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Ausgabe:

Februar/2000

Spalte:

225–227

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Schori, Kurt

Titel/Untertitel:

Religiöses Lernen und kindliches Erleben. Eine empirische Untersuchung religiöser Lernprozesse bei Kindern im Alter von vier bis acht Jahren.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 1998. 309 S., 3 Farbtaf. gr.8 = Praktische Theologie heute, 21. Kart. DM 59,-. ISBN 3-17-013718-8.

Rezensent:

Heinz Schmidt

Wie können religiöse Tradition vermittelt und Glaube so weitergegeben werden, dass sie die Entwicklung und Entfaltung von Kindern nicht behindern, sondern fördern? Nur dann, wenn nicht nur die kindlichen Verstehens- und Lernvoraussetzungen zur Anknüpfung benutzt werden, sondern die spezifischen Modalitäten kindlichen Verstehens den Lernprozess steuern, ist die heute vorherrschende religionspädagogische Auffassung, die auch der Vf. teilt. Freilich muss er feststellen, dass die konkreten Inhalte in verschiedenen Konzepten (Werbick, Simon) ohne Beteiligung der Lernenden vorab festgelegt bzw. nach dem Modell der Gewöhnung (Fraas, Bizer) nachsozialisiert werden sollen. R. Englerts Sicht aus "Glaubensgeschichte als Bildungsprozeß" (1985) weiterführend, vertritt Schori die These, dass die Adressaten als Kriterium für die "Rechtmäßigkeit der Tradition" (31) eingeführt werden müssen, d. h. dass die Auseinandersetzung mit Religion zum Gelingen des Lebens beitragen sollte. Zur theologischen Begründung zieht Sch. die Christologie Bonhoeffers heran, nach der die ganze Wirklichkeit mit Gott versöhnt sei, wofür die Zeugen, d.h. die Tradenten einzustehen hätten. Dies mache eine je neue sprachliche Ausformulierung erforderlich, die - wenn sie gelingt- Verstehen und Einverständnis der Hörer bewirke. Nur so könne die Herrlichkeit Gottes situationsbezogen sichtbar und eine freie Selbstfindung der Adressaten möglich werden.

Der Vf. wehrt sich mit diesen fundamental-theologischen Feststellungen gegen jede Einschränkung von Religion auf bestimmte Phänomene oder Handlungen, was er ohne weitere Erklärung als religionsgeschichtliche Definition bezeichnet. Sein eigentliches Ziel ist die Aufhebung der Differenz von Gottes versöhnter Wirklichkeit und der unversöhnten Welt im subjektiven und verstehensorientierten Selbstfindungsprozess.

Selbsterkenntnis ist demnach Gotteserkenntnis, d. h. die Auseinandersetzung mit der Frage der eigenen Subjektivität gilt als Auseinandersetzung mit der Gottesfrage, wofür mit R. Englert Cusanus als Zeuge aufgerufen wird (56), dessen Platonismus freilich nicht erwähnt ist. Dass aufgrund einer solchen Metaphysik des Subjekts die kindlichen und jugendlichen Selbstfindungs- und Selbstklärungsprozesse per se religiöse Wahrheit hervorbringen, wenn nicht erwachsenenspezifische Normierungen dies verhindern, liegt nahe. Damit werden die Verstehensmuster der Erwachsenen bzw. der Erzieher zum eigentlichen Problem. Ausführlich beschäftigt sich der zweite Teil des Buches daher mit dem Verstehensprozess. Dieser wird als Interaktion auf der Basis vorgängiger Identifizierungen beschrieben. Bedeutung erwächst aus teilnehmender Beobachtung, bei der die anfänglichen Identifizierungen bewusst gemacht und die eigenen Affekte von denen der anderen unterschieden werden. Verstehen gründet demnach im Unbewussten der jeweils Interagierenden, die im Vollzug der Interaktion Bedeutung erzeugen und damit zu Subjekten werden. Jedes menschliche Verhalten ist damit zugleich Selbstdefinition.

