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Ausgabe:

September/2019

Spalte:

866–868

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Becker, Eve-Marie, u. Jörg Rüpke [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Autoren in religiösen literarischen Texten der späthellenistischen und der frühkaiserzeitlichen Welt. Zwölf Fallstudien.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2018. VI, 297 S. = Culture, Religion, and Politics in the Greco-Roman World, 3. Lw. EUR 129,00. ISBN 978-3-16-156111-5.

Rezensent:

Armin D. Baum

Der von Eve-Marie Becker (Münster) und Jörg Rüpke (Erfurt) herausgegebene Sammelband analysiert Autorenkonzepte in griechisch-römischen, frühjüdischen und frühchristlichen Texten mit religiösem Inhalt. Er orientiert sich im Wesentlichen an zwei miteinander verknüpften Leitfragen: Wie verhielten sich Verfasser anonymer, orthonymer und pseudepigrapher Texte? Und welchen Einfluss hatte Religion auf die Textgestaltung? Aus diesen beiden Leitfragen er­geben sich eine Reihe von konkreten Fragestellungen, etwa: »Weshalb fehlen Lateinisch schreibende jüdische Literaten?« (9)
In ihrem einführenden Beitrag betonen die Herausgeber, dass das Autorenkonzept eines Textes für dessen literarische Gestalt ähnlich bedeutsam sei wie seine Gattung. Die von ihnen zusammengestellten Beiträge behandeln aus der griechisch-römischen Literatur Cicero (G. Manuwald), Ovid (U. Egelhaaf-Gaiser), Aelius Aristides (G. Petridou) und Lukian (D. Elm von der Osten), aus der frühjüdischen Literatur Jesus ben Sira (O. Wischmeyer), Josephus (J. W. van Henten) sowie Philo und Josephus (M. R. Niehoff) und aus der frühchristlichen Literatur Paulus (E.-M. Becker), die Johannesapokalypse (J. Dochhorn), den Hirten des Hermas (J. Rüpke), Tertullian (M. Vinzent) und den gnostischen Mythos (B. Aland).
Die in den Beiträgen erarbeiteten Einzelergebnisse lassen sich nicht leicht zueinander in Beziehung setzen, aber das ist für Sammelbände nicht untypisch. Zwei Beiträge möchte ich hervorheben, weil sie mir für meine eigene Beschäftigung mit Orthonymität und Anonymität in der frühjüdischen und der von ihr geprägten frühchristlichen Literatur wichtige Impulse vermittelt haben.
Oda Wischmeyer behandelt unter der Überschrift »Jesus ben Sira als erster frühjüdischer Autor« die Frage, inwieweit das Autorenkonzept des Sirachbuches gegenüber der früheren hebräischen Literatur, vor allem des Alten Testaments, neu war: Der Autor präsentiert sein Buch als Verschriftlichung seiner Lehrvorträge (Sir 39,32). In dessen Schlussteil bietet er (in der 1. Person Singular) autobiographische Informationen (51,13–30) und identifiziert sich (in den Kolophonen 50,27 und 51,30) als Jesus ben Sira. Der anonyme Verfasser des griechischen Prologs, ein Enkel des Autors, bestätigt diese Zuschreibung (pr. 7). W. hält diese Autorenangaben für echt: Jesus ben Sira schrieb mit »selbstbewusste(r) Orthonymie« unter seiner eigenen Autorität als Jerusalemer Weisheitslehrer (24).
Dieses Autorenkonzept enthält nach W. ein innovatives Element, das in der früheren hebräischen Literatur fehlte: Die Literatur des Alten Israel trug zwar in weiten Teilen die Namen prominenter Autoren, verwendete aber nie reale, sondern durchgehend fiktive Verfassernamen. Dass der Autor des Sirachbuchs dies unter seinem tatsächlichen Namen verbreitete, war in der antiken hebräischen Literatur etwas Neues (20–23).
Zur Begründung dieser These vergleicht W. die Autorenan-gaben in den Schriften unterschiedlicher Gattungen des Alten Testaments: Der Pentateuch nennt Mose nicht als Verfasser, sondern präsentiert ihn als Verschriftlicher göttlicher Gesetze, deren eigentlicher Autor Gott ist (25–26). Man könnte ergänzen, dass alle fünf Mosebücher literarisch anonym sind, ebenso die sogenannten Vorderen Propheten und die gesamte historische Literatur des Alten Testaments. Dies entsprach den Konventionen der Historiographie des alten Vorderen Orients. Erst in der Zeit des Hellenismus begannen auch jüdische Historiker wie Josephus unter ihrem Namen zu schreiben (vgl. NT 50 [2008], 120–142). Mit den Texten dieser anonymen Gattung des Alten Testaments lässt sich das Autorenkonzept des Sirachbuchs nicht vergleichen.
