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Ausgabe:

Dezember/1998

Spalte:

1179 f

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Daiber, Karl-Fritz

Titel/Untertitel:

Religion in Kirche und Gesellschaft. Theologische und soziologische Studien zur Präsenz von Religion in der gegenwärtigen Kultur.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 1997. 301 S. m. 1 Abb., 3 Tab. gr.8. Kart. DM 79,-. ISBN 3-17-014828-1.

Rezensent:

Rainer Neu

Um die Religionssoziologie ist es still geworden. In der Gründungsphase der Soziologie gehörte die Religion als soziales Phänomen zu den Grundkategorien sozialwissenschaftlichen Denkens. In den 60er und 70er Jahren entfaltete sich die Religionssoziologie - verbunden besonders mit den Namen Thomas Luckmann und Peter Berger - zu einer neuen Blüte und strebte den Rang einer "Soziologie der Sinnstiftung" an. Doch schon zu Beginn der 80er Jahre brach das öffentliche Interesse an ihren Erkenntnissen abrupt ab. Sie teilte dieses Schicksal mit ihrem Mutterfach Soziologie, dem die Psychologie bzw. die Psychotherapien als Modewissenschaften den Rang abliefen.

Wenn auch religionssoziologische Werke heute nicht mehr zu Bestsellern werden, erscheinen doch nach wie vor bemerkenswerte Studien auf diesem Gebiet. Im vergangenen Jahr sind mindestens zwei grundlegende und lesenswerte religionssoziologische Untersuchungen in Deutschland veröffentlicht worden: "Fremde Heimat Kirche" (die ausführliche Darstellung der dritten EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft) und Karl-Fritz Daibers "Religion in Kirche und Gesellschaft". Der emeritierte Marburger Praktische Theologe und Religionssoziologe legt mit diesem Werk eine Sammlung seiner Studien der vergangenen Jahre vor. In den drei Teilen dieses Bandes finden sich theoretische Standortbestimmungen für die Praktische Theologie, Studien zur Religion in der Moderne und schließlich Untersuchungen und Anregungen zur kirchlichen Praxis. Manche dieser Beiträge waren für den ersten Band des auf vier Bände angelegten "Handbuches der Praktischen Theologie" (Gütersloh) gedacht, der nicht mehr erscheinen wird.

Daibers Sammelband enthält eine faszinierende Spannweite von Themen: religiöse Dimensionen des Sports, der Kunst und der Architektur, die Kirchen in den Medien, Sonn- und Feiertage in der öffentlichen Diskussion, Elemente der Zivilreligion in der deutschen Gesellschaft, Pluralismus und Fundamentalismus oder moderne Jenseitsvorstellungen. Diese Untersuchungen zeigen uns, was Religionssoziologie eigentlich ist: eine Wissenschaft, die uns hilft, die ideengeschichtlichen und ethischen Implikationen unserer Kultur zu verstehen. So analysiert D. z. B. in seinen Studien zur Zivilreligion religiöse Elemente in der deutschen politischen Kultur (von den Beratungen der verfassunggebenden Versammlungen bis hin zu politischen Ansprachen) und weist nach, daß die kirchliche Predigt selber zur Entstehung und Aufrechterhaltung solcher zivilreligiösen Werte beiträgt. Oder D. untersucht Neuentwicklungen im Bereich der Sinnsuche, besonders die Entstehung eines modernen Alltagssynkretismus, mit dessen Hilfe Individuen - unabhängig von überkommenen religiösen Lehrmeinungen - persönliche Orientierung durch eine Synthese unterschiedlicher religiöser Traditionen suchen.

Obwohl alle diese Themen aktuell und interessant sind und von D. stets informativ verarbeitet werden, schreibt er leider einen trockenen, mitunter hölzernen Stil. Ein Essay darf einfach nicht mit einem solchen Satz anfangen: "Im Zusammenhang des zu verhandelnden Themas muß eine Ortsbestimmung für die folgenden Überlegungen vorgenommen werden" (103).

Weiterhin bleibt bei aller Vielfalt der Abhandlungen eine Gruppe von Themen auffallend unterrepräsentiert, nämlich die religiösen Aufbrüche der vergangenen zwei Jahrzehnte. Die religiöse Szene der Gegenwart ist dynamischer und selbstbewußter, als es D.s Studien erahnen lassen. New Age, Esoterik und Okkultismus tauchen in seinen Studien eigentlich nur als Stichwörter auf, und wo D. diese Bewegungen erwähnt, spricht er über sie aus einer unüberhörbaren Distanz. Hat es jedoch aus religionssoziologischer Perspektive in den zurückliegenden Jahren etwas Aufregenderes gegeben als die "Wiederkehr der Engel" in eine angeblich religionslose, säkularisierte Gesellschaft? Was steht hinter diesem Schweigen D.s? Die distanzierte Haltung des protestantischen Universitätstheologen gegenüber solchen religiösen Phänomenen? Oder das Unbehagen des Religionssoziologen, dessen an funktionalen Modellen geschultes Vorgehen mit unvorhergesehenen Neuerungen nicht umzugehen weiß?

Weitere Themen bleiben in D.s Werk gänzlich unerwähnt: die Entstehung und Ausbreitung nicht-christlicher religiöser Gruppen in Europa, die religiösen Implikationen alternativer Bewegungen (Friedens-, Ökologie- und Frauenbewegung) oder die religiöse Neustrukturierung in Europa durch Migration. Es sind die eher dysfunktionalen Elemente auf dem unübersichtlich gewordenen Feld religiöser Entwicklungen, die D. unberücksichtigt läßt.

Somit spiegeln D.s Studien die methodischen Vorzüge und Schwächen der gegenwärtigen Religionssoziologie im allgemeinen. Sie erklären überzeugend die historisch gewachsenen und immanenten religiösen Elemente der deutschen Gesellschaft. Aber sie versagen angesichts kulturell überraschender und gesellschaftlich extern bedingter religiöser Innovationen. Doch gerade in diesen Neuerungen liegt die Dynamik und Eigenständigkeit des religiösen Geschehens. Die funktionalen soziologischen Modelle waren tauglich für die Analyse der relativ stabilen Systeme der bürgerlichen Gesellschaft. Jetzt brauchen wir eine neue Religionssoziologie für das Verständnis des Pluralismus der Postmoderne innerhalb einer Weltgesellschaft!