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Ausgabe:

März/2000

Spalte:

284 f

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Iersel, Bas M. F. van

Titel/Untertitel:

Mark. A Reader-Response Commentary.

Verlag:

Sheffield: Sheffield Academic Press 1999. 556 S. gr.8 = Journal for the Study of the New Testament, Suppl. Series 164. Lw. £ 55.-. ISBN 1-85075-829-8.

Rezensent:

Petr Pokorny

Der Vf. legt einen Kommentar neuer Art vor, der etwa wie die Monographie über die lukanischen Schriften von R. C. Tannehill (The Narrative Unity of Luke-Acts I-II, 1990) das Markusevangelium vor allem als ein literarisches Ganzes untersucht. Im Unterschied zu Tannehill und an die schon zwanzig Jahre wirkende Tradition der vor allem aus dem französischen und englischen Sprachraum stammenden Arbeiten dieser Art anknüpfend (s. die Liste S. 16, Anm. 1), berücksichtigt er stärker den ursprünglichen Leser (authorial reader). Die Deutung macht die heutigen Leser auf die Interaktion zwischen dem Text und dem ursprünglichen Leser, d. h. praktisch dem Hörer, aufmerksam. Seinen Kommentar hat I. durch mehrere Einzeluntersuchungen und durch eine kurze literarhistorische Auslegung vorbereitet.

Im Unterschied zu den strukturalistischen Kommentaren, die die Tendenz haben, die sukzessive Textgestalt der Erzählung zu dekomponieren, um die tragenden Strukturelemente zu entdecken, folgt der leserorientierte Kommentar von I. kontinuierlich dem Text. In dieser Hinsicht ist er den traditionellen kritischen Kommentaren ähnlich, die die Gestalt der Homilie behalten haben, wenn sie sie auch grundsätzlich durch die historische Stratifikation relativieren. In diesem Sinne ist der vorliegende Kommentar eine angenehme Überraschung. Sein größter Teil ist der sukzessiven und gut lesbaren Deutung gewidmet.

Nach der eingeweihten Diskussion über die Rolle des Lesers im ersten Kapitel, in dem mir allerdings eine kritische Auseinandersetzung mit dem inspirierenden Werk von H. R. Jauss fehlt, werden im zweiten Kapitel die Fragen besprochen, die in die klassischen Einleitungen gehören und sowohl neues Material als auch neue Argumente für die Thesen bringen, die mehr oder weniger zum gegenwärtigen Konsens gehören: Um 70 (vielleicht doch nach 70) und wahrscheinlich in Rom entstanden, ist das Markusevangelium in einer mindestens indirekt apologetischen Absicht verfasst worden. Eine gewisse Spannung folgt aus dem Gegensatz zwischen dem nichtjüdischen Hintergrund der Adressaten, denen der Verfasser jüdische Bräuche oft erklären muss (z. B. 7,2-5), und der Kenntnis der Septuaginta, die er bei ihnen voraussetzt.

Die Beziehung zur jüdischen Bibel wird im dritten Kapitel untersucht, besonders die Psalmenzitate und die Parallelen zwischen den Geschichten über Elia und Elisa auf der einen und über Jesus auf der anderen Seite. Diese Intertextualität ist für das Verständnis des Markusevangeliums konstituierend.

Typisch für diese Art des Kommentars ist das vierte Kapitel, das der Komposition gewidmet ist. Auf der einen Seite beschreibt es die chiastische bzw. konzentrische Gestaltung der einzelnen Erzählungen, die z. T. zu der inneren Logik der Volkserzählung gehört, auf der anderen die bewusste Strukturierung des Ganzen, die der Vf. zur Unterstreichung der Grundaussagen des mittleren Teiles (8,22-10,52) benutzt. Es handelt sich nur um einen relativen Chiasmus, denn der erste Teil handelt in Galiläa, der zweite in Jerusalem, so dass die lineare Dimension doch die entscheidende ist.

Die übrigen Kapitel (5-16) sind dem sukzessiven Kommentar gewidmet. Das Evangelium wird in drei Teile geteilt. Nach dem Prolog (1,1-15) kommt der erste Teil, der sich in Galiläa abspielt (1,16-8,21), dann der schon erwähnte mittlere Teil, der nach I. in der zweiten Leidensankündigung gipfelt (9,30-32), und zuletzt der Jerusalemer Teil (11,1-15,39), nach dem der schon mit 15,40 einsetzende Epilog (bis 16,8) folgt. Das entscheidende Ereignis, die Auferstehung, wird nicht erzählt, sie wird zwischen 15,47 und 16,1 vorausgesetzt und in 16,6 durch das äÁÚË bezeugt. Das Buch endet mit einer kurzen Bemerkung über den Sinn des offenen Schlusses (ein offener Raum für das [Schuld]Bekenntnis des Autors und der Leser) und den sekundären Charakter von 16,9-20.

Der erste Eindruck ist, dass der vorliegende Kommentar nicht so neu ist, wie es der Untertitel andeutet. In der sukzessiven Kommentierung werden auch die historischen Fragen behandelt, und die Gliederung des Textes, die sich von den übrigen Kommentaren unterscheidet, ist nicht ein zwingender Ausdruck der neuen Methode. Das ist eher die Übersichtlichkeit und gute Lesbarkeit des ganzen Kommentars, der mehrere Probleme offen lässt, um dem Leser eine eigene Urteilsbildung zu ermöglichen.

Es ist schwer zu sagen, ob diese Art von Kommentar das Modell der Zukunft ist. Allerdings handelt es sich um einen bedeutenden Impuls, der jedoch gerade in seinem methodischen Ansatz einige Inkonsequenzen aufweist. In dem umfangreichen Literaturverzeichnis fehlt die Studie von Ph. Vielhauer, die die Rolle des Gottessohn-Titels deutlicher erkennen ließe. Vor allem fehlt eine umfassende Darstellung des "zweiten Plans", der in mehreren Perikopen deutlich hervortritt, bzw. der Strategie der anagnorisis. Im Ganzen handelt es sich allerdings um einen erfrischenden Versuch, den Kommentar als einen kontinuierlichen Meta-Text zu gestalten, der relativ viele Informationen bietet und doch nicht zu einer wenig übersichtlichen Materialsammlung wird, wie das in einigen Kommentaren der großen Reihen der Fall ist.