Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

März/2000

Spalte:

282–284

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Hock, Ronald F., Chance, J. Bradley, and Judith Perkins [Eds.]

Titel/Untertitel:

Ancient Fiction and Early Christian Narrative.

Verlag:

Atlanta: Scholars Press 1998. VIII, 317 S. gr.8 = Society of Biblical Literature. Symposium Series, 6. Lw. $ 49.95. ISBN 0-7885-0431-2.

Rezensent:

Eckart Reinmuth

Auf Initiative von Charles W. Hedrick trat 1992 eine Arbeitsgruppe der SBL zu den Beziehungen zwischen pagan-antiker, frühjüdischer und frühchristlicher Erzählliteratur zusammen. Interdisziplinäre Zusammenarbeit, insbesondere mit klassischen Philologen und Altertumswissenschaftlern, war von Anfang an gegeben.

Der vorliegende Band, der Ergebnisse dieser Zusammenarbeit enthält, stellt eine Vielzahl von Einsichten und Fragen zum Verhältnis zwischen frühchristlicher und hellenistischer Erzählliteratur in den Mittelpunkt, und zwar - im Unterschied zur älteren Forschungsgeschichte, deren z. T. wegweisende Positionen und Ergebnisse kaum erwähnt werden - nun unter veränderten methodischen (v. a. narratologischen, rezeptionstheoretischen, ethnologischen und historisch-anthropologischen) Gesichtspunkten. Der Band enthält drei Teile: Ancient Fiction (sechs Beiträge zur antiken Erzählkunst und -theorie, u. a. zu Chariton, Xenophon von Ephesus und dem anonym überlieferten Leben Äsops), Ancient Fiction and the New Testament (ein engagierter Beitrag des Hrsg. Ronald Hock zur Bedeutung des Forschungsgegenstandes für die neutestamentliche Wissenschaft, drei Beiträge zum Markusevangelium sowie je einer zu Johannesevangelium, Apostelgeschichte und Paulus), Ancient Fiction and Extracanonical Christian Narrative (Zwei Beiträge zur apokryphen Acta-Literatur) - es sind also allgemeine mit speziellen Fragestellungen vermischt.

Die ersten beiden Beiträge haben einführenden Charakter. David Konstan (’The Invention of Fiction’, 3-17) versucht, das Stichwort ’fiction’ als zusammenfassenden Terminus für die antike narrative Unterhaltungsliteratur zu definieren. Mit ihrer Entstehung trete das Phänomen fiktionaler Literatur (im engeren, angelsächsisch geprägten Sinn) erstmals auf. Freilich bedarf diese weitgehende These einer umfangreicheren, auch die ältere Literatur wie etwa den Ninos-Roman einbeziehenden Begründung. Die in diesem Zusammenhang unerlässliche Verhältnisbestimmung zur antiken Historiographie wird über die Unterschiedlichkeit der Referenzen beschrieben (5 f.): Konstan geht davon aus, dass historiographische Literatur sich auf tatsächliche oder zumindest für wahr gehaltene Ereignisse bezieht, über deren kulturell gesicherte Kenntnis die Wahrheit oder Unwahrheit ihrer Darstellung entschieden werden könne, während dies in der Romanliteratur in der Regel nicht der Fall sei ("suspension of referentiality in fiction", 6). Eben dies ermögliche den Kontrakt (vgl. das Stichwort "fictional contract", 7 u. ö.) kollektiven Verstehens "according to which the habit of reference is curbed or inhibited" (7). Historiographie, epische, tragische und lyrische Literatur fallen unter diesem Gesichtspunkt nicht unter die Geltung eines solchen ’fictional contract’. Ein Vorschlag, der im Blick auf die fragliche Literatur (z. B. ihre historiographischen Elemente, etwa die genealogischen Hintergründe mancher Hauptpersonen u. ä., die ja gerade mit entsprechenden Elementen neutestamentlicher narrativer Literatur vergleichbar sein sollen) kaum ungeteilte Zustimmung finden wird (vgl. den Definitionsversuch, 15).

Gareth Schmeling fragt, was die Autorität des (auktorialen bzw. allwissenden) Autors in der antiken Erzählung begründet. Gerade im Vergleich mit der historiographischen Literatur wird deutlich, daß jede definitorische Differenzierung angesichts des beiderseitigen Bezugs auf ,Realität’ und der Weise seiner narrativen Gestaltung und literarischen Absicht lediglich relativ sein kann (26). Aus dieser Einsicht ergibt sich der Versuch, die graduellen Unterschiede erzählerischer Fiktionalität graphisch darzustellen (29; Beispiele aus der Zeit zwischen dem 1. Jh. v. Chr. bis 5. Jh. n. Chr.). Schmeling schließt mit der m. E. tragfähigen Feststellung: "ancient narrative is a medium which binds together history, biography, and the novel and determines the basic nature of certain literary forms" (28).

Der Band eröffnet ungewohnte Perspektiven auf neutestamentliche Erzähltexte, die indessen in recht unterschiedlichem Maße überzeugen.

Insbesondere die wenig reflektierte Unterschiedlichkeit zwischen der überwiegend aufgeklärt-ironischen Atmosphäre hellenistischer Unterhaltungskunst und den theologisch motivierten Diskursen neutestamentlicher Texte lässt die Reichweite manch beobachteter ,Parallele’ fraglich erscheinen, insbesondere dort, wo sich spielend Analogien aus frühjüdischen Texten beibringen lassen (z. B. zu 219-234). Da eine diesbezügliche Verhältnisbestimmung ausbleibt - selbst da, wo es um christologische und anthropologische Konzepte geht (z. B. 126.129-137), stellt sich leicht der Eindruck der Unschärfe und mangelnde Ausgewogenheit ein. Dazu kommt die Problematik, die sich aus den zwar mehrfach angesprochenen (vgl. z. B. 13.124.219.253), aber nicht systematisch diskutierten Datierungsfragen der überwiegend jüngeren hellenistischen Erzähltexte im Blick auf ihre Verwertbarkeit für neutestamentliche Texte (inkl. Paulus: 235-256) ergibt.

Im Mittelpunkt steht ein ,Kanon’ (122; vgl. 219) von fünf intakten griechischsprachigen Liebesromanen (sowie einige Fragmente und weitere Texte): Chariton, Chaereas und Calli-rhoe; Xenophon von Ephesus, Ephesiaca; Longus, Daphnis und Chloe; Achilleus Tatius, Leucippe und Kleitophon; Heliodor, Aithiopica. Texte wie diese ermöglichen im Sinne der ,dichten Beschreibung’ (Clifford Geertz) Einblicke in die kulturellen Realitäten der antiken Mittelmeerwelt, die den Horizont der frühchristlichen Schriften und ihrer Rezipienten bilden. Gerade für die Rekonstruktion der antiken Rezeption einer frühchristlichen Schrift zeitigt etwa der Beitrag von Melissa Aubin (’Reversing Romance? The Acts of Thecla and the Ancient Novel’, 257-272) interessante Ergebnisse, die zeigen, dass die Stärke des gewählten Ansatzes v. a. in der weiteren Erhellung der antiken Rezeptionsmöglichkeiten frühchristlicher Texte liegen wird. Die vorliegende Aufsatzsammlung stößt in dieser Hinsicht wichtige Fragen in konstruktiver Weise an.