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Ausgabe:

März/2000

Spalte:

273–275

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Schäfer, Rolf

Titel/Untertitel:

Die Poesie der Weisen. Dichotomie als Grundstruktur der Lehr- und Weisheitsgedichte in Proverbien 1-9.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 1999. XIV, 320 S. gr.8 = Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament, 77. Geb. DM 128-. ISBN 3-7887-1666-5.

Rezensent:

Jutta Krispenz

Das Buch der Sprüche hat über lange Zeit weniger exegetische Aufmerksamkeit erhalten als die meisten anderen Bücher des AT. Seit einigen Jahren wurden allerdings vermehrt Untersuchungen zum Sprüchebuch publiziert, wobei die Arbeiten zur ersten Sammlung des salomonischen Sprüchebuches nicht selten von feministisch-theologischem Interesse getragen waren und mit einem bestimmten thematischen Interesse an die ersten Kapitel des Sprüchebuches herangingen.

Die von S. Mittmann betreute und 1996 in Tübingen angenommene Dissertation von Rolf Schäfer schlägt eine andere Richtung ein. S.s Untersuchung will die Texte mit Hilfe ihrer Struktur entschlüsseln. Zur Begründung für diese Art des Herangehens beruft S. sich auf R. Jakobson und vor allem J. M. Lotman, der u. a. die Vorraussetzung für S.s Vorgehen - dass die Aussage des poetischen Textes sich nur in einer bestimmten Struktur ausdrücken kann - in stringenter Weise formuliert hat (4, Anm. 17). S. stellt Lotmans Verständnis des literarischen Textes im Rahmen seiner nur acht Seiten umfassenden "Einleitung" dar in einem Abschnitt zu "Ziel und Methode" (1-7). Diese Darstellung leidet nach Ansicht der Rezn. an zwei Verkürzungen: Den Gedanken, dass ein Text in verschiedenen, bei Lotman hierarchisch vorgestellten Ebenen organisiert ist, blendet S. aus und: Die Regulationsprinzipien des literarischen Textes stellt S. stärker eindimensional dar als Lotman: "Eine weitere Voraussetzung dieses Verfahrens ist die Einsicht, dass das Organisationsprinzip poetischer Texte die vergleichende Gegenüberstellung ist, d. h. die Wiederholung von Elementen, sei es als Antithese oder als Analogie" (Schäfer, 5). Tatsächlich findet sich auch bei Lotman die auf de Saussure zurückgehende Unterscheidung der syntagmatischen von der paradigmatischen Achse, wobei die immanente Strukturierung des Textes Beziehungen zwischen syntagmatischen Elementen herstellt,1 die jedoch erst Bedeutung erlangen durch die paradigmatischen Beziehungen: "Die künstlerische Wirkung eines ,prijom’ ist immer Resultat einer Relation (z. B. die Relation des Textes zur Lesererwartung, zu den ästhetischen Normen der Epoche, zu den vertrauten Sujet-Klischees, zu den Gesetzmäßigkeiten des Genres). Außerhalb einer solchen Relation existiert die künstlerische Wirkung einfach nicht."2 Bei S. wird dagegen "... die Wiederholung von Elementen ..." (5) alleine zum Prinzip poetischer Texte, an dem die Analyse der Texte einzusetzen hat. Das ermöglicht S. eine ausschließlich textimmanente Strukturanalyse, für die er sich aber eigentlich nicht auf den strukturalistischen Semiotiker Lotman berufen kann.

Die Einleitung wird vervollständigt durch "Terminologische Klarstellungen" (7) zu den Begriffen "Struktur" und "Komposition" sowie einer zwischen zwei Sätzen zum Aufbau der Arbeit und Anmerkungen zur drucktechnischen Markierung von Redaktionsschichten etwas lieblos eingezwängten Formulierung der zwei Hauptthesen des Buches: Die in Prov 1-9 versammelten Texte verdanken ihre jetzige Gestalt drei aufeinanderfolgenden Bearbeitungen, an deren Beginn zwölf Lehrgedichte standen (Der Überblick auf 261 grenzt diese folgendermaßen ab: 1,8-19; 2,1-4.9-15.20-22; 3,1-3b.4.21-24.35; 4,1-4*.5b.6.8 f.; 4,10-19; 4,20-27; 5,1-6.8-13; 5,15-20; 6,20 f.23-26; 7,1-22b.23bc.25-27; 8,5-12.13b-21.32a.33.35a.36b; 9,1-6.13-18) und: Jedes der Lehrgedichte in Prov 1-9 enthält einen dichotomisch strukturierten Hauptteil.

