und Stellenregister (in etwas knapper Auswahl; 353-357).1

Der zitierte Titel des Epilogs formuliert das von Anfang an (3) keineswegs geheimgehaltene theologisch-hermeneutische Interesse der Arbeit. Das ist ein brisantes, der Aufarbeitung von den verschiedenen Seiten her würdiges Thema - aber zugleich natürlich auch ein leitendes Interesse, das mit der analytischen Arbeit leicht in Konflikt geraten kann. Schon das Vorwort hält fest, die bisherige ",klassische’ Sicht" der Forschung sei die schon in 1Thess 2,15 u. a. angelegte "Behauptung, es sei historisch unbestreitbar, daß faktisch Juden für den Tod Jesu verantwortlich zeichneten" (3). Das Stichwort "Verantwortung, verantwortlich" (für Jesu Tod) spielt denn auch später wieder eine gewichtige Rolle. Darauf ist zurückzukommen.

Der I. Teil beginnt mit einem reich aus der Literatur belegten2 und schon deshalb nützlichen Forschungsbericht (7-21), der als Ergebnis festhält, dass es schon vor Mk einen Passionsbericht (PB) gab und dass nun das Verhältnis der PBe der anderen Evangelien zum vormarkinischen PB geklärt werden müsse, wobei freilich Mt (als klar von Mk abhängig) keine eigene Rolle spielt (R. sieht, gewiss zu Recht, keinen Grund, die bei Mt eingefügten Episoden auf eine durchlaufende Quelle zurückzuführen, 25). Unter "Prämissen" (22-26) stellt er weitere aus der Forschungsgeschichte resultierende Voraussetzungen zusammen, die er nicht mehr eigens begründet.3 Freilich ist mit dem Einsatz bei dem einen PB im Grunde auch schon vorentschieden, dass hernach (70-72) die Möglichkeit, dass neben diesem einen auch ein zweiter, nur von Lk (neben Mk) und Joh (ohne Mk-Kenntnis) benutzter PB existierte, nicht mehr ernsthaft erwogen wird. Auch wenn R. ausführlich das Verhältnis von Joh zu den Synoptikern (27-49)4 und später kurz die Frage nach einem (möglichen) gemeinsamen Sondergut von Lk und Joh (67-70) erörtert, erhält dann nur "das Problem einer besonderen lukanischen Passionsquelle" (Kursive vom Rez.) noch einen besonderen Abschnitt (I.4; 49-72).5 Da die damit gestellte Frage negativ beantwortet wird (71 f.), wird der älteste PB nur noch auf Grund der Übereinstimmungen zwischen Mk und Joh ermittelt. Dies hält die "Methodische Klärung (II)" fest (73-78), wobei das Sigel PB mit "ältester noch erreichbarer Passionsbericht" erläutert wird (73, Anm. 2), während mit den Kürzeln PBMk bzw. PBJoh (analog zu den bei Q eingebürgerten Siglen) die beiden besonderen Rezensionen des PB, die dem Mk bzw. dem Joh vorlagen, bezeichnet werden (74).

Sodann wird "der älteste erreichbare Passionsbericht (PB)" rekonstruiert (I.7; 92-215). Leider kann hier nur eine generelle Charakterisierung gegeben werden. Wichtig ist, dass R. im Grunde nur die "Gestalt" (92) bzw. die Umriss-Struktur dieses PB darstellt, auch wenn in I.7.6 (119-177) auf den ersten Blick der Eindruck erweckt wird, es lasse sich in der Tat der Text des PB in Rekonstruktion vorlegen. Doch macht R. selbst durch die Druckgestaltung (erläutert 119-121) genügend deutlich, dass fast nur einzelne Worte bzw. Wendungen, kaum je ganze (Erzähl-)Sätze für den PB gewonnen werden können; Klammern (für hypothetische Bestandteile des Textes), Fragezeichen und Auslassungpunkte spielen zu Recht eine große Rolle. Die Abschnitte werden je einzeln vorgeführt und die Einzelheiten der Rekonstruktion werden diskutiert; im Allgemeinen wird die Abfolge von Mk 14-15 beibehalten, mit der Ausnahme, dass der "Einzug nach Jerusalem" Mk 11,1-10 gemäß Joh 12,12-19 im Anschluss an den "Todesbeschluss" (Mk 14,1-2/Joh 11,47-57) eingefügt wird (Übersicht 119), nicht jedoch die Tempelaktion Jesu. Freilich werden dabei auch Klippen optisch eingeebnet.

