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Ausgabe:

März/2000

Spalte:

285–287

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Kerner, Jürgen

Titel/Untertitel:

Die Ethik in der Johannes-Apokalypse im Vergleich mit der des 4.Esra. Ein Beitrag zum Verhältnis von Apokalyptik und Ethik.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 1998. XI, 316 S. gr.8 = Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche, 94. Lw. DM 188,-. ISBN 3-11-016152-4.

Rezensent:

Martin Karrer

Lange fiel der Forschung der Zugang zu apokalyptischer Ethik schwer; wo angesichts des Endes des alten Äon die Geschichte verlorengehe - wie man Apokalyptik skizzierte -, blieb kein Raum für Ethik (vgl. z. B. W. Schmithals, Die Apokalyptik, 1973, 35 f.81 ff.). Die Erschließung, die danach begann (vgl. Chr. Münchow, Ethik und Eschatologie, 1981), wurde rasch durch eine Krise über die Definition von Apokalyptik überdeckt (späte 70er/80er Jahre; von K. 1,4 u. ö. zu knapp angesprochen). Als die Krise in den 90er Jahren allmählich ausklang, tat sie das ohne abschließende Lösung und ohne dass bislang eine übergreifende Studie zum Thema entstand. In Anbetracht dessen ist durchaus angebracht, Apokalyptik- wie Ethikforschung durch eine Fallstudie zu Einzeltexten voranzutreiben. Die Aufgabenstellung K.s in seiner vorliegenden, zum Druck überarbeiteten Mainzer Dissertation (von E. Brandenburger angeregt, O. Böcher betreut) steht zur Behandlung an. Auch die Auswahl von Offb und 4Esr lässt sich begründen. Denn herkömmlich erscheinen die beiden Schriften einander in Datum und Staatsethik nahe (4 u. ö.). K. überträgt zudem die an 4Esr gewonnene Definition Brandenburgers, eine Apokalypse sei "eine Offenbarungsschrift ..., die in einer verschlossen erscheinenden Weltsituation ... himmlisches Offenbarungswissen vermittelt; und zwar als geheime ... Weisheit, welche die Welt von ihrem Ende her entschlüsselt und auf dies Ende in Heil und Unheil hin orientiert" (33 nach E. Brandenburger, Die Verborgenheit Gottes im Weltgeschehen, 1981, 9), auf die Offb (34-38). Er baut seine Arbeit nach der Einführung in die Teile Ethik der Offb (13-162), Ethik des 4Esr (163-285), Vergleich und Schluss (286-304) auf.

Allerdings vermisst der Leser eine Gegenprüfung der Ausgangsdefinition an im strengen Sinn formalen Kriterien. K. wehrt eine solche Orientierung sogar ausdrücklich ab (32). Entsprechend ignoriert er die grundlegenden Forschungsbeiträge von J. J. Collins ed., Semeia 14, 1979 bis ders./J. Ch. Charlesworth ed., Mysteries and Revelations, 1991 (die Lücke in der Bibliographie erstreckt sich weiter auf Hellholm u. a.). Das schränkt die Benützbarkeit seiner Erörterungen in der internationalen Diskussion ein.

Eine Nebenfolge ist die relativ geringe Beachtung der formalen Zusammenhänge, in denen die ethischen Impulse unserer Texte stehen. K. stellt den Ort von Vorwurf-Umkehr-Zusage-Abschnitten, Lasterkatalogen, Makarismen etc. (vgl. 48, 65, 144 u. ö.) in der jeweiligen Formen-Geschichte ins zweite Glied. Überhaupt verzichtet er auf einen Überblick über frühjüdische und frühchristliche Ethikgeschichte, der die Einbettung und Eigenart unserer Schriften am Übergang zum frühen Rabbinentum (relevant für die von K. 177 ff. beobachtete zentrale Rolle des Gesetzesgehorsams bei 4Esr) bzw. zur alten Kirche (bei der Offb; man denke z. B. bei 2,14.20 an die langdauernde Distanz zu Fleisch aus paganen Opfern) schärfer konturierte. Die Darstellung normativer Entscheidungen an Linien des Dekalogs (Begründung 11 f., zur Offb 52-78, zu 4Esr 182-202) gleicht das schwerlich aus, da der Dekalog in unseren Texten keine zentrale Gliederungsrolle spielt (so nach K. in der Offb das 3. und 5., in 4Esr das 2. Gebot gar nicht berührt werden).