Der auf die Einleitung folgende Teil II "Analyse der Texte" macht den weitaus größten Teil des Buches aus und bietet auf 250 Seiten praktisch einen Kommentar zu den Texten in Prov 1-9. Dieser Teil lässt die methodologischen Unebenheiten und die Wortkargheit der Einleitung rasch vergessen, zumal Methodenfragen nun auch keine große Rolle mehr spielen. S. analysiert die Texte mit größter Sorgfalt und ungewöhnlicher Beharrlichkeit, wobei er stets nach Zeichen interner Strukturierung Ausschau hält, immer aber auch die Möglichkeit literarischen Wachstums bedenkt. Dieses sorgfältige Abwägen nach zwei Seiten gibt dem Leser die Möglichkeit, S.s strukturelle und literarkritische Einschätzungen nachzuvollziehen und von Fall zu Fall selbst zu entscheiden, ob die von S. beigebrachten Argumente seine Entscheidung zu tragen vermögen. In manchen Fällen schienen der Rezn. S.s Argumente nicht völlig überzeugend (so z. B. die Aussonderung sehr kurzer Textbestandteile in Prov 8). Bei der weit überwiegenden Zahl der Entscheidungen dürfte es allerdings schwer werden, gegen S.s Strukturanalysen zu argumentieren, da er sich auf eine Fülle an Beobachtungen an den Texten stützen kann: Stichwortaufnahmen, semantische Analogien, polare Begriffe, gleich- oder gegenläufige syntaktische Anordnungen, regelmäßige Anordnung von kontrastierenden Bewertungen - eine große Bandbreite an Beobachtungsmöglichkeiten wird ausgeschöpft.

S. stellt seine Beobachtung in einer sehr klaren und sachorientierten Sprache dar und veranschaulicht seine Analysen außerdem in 41 Schemata, die - trotz gelegentlicher Kompliziertheit - fast alle klar verständlich und nachvollziehbar sind (lediglich bei Schema 3 gibt es einen Widerspruch zwischen Schema und beschreibendem Text). Für literarkritische Entscheidungen unterzieht S. auch die jeweilige Fassung der Septuaginta einer genauen Prüfung. Manchmal allerdings trifft S. dann doch literarkritische Entscheidungen auf der Grundlage der erhobenen Struktur - so z. B. im Falle von Prov 8,35a und 8,36b (226). Die von S. sehr vorsichtig als Hypothese bezeichnete Aussonderung der beiden Halbverse lässt die möglichen Probleme des Verfahrens in den Blick kommen. Die Suche nach bedeutsamen Strukturen könnte diese überhaupt erst hervorrufen, könnte - besonders in Verbindung mit der literarkritischen Option - Beobachtungen einseitig gewichten bzw. abblenden und so die Texte unter einem gewissen Systemzwang betrachten. Die von S. dargelegte Beziehung von Prov 4,22 f. zu 4,26f. (Schema 22, 120) scheint der Rezn. in diese Richtung zu weisen, bei Prov 6,1-5 wird die dichotomische Struktur erst durch die Literarkritik herbeigeführt. Hinter diesen kleinen Schwächen in S.s ansonsten überaus lesenswerten Exegesen steht das grundsätzliche Problem, dass die beiden Wege, die S. verfolgt - die literarkritische Rekonstruktion der Textgeschichte und die Erhebung der literarischen Struktur - entgegengesetzten Zielen zustreben. Während die Literarkritik zu einer Auffächerung der Textaussagen in verschiedene Bedeutungsebenen führt, wird eine Strukturanalyse zu möglichst weitgehender Integration der unterschiedlichen Phänomene der Ausdrucksseite und zu einer Tendenz zur Monosemierung auf der Inhaltsseite führen. Dort, wo der Leser Schwächen der genannten Art bemerkt, wird die Labilität des von S. sonst sorgfältig und erfolgreich gehaltenen Gleichgewichtes zwischen Literarkritik und Strukturanalyse sichtbar.

S. bringt im letzten Teil seiner Arbeit ("Schlussfolgerungen", 251 ff.) die beiden Linien seiner Untersuchung in Beziehung zueinander in einer redaktionsgeschichtlichen Rekonstruktion der Entstehung von Prov 1-9 in ihrer heutigen Form. Diese Rekonstruktion sieht zwei Schwerpunkte in der Entstehungsgeschichte des Gesamttextes. Den ersten bilden die oben bereits aufgelisteten 12 Lehrgedichte, die für S. am Ausgangspunkt der Entwicklung stehen. Der zweite besteht in einer theologischen Neudeutung der Lehrgedichte, die auf eine Phase geringfügiger Überarbeitung der Lehrgedichte folgte und sich im Text in Gestalt der Einfügung von zwei Weisheitsgedichten sowie weiteren Zusätzen niedergeschlagen hat. Erst diese theologische Neuinterpretation hat die Einbindung der Weisheit in den Jahweglauben geleistet und so der späteren Weisheitsliteratur den Weg geebnet.

S. ergänzt seine Ausführungen durch einen Anhang, in dem er den Text von Prov 1-9 in seinen Wachstumsschichten darstellt. Hinzu kommt ein Stellenregister sowie ein dreiteiliges Literaturverzeichnis, das unhandlich ist. Diese formale Misslichkeit trübt indes die Qualität des sehr lesenwerten Buches nicht.

Fussnoten:

1) Vgl. z. B. J. M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, 2. Aufl., München 1981, 141 f.

2) Lotman, a. a. O., 144 f.