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Ausgabe:

März/2000

Spalte:

269–271

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Renkema, Johan

Titel/Untertitel:

Lamentations. Translated from the Dutch by B. Doyle.

Verlag:

Leuven: Peeters 1998. 641 S. gr.8 = Historical Commentary on the Old Testament. Kart. BEF 2100. ISBN 90-429-0677-4.

Rezensent:

Konrad Schmid

Dieses umfangreiche Werk ist die von Brian Doyle besorgte englische Übersetzung des ursprünglich 1993 in der Reihe "Commentaar op het Oude Testament" (COT, Kampen) erschienenen holländischen Klagelieder-Kommentars von Johan Renkema. Nach den ebenfalls voluminösen Bänden zu Exodus (I; II) von Cornelis Houtman, 1Könige (I/1) von Martin J. Mulder, Jesaja (III/1) von Jan L. Koole und Nahum von Klaas Spronk liegt mit Lamentations von Johan Renkema nunmehr der sechste Band der Reihe "Historical Commentary on the Old Testament" aus dem Haus Peeters in Leuven vor, die sich zum Ziel gesetzt hat, "[i]n contrast to the ahistorical approach of much of contemporary reader-oriented exegesis, in which it is mainly the interaction between the modern reader and the text that matters ... , the historical embeddedness of the message of the Old Testament" ernstzunehmen.

R.s Kommentierung der Klagelieder gliedert sich im Wesentlichen in einen verhältnismäßig knapp gehaltenen Einführungs-teil (33-79), der über Struktur-, Einleitungs- und Methodenfragen zu den Klageliedern (Thr) sowie zu ihrer Theologie Auskunft gibt, und einen umfangreichen Kommentarteil (80-634), der den Text der fünf Klagelieder im Einzelnen durchgeht und vor allem in sprachlicher Hinsicht detailliert erläutert.

Was die historische Entstehung von Thr betrifft, so vertritt R. eine ebenso einfache wie klare Position: Die fünf in Thr zusammengestellten Klagelieder bilden eine literarische Einheit (35-40; 56) und haben nie unabhängig voneinander bestanden, sie sind von ehemaligen Tempelsängern (52; 56 f.) unmittelbar nach der Zerstörung Jerusalems dort verfasst worden (54: "The songs leave one with the impression that they were conceived during a period of great misfortune after the fall, when chaos reigned throughout the land"); sie sind vor Deuterojesaja entstanden, der sie bereits voraussetzt. Die historische Ansetzung von Thr in die Exilszeit, jedenfalls in einem Grundbestand, bricht nicht mit den üblichen Ansichten der Lehrbücher, wohl aber die Annahme der literarischen Gleichursprünglichkeit der fünf Lieder. Das wichtigste Argument R.s besteht in sogenannten "song-responses" (39 f., vgl. 636-641), literarischen und thematischen Querverbindungen, die er zwischen den einzelnen Liedern feststellt. Ein Beispiel einer solchen "song-response" lautet: "In 1,1 Lady Jerusalem is depicted as widow ... It is well known that widowhood and jewellery are incompatible, a fact which is one of the links with 2,1: the Lord has taken away the jewel of Israel, is equivalent to the temple of Jerusalem. The daughter of Zion has become like a widow because the Lord - ’her husband’ - in dark anger has withdrawn his presence from Zion" (39). Man wird mit R. eingehend diskutieren müssen, wie weit solche Beobachtungen tragen: Ob eine solche Verbindung tatsächlich ein "link" oder gar eine "song-response" darstellt, ist weiter begründungsbedürftig, und selbst wenn man sich hier R. anschließen will, bleibt noch einmal fraglich, ob Beobachtungen dieser Art die Last der Annahme literarischer Einheitlichkeit von Thr tragen können (die ja gegenüber der Annahme gestufter Textentstehung nicht einfach "vorsichtiger" oder "sicherer" ist, sondern mit genau derselben Begründungspflicht einhergeht, die literargeschichtliche Entscheidungen nun einmal benötigen) oder nicht auch anders erklärt werden können (z. B. Verwendung gemeinsamer Stoffe, redaktionelle Ergänzungen oder Überarbeitungen). Gerade angesichts des auch diesem Band beigegebenen Programms der Herausgeber des "Historical Commentary on the Old Testament", das auf die jeweilige historische Einbettung alttestamentlicher Texte achten will, erscheint die Begründung der literarischen Einheitlichkeit von Thr etwas schmal und schließt andere Erklärungsmöglichkeiten nicht stringent aus, zumal sie ja auch für die Datierung von Thr 1-5 von entscheidender Bedeutung ist: Weil das Buch Thr einheitlich ist, sind alle in ihm enthaltenen Texte zwischen 587 und spätestens 550 v. Chr. entstanden.