Im konkreten Verstehensvorgang selbst werden Zeichen ausgetauscht, die freilich mit unbewusst bleibenden Affekten verbunden sind. Zu Recht kritisiert Sch. hier die symboldidaktischen Entwürfe, die - S. K. Langer folgend - für eindeutig kontext-definierte, d. h. diskursive, und für unbestimmte und daher bedeutungsschwangere, d. h. präsentative Zeichen den gleichen Begriff, nämlich den des Symbols, verwenden. Präsentative Symbole sind aber nur von ihrer Wirkung her zu verstehen. Sie formulieren noch verborgene Sachverhalte und erzeugen Resonanz, weil sie latente Konflikte ansprechen. Sie lassen somit Raum für die unbewussten Seiten der zu verstehenden Anderen (145), bleiben aber notwendigerweise unbestimmt und damit klärungsbedürftig. Sie geben vielleicht zu denken (Ricur), wichtiger aber ist es, darüber zu sprechen (143).

Das erkannte Zusammenspiel von symbolischer Kommunikation und unbewusster Übertragung in jedem Verstehensprozess legt es nahe, auf "soziologische", d. h. Allgemeingültigkeit anstrebende Untersuchungsmethoden zu verzichten und nach einem für Gruppen geeigneten psychoanalytischen Verfahren zu suchen. Im Zuge seiner methodologischen Erörterungen kann der Vf. zeigen, wie F. Osers Interviewtechnik die strukturgenetischen Ergebnisse seiner Forschungen selbst induziert. Die von Sch. gewählte ethnopsychoanalytische Methode macht demgegenüber die eigenen Projektionen und die Reaktionen auf die Projektionen der untersuchten Individuen selbst zum Gegenstand des Forschungsprozesses, der freilich keine objektiven Resultate erbringen kann, sondern seine eigene Transparenz als Kriterium von Wissenschaftlichkeit postuliert. Über das ethnopsychoanalytische Verfahren hinausgehend, das das Verhalten und die Bedeutungskonstruktion von Individuen als Ausdruck gesellschaftlich-kultureller Möglichkeiten begreift, interpretiert Sch. Gruppeninteraktionen im gleichen Sinn.

Die fünf Fallanalysen im letzten Teil des Buches demonstrieren die Komplexität des Verfahrens wie auch die hohe Sensibilität des Forschers. Sie zeigen aber auch die Grenzen des Verfahrens. Die Bedeutungskonstruktion bleibt auf die Vorgänge der Subjektwerdung in konkreten Interaktionen beschränkt. An einigen Stellen scheint die Möglichkeit auf, mit symbolischen Kommunikationen Gruppen- und Selbstfindungsprozesse zu transzendieren. Für diese Konzentration auf interaktive Subjektkonstitution spricht die lebensgeschichtliche Situation der unter- suchten Altersgruppe (4-8 Jahre), deren "Subjektwerdung" in der Tat an konkrete Interaktionen gebunden ist. Demnach sollten auch hier die symbolischen Elemente nicht gänzlich im Interesse des Subjektvollzugs funktionalisiert werden, was aber unvermeidlich ist, wenn dieser selbst als Verwirklichung der Herrschaft Gottes verstanden, d. h. religiös überhöht wird. Die pädagogisch inszenierte Konstruktion religiöser Symbolwelten soll zweifellos die Subjektwerdung unterstützen, darüber hinaus aber diese Subjekte befähigen, sich dem Geheimnis der subjektiv nicht mehr fassbaren komplexeren Wirklichkeit des Ganzen, d. h. Gottes anzuvertrauen.

Mit seiner Reklamation des Unbewussten für die Bedeutungskonstruktion und der Bedeutung des Stellenwerts der sprachlichen Bearbeitung präsentativer Symbole hat Sch. die religionspädagogische Forschung ein gutes Stück vorangebracht. Eine Untersuchung der personverändernden, die Emotionalität strukturierenden Potenzen religiöser bzw. biblischer Symbolsprache sollte das anregende Werk weiterführen.