So bleibt vom "letzten Mahl" (Nr. 3) nur eine knappe Erwähnung desselben (nach Mk 14,18) übrig, die nur noch der Ankündigung der Auslieferung und der Petrusverleugnung ihren Platz gibt.6 Und unter Nr. 7 ("Hohepriesterverhör und Petrusverleugnung") erscheint zwar als Versangabe Mk 14,53-72; tatsächlich werden aber auf S. 146 die Verse 55-59 und 63 f. übergangen, was S. 153 mit dem Hinweis darauf, dass nach Joh kein "Prozess" Jesu vor dem Synhedrium stattfindet, begründet wird. So entfällt z. B. die Szene mit den beiden "Falschzeugen" und dem "Tempelwort" (leider ohne Rückverweis auf 113-118) völlig, wie schon zuvor die Erzählung von der Tempelaktion, und es ergibt sich, dass der für die Komposition des Ganzen eigentlich wichtige Abschnitt vorwiegend zu einer Petrus-Erzählung wird - innerhalb einer Erzählung, die ja die Passion Jesu darstellen will, ist das ein Ergebnis, das formgeschichtliche Fragen aufwirft.7 Die Abschnitte 7.7 (178-197) und 7.8 (197-215) behandeln noch einmal formale (Kohärenz, Form, Gattung und Sitz im Leben des PB) und inhaltlich-theologische Fragen. Dabei wird der PB als "Apologie" charakterisiert, die in erster Linie der "Ent-Schuldigung" Jesu, nicht vor allem - "wie häufig zu lesen ist" - der Römer dienen soll (198; laut Anm. 337 eine gängige "Fehlinterpretation", der R. aber dann sogleich und 205-207 ihr relatives Recht zuerkennt), mit dem Effekt der Betonung der Schuld der jüdischen Oberen, denen somit die "Alleinverantwortung für den Tod Jesu" zufällt (198 f.); Jesus selbst wird im PB als "Leidender Gerechter" und "gekreuzigter Messias" dargestellt (199-204). Noch schwieriger wird es dann mit einer Benennung von Intention und Adressaten sowie Ort und Zeit des ursprünglichen PB (205-215); das sieht auch R. selbst so (214 f.).

Der II. Hauptteil bemüht sich um eine sachgerechte Auswertung des so rekonstruierten Berichts (in II.2 werden die neun Szenen des PB einzeln unter historischer Fragestellung diskutiert, wobei R. die zuvor dargestellten apologetischen Absichten des PB aus der historischen Rekonstruktion, methodisch zu Recht, möglichst klar heraushält) und der sonstigen zur Verfügung stehenden Texte und Daten. Auch hier beginnt R. mit einer wiederum dankenswerten Skizzierung der Forschungslage (II 1.1; 219-226); der Ausgangs- und, wie sich dann zeigt, Hauptpunkt ist das Standardwerk Josef Blinzlers ("Der Prozeß Jesu", 1951, 4. Aufl. 1969), dessen Orientierung an der Tendenz der Passionserzählungen der Evangelien er als apologetisch motiviert kritisiert (wohl in gewissem Maße zu Recht), während er den historischen Ergebnissen von Paul Winter ("On the Trial of Jesus", 1961, 2. Aufl. 1974) "mehr Beachtung" verschaffen möchte (222).

