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Ausgabe:

Dezember/1998

Spalte:

1177 f

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Bannach, Klaus

Titel/Untertitel:

Anthroposophie und Christentum. Eine systematische Darstellung ihrer Beziehung im Blick auf die neuzeitliche Naturerfahrung.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 1998. 591 S. m. 9 Tab. gr.8= Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie, 82. Kart. DM 168,-. ISBN 3-525-56289-6.

Rezensent:

Helmut Zander

Die wichtigste Veröffentlichung der gesamten bisherigen Beschäftigung mit der Anthroposophie Rudolf Steiners (1861-1925) aus christlicher Perspektive ist anzuzeigen. Die von W. Pannenberg begutachtete Münchner Habilitationsschrift versteht sich als systematische Interpretation von Steiners uvre, sowohl der philosophischen (1880er/90er Jahre) als auch der theosophischen Schriften, die seit Steiners Beitritt zur Theosophischen Gesellschaft (1902) und nach der Abtrennung der Anthroposophischen Gesellschaft (1912) entstanden. Auf absehbare Zeit hinaus wird B.s Arbeit den Maßstab jeder weiteren Beschäftigung mit Steiners uvre bilden. Sie ist im Tonfall irenisch, in der Markierung wesentlicher Differenzen zur christlichen Tradition deutlich, aber vielleicht gegenüber manchen philosophischen Schwächen oder theosophischen Eigentümlichkeiten zu wohlwollend.

B. stellt in den zentralen Kapiteln die philosophischen Grundlagen (Kap. 2), das "Ringen mit der Theosophie" (154) (Kap. 3), das Verhältnis zum "christlichen Glauben" (Kap. 4) und zur Christengemeinschaft (Kap. 5) dar. Die konkreten Inhalte gehen allerdings oft eigene Wege. Beispielsweise steht im Kapitel zum wichtigen Okkultismusbegriff (Kap. 2.4) dazu nur wenig, stattdessen findet man dort u. a. Überlegungen zur Reinkarnation, worüber es aber ein eigenes Kapitel (3.1) gibt oder zur Theosophie, die auch andernorts noch behandelt wird, aber trotz ihrer Bedeutung kein eigenständiges historiographisches Kapitel erhält. B. bezieht sinnvollerweise auch einige Anwendungsfelder von Steiners Theorien ein, allerdings ohne Berücksichtigung der Forschung, worunter insbesondere die Analyse der Gesellschaftstheorie (Kap. 4.4) leidet.

Der Schelling-Kenner B. identifiziert als archimedischen Punkt von Steiners Weltbild dessen "Naturerfahrung", die auf eine Rücknahme der Differenz von Geist und Materie und damit auf eine Eliminierung der Gegensätzlichkeit von Geistes- und Naturwissenschaften ziele. Der Materialismus des 19. Jh.s sei Steiners eigentlicher Gegner. B. gewinnt damit einen Fokus, um unterschiedliche Phasen und unvereinbar scheinende Positionen Steiners auf einen roten Faden zu ziehen. Steiners außerhalb der Anthroposophie praktisch vergessene Philosophie der Freiheit widmet B. in dieser Perspektive eine erhellende Interpretation. Allerdings glättet diese philosophische Metaebene extreme Ausschläge wie Steiners atheistische 1890er Jahre, dessen wichtigstes Dokument, Goethes Weltanschauung von 1897, unberücksichtigt bleibt. Auch kann B. die unterstellten materialen Wirkungen Schellings auf Steiner, die vor allem als Lektüreerfahrungen des etwa 20jährigen faßbar sind, über strukturelle Parallelen hinaus (z. B. 97, 115 f., 147) nicht belegen.

Zuzustimmen ist B. hingegen in der These, daß sich Steiners Freiheitstheorie vor 1900 herausgebildet und bis zum Lebensende durchgehalten habe. Freiheit sei für Steiner ein aus Einsicht in Evolution und Schicksal gewonnener Gestaltungsspielraum, wogegen in B.s theologischem Freiheitsverständnis Kontingenz gegenüber vermeintlich schicksalhaften Abläufen zum Differenzkriterium wird.