Die alttestamentlichen Prophetenbücher entstanden in län-geren Wachstumsprozessen in den Prophetenschulen. Im Unterschied zu den historischen Texten wurden sie nicht anonym, sondern unter den Namen historischer Propheten veröffentlicht (Jes 1,1; Jer 1,1; 51,64 u. ö.). Sie gaben Aussprüche Gottes wieder, die W. zufolge teilweise von historischen Propheten wie Jesaja stammten. Weil die Propheten als Übermittler göttlicher Offenbarungen auftraten, verstand man sie lediglich als »autorisierte Schreiber, nicht als autarke Autoren« (28). Dadurch unterscheiden sich die Prophetenbücher vom Sirachbuch, in dem ein unabhängiger Autor spricht.
Die Weisheitsschriften des Alten Testaments tragen den Namen Salomos (Prov 1,1; 10,1; 25,1, vgl. 30,1 und 31,1 im hebräischen Text; Koh 1,1–2; vgl. 1,12; 7,27; 12,8–10; Cant 1,1), viele Psalmen den Na­men Davids (Ps 3,1 u. ö.). W. stellt fest, dass diese Könige Israels »in den Psalmen und Weisheitsschriften durchaus als selbstverantwortete Dichter und Schriftsteller dargestellt« wurden (28). Sie schrieben ihre Texte weder anonym noch als Vermittler göttlicher Offenbarungen, sondern als autarke Autoren. Die Namensangaben David und Salomo seien jedoch durchgehend unhistorisch. Das heißt: Das Konzept autarker Verfasserschaft ist im Alten Testament nachweisbar, es verband sich aber nie mit einer orthonymen Verfasserangabe.
Diese Schlussfolgerung ist unbestreitbar, wenn Jesus ben Sira tatsächlich der erste autarke Verfasser einer hebräischen Schrift war, die einen historischen Verfassernamen trägt. Rechnet man dagegen mit der Möglichkeit, dass das Alte Testament z. B. echte davidische Texte enthält, wäre die Orthonymität des Sirachbuchs nicht völlig neu gewesen. Unabhängig davon: Jesus ben Sira wird aus seiner Perspektive davon ausgegangen sein, dass schon David und Salomo als autarke Autoren schrieben und er mit seinem Buch ihrem Vorbild folgte.
Eine weitere Fragestellung, die in diesem Sammelband aufschlussreich behandelt wird, lautet: Warum trägt nur eine der fünf johanneischen Schriften einen Verfassernamen, während die übrigen vier anonym sind? Ihr geht Jan Dochhorn in seinem Beitrag über »Die Konstruktion von Autorschaft in der Apokalypse – mit einem Seitenblick auf das Corpus Johanneum« nach. Er behandelt die Johannesapokalypse als Offenbarungsschrift und als Brief: In der Überschrift (Apk 1,1–3; vgl. 22,6–21) spielt Johannes gegenüber dem eigentlichen Autor Jesus eine sekundäre Rolle und bleibt weitgehend im Hintergrund (152–156). Im Briefanfang (Apk 1,4–6; vgl. 1,11.19) steht er so sehr im Vordergrund, dass er als der eigentliche Autor erscheint (158–163). Auch im Textkorpus der Apokalypse ist Johannes über weite Strecken als Ich-Erzähler präsent (163–165).
D. hält die Johannesapokalypse für einen orthonymen Text, dessen Verfasser aufgrund seines selbstverständlich erhobenen Autoritätsanspruchs bei seinen Adressaten bekannt gewesen sein muss. Das Buch könne vom Zebedaiden Johannes stammen (165–168). Man kann wohl sagen: Die Autorität der orthonymen Johannesapokalypse ergab sich aus der Identität des Offenbarungsmittlers Johannes, der eine einzigartige Offenbarung empfangen hatte und schriftlich weitergab.
Im Unterschied zur Johannesapokalypse sind das Johannesevangelium und die drei Johannesbriefe literarisch anonym. Der namenlose Briefautor erhob jedoch einen Anspruch auf Augenzeugenschaft, in 1Joh 1,1–4 sehr ausdrücklich und in 2Joh und 3Joh indirekt durch die Selbstbezeichnung »Presbyter«, mit der er sein hohes Alter betonte. D. vermutet, dass hier die Anonymität der Evangelien, speziell des Johannesevangeliums, auf die Johannesbriefe abgefärbt hat: So wie der Evangelist hat sich auch der Briefautor als jemand verstanden, der historisches Wissen über Jesus besaß. Er trat auch in seinen Briefen nicht als jemand auf, der eigene theologische Gedanken vermitteln wollte, sondern die histo-rische Botschaft Jesu (173–177). Insofern waren die Anonymität und die Orthonymität der verschiedenen johanneischen Schriften nicht beliebig oder zufällig, sondern ergaben sich daraus, aus welcher Quelle der jeweilige Autor schöpfte und inwiefern die Autorität einer Schrift mit der persönlichen Identität ihres Autors verknüpft war.
Die von mir vorgestellten Beiträge bestätigen die Grundthese der Herausgeber in dem Sinne, dass in frühjüdischen und frühchristlichen Texten unterschiedliche Autorenkonzepte (Anony-mität, Orthonymität) eng mit unterschiedlichen Textgattungen (Briefliteratur, Geschichtsschreibung, Prophetie, Weisheitsliteratur) verknüpft waren.