Es ist in der hier gebotenen Kürze nicht möglich, die historischen Schlussfolgerungen R.s im Einzelnen zu diskutieren. Vielmehr muss ich mich darauf beschränken, noch einmal auf die schon eingangs erwähnte Rede von der "Verantwortung für den Tod Jesu" zurückzukommen, die im Ertrag der historischen Untersuchung besonderes Gewicht gewinnt. So wird etwa die Notiz des Tacitus (Ann. XV 44) mit der Bemerkung versehen, dass dieser "den historisch zutreffenden Schluß zieht und ... die alleinige Verantwortung des Pilatus für den Tod Jesu festhält" (304; ähnlich zu Josephus); damit ist aber die hier noch als das "eigentliche Problem" benannte Frage "ob und wenn ja: wie jüdische Instanzen am Verfahren gegen Jesus beteiligt waren" (ebd.) schon präjudiziert: wenn ja, dann doch ohne "Verantwortung" für das Weitere. Das wird dann im Schlussabschnitt II.5 im Einzelnen erörtert, mit dem schon zuvor zitierten, jetzt noch verstärkt formulierten Ergebnis: "Die Verantwortung für den Tod Jesu lag allein und ausschließlich bei dem zuständigen römischen Präfekten Pontius Pilatus" (309); eine besondere Rolle spielt dabei das quellenkritische Ergebnis, dass "eine Verhandlung vor dem Synedrium ... historisch nicht stattgefunden" habe (ebd.; das ist weit mehr, als wenn nur festgestellt würde, dass wir über sie keinen zuverlässigen Bericht besitzen!).

Es ist klar, dass es sich hier um eine höchst sensible Frage, zumal im Kontext des Dialogs mit Israel, handelt. Und ebenso klar ist es, dass die schon bei Mk sichtbare Tendenz, Pilatus in seiner Verantwortung zu entlasten (s. oben), später (schon seit Mt) immer mehr zu der Sicht führte, allein die jüdischen Oberen (oder dann gar "die Juden") seien schuld am Tode Jesu. Nun ist gewiss, dass Pilatus für die Hinrichtung Jesu und insbesondere für die Todesart, also die Kreuzigung, verantwortlich ist. Aber auch das ist wohl auch durch R. nicht in Frage gestellt,8 dass Pilatus seine Verfügung nicht aus sich heraus traf, sondern weil sie ihm - auf welche Weise auch immer - seitens der jüdischen Oberen nahegelegt und insofern auch von diesen erwartet wurde. Kann man dann aber sagen, dass sie keinerlei "Verantwortung" für das Geschehen hatten? Nur: Dem ist sofort die Frage hinzuzufügen, warum sie einen solchen Ausgang anstrebten. Und da fallen solche Scheinlösungen wie "Justizmord" oder "Neid auf den öffentlichen Anklang Jesu" (die R. keineswegs im Sinne hat!) oder noch andere Motive aus, die geeignet sind, die religiöse Integrität der jüdischen Oberen in Frage zu stellen.

Der logische Fehler bei R. liegt m. E. in dem von ihm befolgten Nicht-Sondern-Schema. Jesus hatte mit seinem Wirken (in Wort und Tat) wesentliche Anschauungen, die für das Judentum seiner Zeit ebenso selbstverständlich wie verpflichtend waren, in Frage gestellt: die genau definierte Geltung der Tora-Weisungen und die sakrosankte Geltung des Tempelkults. Dass im einen Fall stärker die Pharisäer, im anderen stärker die Sadduzäer reagierten, ergibt sich aus der Sache (und ist auch in der vorsynoptischen Überlieferung noch erkennbar). Beide Gruppen hatten Anlass, sich den Störenfried vom Halse zu schaffen, sofern und weil sie nicht bereit waren, ihn als gottgesandten Propheten anzuerkennen. Nicht die Sorge um den "Machterhalt" ist ihnen als Motiv zu unterstellen, sondern die Ernstnahme ihres "Wächteramts" für die Sache Gottes in der gegenwärtigen Situation, die unter den Bedingungen der römischen Besatzung schon heikel genug war. Verunsicherungen, die noch aus dem eigenen Volk dazukamen, konnte man da kaum gewähren lassen. Und wenn es keinen anderen Weg gab, den Störer loszuwerden, als den, die römische Obrigkeit einzuschalten, so musste wohl dieser Weg begangen werden. Das Stichwort "Verantwortung" wird durch diese Überlegungen nicht außer Kraft gesetzt; es erweist sich aber als Bezeichnung für einen sehr vielschichtigen Sachverhalt, der einen fundamentalen sachlichen Konflikt (zwischen den jüdischen Maßgebenden und Jesus), den Jesus nicht anstrebte, aber sehr wohl voraussehen konnte (liegt dann nicht auch bei ihm eine "Verantwortung" dafür?!), und eine politische Zwangslage umfasst.