Der "Exegetical Part" (80), der eigentliche Kommentarteil (80-634), ist nach den fünf Klageliedern unterteilt (I: 80-201; II: 202-330; III: 331-478; IV: 479-572; V: 573-634 ), er bietet jeweils eine englische Gesamtübersetzung, einen Aufriss der literarischen Struktur des Lieds sowie Überlegungen zum Lied insgesamt sowie zum Forschungsstand ("Essentials and Perspectives", "Scholarly Exposition"). Die Einzelexegese übersetzt und kommentiert den Text von Thr 1-5 entsprechend der eingangs vorgestellten Segmentierung in kleine Abschnitte, sie konzentriert sich dabei vor allem auf semantische Fragen, die Hauptgesprächspartner in den Fußnoten sind deshalb Lexika und theologischen Wörterbücher (HALAT, THAT und ThWAT, dort allerdings nur die bis 1993 erschienenen Beiträge, vgl. z. B. 287). Von textkritischen Veränderungen wird in aller Regel zu Recht abgesehen (z. B. 131; 175; 192; 256; 264; 375; 453); leider nicht diskutiert werden, wo vorhanden, die Textzeugen aus Qumran (3-5QLam). In der Einzelexegese findet sich eine Fülle von Beobachtungen und Auswertungen zur sprachlichen Gestaltung der Lieder und ihrem Bedeutungsgehalt, die allerdings nicht immer unproblematisch sind (vgl. z. B. 118; 122 f.). Ob etwa die mehrfach getroffene Entscheidung, "that perfects should be read as presents" (474) tatsächlich text- und sachnah oder überhaupt syntaktisch möglich ist, muss bezweifelt werden.

Wenig Raum haben übergreifende traditionsgeschichtliche Überlegungen (s. dazu v. a. die Einleitung), gar kein Platz wird- entsprechend dem linearen Entstehungsmodell - für redak-tionsgeschichtliche Erwägungen aufgewendet. Intertextuelle Beziehungen innerhalb von Thr werden (zu Recht) breit dargestellt und ausgewertet, intertextuelle Verbindungen von Thr zu anderen Büchern, etwa zum Deuteronomium, zum Psalter, zu Jesaja und vor allem zu Jeremia, bleiben weitestgehend undiskutiert, obwohl sie keineswegs undeutlicher sind als die Binnenvernetzungen innerhalb von Thr 1-5. Namentlich das Problem des gegenüber seinen Nachbarstücken anders gearteten Lieds Thr 3, das implizit (und doch wohl als Ganzes redaktionell) die Klagelieder "jeremianisiert" (vgl. Thr 3,14 f./"Konfessionen"; Thr 3,53 ff./Jer 37 ff.) und wahrscheinlich den Anlass zu der Notiz 2Chron 35,25 und zur traditionellen Rückführung von Thr auf "Jeremia" gegeben hat, ist ohne Blick auf das Jeremiabuch kaum sinnvoll zu diskutieren. Hier wäre auch eingehender die Position von Thr im Kanon zu behandeln (vgl. 34f.); gerade angesichts des auch von R. herausgestellten jungen Alters der masoretischen Einbindung von Thr in die Megillot (6. Jh. n. Chr.) wäre näher zu fragen, ob die in LXX bezeugte Stellung nach Jer auf alter Tradition beruht und auch seine redaktionellen Niederschläge in Thr gefunden hat.

Auffallen muss das weitgehende Schweigen von R.s Kommentar zu den altorientalischen Paralleltexten zu Thr. Mit den sumerischen Stadtklagen will R. Thr nicht in Verbindung bringen - "there can be no question of direct literary dependance. The resemblance between the lament in Sumer and the lament in Israel is due to similarity in experience as well as agreements at the level of content" (42). Dass zwischen diesen Texten und Thr keine literarischen Verbindungen bestehen, ist wohl zutreffend, doch muss deswegen ein Vergleich (z. B. konzeptioneller Art) zwischen beiden nicht sinnlos sein.

Für die Einzelarbeit an Thr ist R.s Kommentar ein willkommenes und hilfreiches Arbeitsmittel, über seine Gesamtthese wird weiter zu diskutieren sein.

Nicht erschöpfend ist das zehnseitige Literaturverzeichnis (22-32), es erfasst die Literatur zu Thr nicht vollständig (erhebt aber auch nicht den Anspruch darauf), vor allem aber lässt es einige Titel vermissen, die für Thr mittelbar oder unmittelbar relevant sind (z. B. M. Sæbø, Who is ,The Man’ in Lamentations 3.1? A Fresh Approach to the Interpretation of the Book of Lamentations, in: A. G. Auld [Ed.]: Understanding Poets and Prophets, FS G. W. Anderson, JSOT.S 152, Sheffield 1993, 294-306; A. Fitzgerald, The Mythological Background for the Presentation of Jerusalem as a Queen and False Worship as Adultery in the OT, CBQ 34 [1972], 403-416; ders., BTLWT and BT as Titles for Capital Cities, CBQ 37 [1975], 167-183; F. W. Dobbs-Allsopp, Weep, O Daughter of Zion: A Study of the City-Lament Genre in the Hebrew Bible, BibOr 44, Roma 1993; O. H. Steck, Zion als Gelände und Gestalt. Überlegungen zur Wahrnehmung Jerusalems als Stadt und Frau im Alten Testament, ZThK 86 [1989], 261-281 = ders., Gottesknecht und Zion. Gesammelte Aufsätze zu Deuterojesaja, FAT 4, Tübingen 1992, 126-145). Bei einer Reihe deutschsprachiger Zitate erstaunt die freie orthographische Wiedergabe (z. B. 95 f.; 101; 234 Anm. 98; 236; 285; 290; 345 Anm. 3; 376; 409; 470; 495; 513; 515; 588; 605).