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Ausgabe:

Februar/2000

Spalte:

216 f

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Lenk, Hans

Titel/Untertitel:

Einführung in die angewandte Ethik. Verantwortlichkeit und Gewissen.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 1997. 148 S. gr.8. Kart. DM 39,-. ISBN 3-17-014803-6.

Rezensent:

Andreas Arndt

Die Rede von der "angewandten Ethik" im Titel dieses Buches bezeichnet nicht nur einen Spezialfall der Ethik, sondern zugleich ein philosophisches Programm: da in der Philosophie das Selbstdenken vielfach durch das "Reden über die Gedanken anderer" (43) ersetzt worden sei, drohe die Gefahr einer "Philosophologie", wie sie Robert Pirsig literarisch beschrieben habe (42). Um der von ihm diagnostizierten Gefahr unangebrachter Abstraktionen zu entgehen, plädiert Lenk für ein "konkretes Philosophieren" (45), das sich auf den Einzelnen als Person beziehe; dieses Programm bezeichnet er als "Philosophie der konkreten Humanität". Dabei solle, um das Abgleiten in einen bloßen Subjektivismus zu vermeiden, die Selbstverantwortlichkeit im Rückgriff auf Lévinas mit einem "Humanismus des Anderen" kombiniert werden, so dass die konkrete Humanität als "konkrete Cohumanität" (57) verstanden werden könne. Aus dieser Verbindung von "Sozialverantwortlichkeit" und "Selbstverantwortlichkeit" könne allererst eine "personalisierte Humanverantwortlichkeit" (61) hervorgehen. Dies entspricht der am Ende des einleitenden Überblicks über Konzeptionen der Ethik geäußerten und bereits seit längerem vielfach vorgetragenen Überzeugung L.s, dass die auf das Individuum konzentrierte Ethik heute durch die Berücksichtigung sozialer Komponenten und der Fernwirkungen von Handlungen ergänzt werden müsse (10).

Die Verbindung des Individuellen und Allgemeinen im Sinne des Programms konkreter Humanität erfolgt im Rückgang auf das Gewissen, welches L. - im Ergebnis einer ausführlichen Auseinandersetzung mit anderen Konzeptionen - als "bewußtseinsmäßige Selbstzuschreibung von Verantwortlichkeit" (33) bzw. "normative Selbstzuschreibung im Bewußtsein" (36) verstanden wissen will. Damit wird die persönliche Verantwortlichkeit des Einzelnen unterstrichen, die jedoch im Blick auf die Bedingungen und Folgen der Handlungen differenziert zu betrachten ist. Eine Fallstudie zur Katastrophe im Chemiewerk von Bhopal (Indien) 1984 (Kap. 5, 67 ff.) soll deutlich machen, dass "Dimensionen und Schichten" von Verantwortlichkeit "im konkreten, pragmatischen Zusammenhang" bestimmt werden müßten, um "humanitätsgebundene Prioritätsregeln" zur Einschätzung und Bewältigung ethischer Konflikte festlegen zu können. Diesem Ziel dient die Herausarbeitung von "Typen und Dimensionen der Verantwortlichkeit" im 6. Kapitel, welches als das systematische Kernstück des Buches bezeichnet werden kann. Dabei betont L. immer wieder, dass - ungeachtet aller notwendigen Differenzierungen - Verantwortlichkeit im Grunde einheitlich und unteilbar sei (vgl. z. B. 97). Den Abschluss des Bandes bilden Studien zur Verantwortung des Wissenschaftlers, in denen die im 6. Kapitel erarbeiteten Kategorien erprobt werden, auch wenn der theoretische Begründungszusammenhang hierbei bewusst nur verkürzt zur Sprache kommt.

Das Buch hat einführenden Charakter als Auffächerung des Problems der Verantwortlichkeit im Blick auf aktuelle ethische Diskussionen und komplexe Fallbeispiele. Seiner Absicht entsprechend behandelt es weniger die philosophischen Traditionen (mit Ausnahme Kants) und grundsätzliche Begründungsprobleme der Ethik. Gleichwohl ist im Blick auf die vielfach beschworene Konkretheit zu fragen, ob diese wirklich an die Einzelheit gebunden werden kann, oder nicht vielmehr von vornherein als das Verwachsensein des Einzelnen in allgemeine Zusammenhänge zu begreifen ist, wie es ja auch im Rahmen einer hier nicht zur Sprache kommenden, an Hegel anknüpfenden Tradition getan wird. In diesem Zusammenhang ist auch kritisch zu fragen, ob die heute beliebte Abwehr dessen, was hier als "Philosophologie" bezeichnet wird, nicht nur den Ausschluss bestimmter Traditionen und philosophischer Denkmittel zur Folge hat, deren Kenntnis sich gerade für das Selbstdenken im Blick auf die hier verhandelten ethischen Probleme als hilfreich erweisen könnte.