Für die Beziehungen zum Christentum ist Steiners Wendung zur Theosophie entscheidend. B. leistet mit seiner Kontextualisierung von Steiners theosophischen Äußerungen Pionierarbeit, beispielsweise wenn er Steiners Kommentare zu biblischen Texten als Auseinandersetzung mit theosophischen Positionen liest (361). Darüber hinaus erschließt B. mit vielen klugen Überlegungen zu Themen, die oft als abseitig übergangen oder verrissen wurden (etwa der Lehre von den zwei Jesusknaben), neue Horizonte. Durch alle, auch kritische Äußerungen, zieht sich der ernsthafte Versuch, Steiner zu verstehen und ihn auch dort wohlwollend zu interpretieren, wo er von der christlichen Apologetik vielfach abgeschrieben worden war. Gleichwohl gerät B.s Durcharbeitung des umfangreichen Materials hinsichtlich der Theosophie in eine folgenreiche Schieflage: Er neigt dazu, Steiners Abhängigkeiten von der Theosophie zu minimieren oder gar zu eliminieren, wenn er etwa konstatiert, daß Steiner "die theosophischen Inhalte (,Dogmen’) gänzlich unwichtig sind" (91). Diese Interpretationstendenz kann B. allerdings nicht durchhalten, wo er zum Beispiel konzedieren muß, daß Steiner zwar theosophische Bilder, nicht jedoch deren Inhalte verändere (170). B.s Relativierung des theosophischen Einflusses beruht im übrigen auf der hermeneutischen Entscheidung, den späten Steiner zum Kriterium für den jungen zu machen. Damit übernimmt B. eine Leseanweisung Steiners; die Konsequenz, daß daraus ein Kanon im Kanon des Steinerschen Werks entsteht, erleichtert zwar die Relativierung hochtheosophischer Äußerungen etwa der Jahre bis 1910, die vielfach besonders schwer mit der christlichen Tradition zu vereinbaren sind, läßt allerdings die Frage, wie Geltungskonkurrenzen in Steiners Werk zu beantworten sind, häufig unbeantwortet. B. kann mit seinem Ansatz denn auch die These vertreten, "daß man die Anthroposophie in den großen Strom der christlichen Überlieferung einordnen muß" (503). Für eine solche These benötigen wir aber eine genauere Analyse zu den Übernahmen, Transformationen und den langfristigen Wirkungen des theosophischen Materials bei Steiner.

Vor diesem offenen Problemhorizont ist die weitere Debatte um das weltanschauliche Profil der Anthroposophie mit B. kontrovers zu führen. Steiner habe den Menschen als Natur- und Kulturwesen (Kap. 3.5 und 3.6) verstanden; demgegenüber scheint mir die Bedeutung normativer Elemente, gerade theosophischer Provenienz, unterbelichtet. Kann man in der Anthropologie die Bedeutung okkulter, übersinnlicher Momente so stark wie B. relativieren? Wie weit läßt sich Steiners späte Versetzung von Christus ins Zentrum der Evolutionsgeschichte (361) mit dessen völliger Relativierung in den theosophischen Frühschriften vereinbaren? Wie sieht die "Tatsächlichkeit der leiblichen Auferstehung" (451) aus, wenn die Körperlichkeit Jesu in zwei Knaben gespalten und über Reinkarnationen vervielfacht wird (440, Steiner spricht übrigens an der von B. dazu zitierten Stelle nur von "einer Art Auferstehung")? Und was bedeutet die Pluralität von Reinkarnationskörpern für die Identität und Auferstehung des Menschen? Wie weit lehrt Steiner wirklich eine Entindividualisierung im Verlauf der Reinkarnationen, eine "Erlösung ins Allgemeine" (226), wenn dennoch die vergangenen Leben eine individuelle Biographie bestimmen (524-529)? Kann man wirklich "ausschließen", daß die "Selbsterlösung", von der Steiner bis zu seinem Lebensende als partieller Notwendigkeit spricht, "irgendwo eine Rolle spielt" (562)?

B.s Arbeit kulminiert in einem Kapitel über den christlichen Bildungsbegriff, einer hommage an Wolfhart Pannenberg, in der er die weltoffene Identitätsbildung einer durch das ’akkumulierte Karma ein für allemal feststehenden’ Biographie entgegensetzt (529). Allein, man muß Steiner an dieser Stelle ausnahmsweise gegen Bannach in Schutz nehmen, da Steiner die künftige Entwicklung keinesfalls durch karmische Vorgaben fixiert sieht.

Im zusätzlich angefügten Kapitel über die Christengemeinschaft, in das B. offenbar seine Erfahrungen aus offiziellen Gesprächen mit der Christengemeinschaft einbringt, wird sein Buch politisch, da er der Christengemeinschaft das Prädikat der "Christlichkeit" zuerkennen will (560), mithin deren Annäherung an die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) stützt. B. hat diese Debatte zu Recht von der Engführung auf die Taufanerkennung befreit, die wichtige Frage der Geltung von Steiners Aussagen für die Christengemeinschaft jedoch nur noch angeschnitten. Auch in dieser Diskusssion führt künftig kein Weg an B. vorbei.