Die Besprechung konnte manchen Vorzügen der Arbeit R.s nicht wirklich gerecht werden, insbesondere nicht seiner intensiven, immer wieder die verschiedenen exegetischen Möglichkeiten durchdenkenden Bearbeitung der einzelnen Textabschnitte. Jeder, der sich mit den literarischen Fragen zu den Passionserzählungen der Evangelien und zum historischen Vorgang von Passion und Kreuzestod Jesu befasst, wird von der genauen Beachtung der von Reinbold vorgelegten Arbeit reichlichen Gewinn haben, auch dann, wenn er manche Probleme anders sieht als ihr Autor.

Fussnoten:

1) Einigermaßen frustrierend ist der Umstand (der wohl vorwiegend der Betreuung im Verlag anzulasten ist), dass R. Querverweise innerhalb seiner Arbeit verständlicherweise mit Abschnittszahlen (nicht immer komplett) vornimmt, dass diese aber in den Seitenüberschriften völlig fehlen, wobei zudem noch störend wirkt, dass über lange Partien hin (22-26; 92-215; 282-290; 304-325) die linken und die rechten Seitenüberschriften vertauscht stehengeblieben sind, vermutlich zufolge einer Last-Minute-Umstellung der Seiten.

2) Es fällt (dem Rez. keineswegs unangenehm) auf, dass R. die heute oft abschätzig so eingestufte "ältere" Formgeschichte (Bultmann, Dibelius) nicht nur zitiert, sondern in ihren Anliegen ernst nimmt.

3) Niemand in unserer Zunft lebt und arbeitet ohne "ererbte" oder selbst ausgebaute Hypothesen, die er nicht mehr hinterfragt. Beispielshalber sei nur erwähnt, dass R. als eine seiner Prämissen festhält, dass "die Existenz der Logienquelle "Q" ... als gesichert gelten" kann (23), m. E. durchaus mit Recht. Auch dass es sich bei Q um eine Logiensammlung in Analogie etwa zum EvThom handelte, ist m. E. richtig. Doch wird es dann fragwürdig, wenn R. ihr - wie es ja viele Kollegen tun - ohne weiteres auch Logien des Täufers Johannes (als Beginn der Sammlung!) zuordnet.

4) Dazu inzwischen erschienen: Manfred Lang, Johannes und die Synoptiker. Eine redaktionsgeschichtliche Analyse von Joh 18-20 vor dem markinischen und lukanischen Hintergrund, Göttingen 1999 (FRLANT 182).

5) Methodisch wirklich bedenklich erscheint mir, dass R. hier mit besonderem Nachdruck (aber auch sonst öfter) "vor Beginn der Analyse" die "Beweislast festzulegen" sucht, "die" (gemeint ist wohl: deren Festlegung) "entscheidenden Einfluß auf das Ergebnis hat" (50). Hier kann ich leider nur sagen: Eben!

6) Es ist sicher richtig (und kaum strittig), die Herrenmahlkultformel Mk 14,22-24 als (mk-redaktionelle) Einfügung aus dem PB herauszunehmen (84-86); aber dass dazu auch V. 25 gehört, wird undiskutiert vorausgesetzt - m. E. zu Unrecht.

7) Meines Erachtens ist hier eine ursprünglich selbständige Petrus-Erzählung eingearbeitet; vgl. "Die Verleugnung des Petrus", in: Theologische Versuche 8, Berlin 1977, 45-61.

8) R. kommt zu den Ergebnissen, dass sowohl "Der Grund der Anzeige bei Pilatus" als auch "Der Anlaß zur Gefangennahme" "unbekannt" seien (311 u. 312); letzterer sei am ehesten in der Tempelaktion Jesu zu suchen (313); aber "faktisch tappen wir historisch völlig im Dunkeln" (ebd., bei R. kursiv).