Ethik und Apokalyptik sprechen in aktuelle Zeit. Darum kommt den historischen Verortungen beträchtlicher Rang zu. K. entscheidet sich dafür, die Offb sei ca. 95 durch einen prophetischen Autor angesichts einer partiellen, aber scharfsinnig erkannten Verfolgungssituation für Christen in Kleinasien entstanden, 4Esr (im verlorenen hebräischen Text) gleichfalls ca. 95 durch einen Vertreter apokalyptischer Weisheit aus dem weniger bedrängten Judentum wohl in Palästina (13-32, 102, 163-175, 276). Bis in die Gliederung des 4Esr sind gute Anregungen Brandenburgers unverkennbar. Umgekehrt vernachlässigt K. - obwohl er die jüngeren Korrekturen am Domitianbild teilweise mitvollzieht (276, ungenauer 18) - die harschen religionssoziologischen Analysen L. L. Thompson’s zur Offb (Apocalypse and Empire, 1990), die Konsequenzen für beide Texte haben könnten. Wer eine Auseinandersetzung mit der Frage sucht, ob apokalyptische Ethik nicht Zeitwahrnehmung ideologisiert (und außerdem etwa die jüngsten Irritationen über das Datum der Offb stärker berücksichtigt finden will), stößt auf eine neuerliche Einschränkung der Studie. Die Beobachtung, 4Esr und Offb erwarteten trotz unterschiedlich bedrohlicher Situation eine Verschärfung von Terror und Bosheit und stifteten Vertrauen dagegen durch die Erwartung eines Untergangs Roms, verbunden mit quietistisch-ethischen Akzenten (4Esr; 203-226) bzw. aktiver Subversion bis hin zu einer Teilhabe am eschatologischen heiligen Krieg (Offb; 93-107, ohne Benützung von R. Bauckham, The Climax of Prophecy, 1993, 210-237), ruft nach hermeneutischer Reflexion (über 291 u. ö. hinaus).

Was gelingt K. mit seinem Ansatz? Er findet begründet ein beträchtliches ethisches Interesse in der Offb um die Hauptlinie eines Bestehens in Verfolgungssituation und das Hauptgebot (vgl. 303) der Treue zu Gott zwischen präsentisch gültiger Erlösung in Christus und futurischer Vollendung. Die Gemeinde hat ihren "präsentischen Heilsbesitz" in ihren Taten ("erga"/ "Werken"; vgl. 135 ff.) zu bewahren (123) und darf in keiner Weise den Sünden (die die Offb mit den widergöttlichen Größen verbindet) verfallen (128 ff.). Eine Verfehlung fordert radikale Umkehr (keine ermäßigte Buße o. Ä.; 134). K. zieht diese Linie dazu aus, die Werke erhielten verdienstliche Züge (141), und letztlich verdränge der Imperativ den Heilsindikativ, ein wichtiger Diskussionsanstoß (nach S. Schulz, Neutestamentliche Ethik, 1987, 543).

In 4Esr liegen die Schwerpunkte laut K. auf dem Halten - Erfüllen und Bewähren - des heilswirksamen Gesetzes auf das kommende Eschaton hin (während die präsentische Eschatologie keinen Rang erhalte; 252 ff.). Esra ist mit seinem Gesetzesgehorsam "Vorbild und Beispiel des weisen Gerechten" (277), und in strenger, werkorientierter Ethik dominiert der Heilsimperativ klar über den Indikativ (284 f. u. ö.). Eine Sonderethik entsteht nicht; vielmehr wird weitgehend die allgemeine jüdische Ethik vorausgesetzt und auch durch die Messianologie eingeschärft (285 nach 281 u. ö.).

Aufgrund der Anlage der Arbeit erfahren manche Aspekte nur knappe Behandlung, so in der Offb die Herausforderung durch die Nikolaiten (nach K. Vertreter hellenistischen Rationalismus, nicht Vorläufer der Gnosis; 21), in 4Esr die Ausführung zum Gesetz in 9,31-37. Der Nachweis, dass apokalyptische Texte Ethik enthielten - ein Ziel seiner Arbeit -, gelingt K. Schwieriger verhält es sich mit der Frage, ob wir von einer genuin apokalyptischen Ethik sprechen dürfen. Obwohl K. dazu tendiert (bis zum Ergebnis 303 f.), scheint auch die Lösung möglich, beide Schriften partizipierten an der allgemeinen jüdisch-christlichen Ethik der Zeit und setzten darin je aufgrund ihrer theologischen Anliegen und Situationen Akzente. K. findet in seiner Analyse selbst um den Kern einer "apokalyptischen" Ethik der Treue in verschlossener Weltsituation wesentliche Unterschiede (von der höheren Gewichtung der präsentischen Eschatologie in der Offb bis hin zu ihrer aktiven Resistenz gegenüber der quietistischen Neigung des 4Esr). Ein wichtiges Thema ist angerissen, ein ab-schließendes Ergebnis weiter zu erwarten.

Die Bibliographie ist, wie vermerkt, unvollständig (man ergänze noch zum wichtigen paränetischen Motiv des Siegens in beiden Schriften J.-W. Taeger, ZNW 85, 1994, 23-46 u. a.). Register fehlen.