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Ausgabe:

Februar/2000

Spalte:

213–215

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Gaertner, Wulf [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Wirtschaftsethische Perspektiven IV. Methodische Grundsatzfragen, Unternehmensethik, Kooperations- und Verteilungsprobleme.

Verlag:

Berlin: Duncker & Humblot 1998. 331 S. gr.8 = Schriften des Vereins für Socialpolitik, N.F. 228. Kart. DM 128,-. ISBN 3-428-09416-6.

Rezensent:

Heinrich Bedford-Strohm

Wirtschaftsethik hat nach wie vor Konjunktur - und das zu Recht: Die Einsicht, dass wirtschaftliches Handeln auch in den hochkomplexen Zusammenhängen modernen Wirtschaftens nicht im ethisch luftleeren Raum steht, setzt sich zunehmend durch. Die Beiträge zur wirtschaftsethischen Diskussion reichen dabei von methodischen Grundsatzüberlegungen über Analysen zur Wirtschaftsordnung und Ansätzen der Unternehmens-ethik bis hin zu Beiträgen zur wirtschaftlichen Praxis, die weit in tagespolitische Probleme hineingehen. Fast alle dieser Felder berührt ein neuer Band der Schriften des Vereins für Socialpolitik, der zwei Sitzungen des Ausschusses "Wirtschaftswissenschaften und Ethik" aus den Jahren 1996 und 1997 dokumentiert. Der Titel "Wirtschaftsethische Perspektiven IV" deutet schon darauf hin, dass es sich bei dem von Wulf Gaertner herausgegebenen Band um ein weiteres Glied einer Kette kontinuierlicher, der wissenschaftlichen Öffentlichkeit zugänglicher Bemühungen handelt. Die darin enthaltenen Aufsätze eint, bei aller Disparatheit im Themenspektrum, das Bemühen, wirtschaftsethische Probleme zu klären, ohne mit starken normativen Voraussetzungen zu arbeiten, die sich der Begründung entziehen.

Wie unterschiedlich innerhalb dieses Rahmens aber von den verschiedenen Autoren im Einzelnen argumentiert wird, zeigen schon die ersten beiden Beiträge. In seinem Beitrag "Normativität angesichts systemischer Sozial- und Denkstrukturen" wendet sich Karl Homann entschieden gegen eine Dualisierung von Wirtschaft und Moral, Ethik und Ökonomik, "Sachgerechtem" und "Menschengerechtem". Die Ursache für die in seiner Sicht defizitäre aktuelle gesellschaftspolitische Diskussion um das Stichwort "Neoliberalismus" sieht Homann in falschen Theoriestrategien, die diesen Dualismus begünstigen.

Die Grundfrage seines Forschungsprogramms, das er diesen falschen Theoriestrategien gegenüberstellt, lautet: "Wie ist die Theorie, wie sind Erkenntnis, Vernunft zu organisieren, damit die hohe Teilrationalität der gesellschaftlichen Funktionssysteme und der zugehörigen positiven Wissenschaften erhalten bleibt und zugleich die systematische Kritik- und Entwicklungsfähigkeit dieser systemischen Strukturen gewährleistet bleiben?" (19). Homann bestreitet keineswegs die Bedeutung normativer Dimensionen. Nur wendet er sich gegen normative Ganzheitssemantiken, die mittels moralischer Appelle in Handlungen umgesetzt werden sollen. Normativität soll vielmehr in der systemischen Grundgestalt der Gesellschaft Gestalt gewinnen. "Sozial- und Denk-Verfassungen, nicht Handlungen, gilt es zu gestalten, und es müssen die geeigneten Paradigmen positiver Forschung entwickelt werden, statt normative Inhalte irgendwo in die positive Wissenschaft hineinzuflicken" (45). Im Hinblick auf die moralische Handlungsebene setzt Homann ganz auf eine "Anreizmoral", systemische Settings also, die auch ohne starke moralische Voraussetzungen auf der personalen Handlungsebene zu ethisch wünschbaren Ergebnissen führen.

Ganz anders Johannes Hackmann: Hackmann bekennt sich in seinem Beitrag "Gewinnmaximierung und Unternehmer-ethik" ausdrücklich zu einem "individualistischen Moralansatz" und geht dementsprechend, in Auseinandersetzung mit kontraktheoretischen und konsenstheoretischen Ansätzen, von einer individualethischen Fragestellung aus: "Was impliziert es und was sind die Konsequenzen, wenn sich Unternehmer ihren Vorstellungen vom Guten gemäß ethisch klug bzw. rational verhalten?" (51). Moralisch oder unmoralisch handeln - so Hackmann - können nur die einzelnen Menschen. Deswegen gibt es keine Ethik für Institutionen, also auch keine Unternehmens-ethik, "sondern nur personale Unternehmerethik" (55). Diese Maximalthese wird indessen in den dann folgenden Ausführungen faktisch abgeschwächt. Hackmann konzediert, dass Institutionen ethisches Verhalten jedenfalls erleichtern oder erschweren können (84). Nur darf der Unternehmer darauf nicht bauen und die ethische Verantwortung darauf abschieben.

Mit anderen Ansätzen stimmt Hackmann überein, dass die Gewinnorientierung in Marktwirtschaften aufgrund ihrer Funktion als Informationssignal für die vorhandenen Bedürfnisse und aufgrund ihrer Anreizfunktion ethisch gutzuheißen ist. Aber das damit verbundene institutionelle Setting ist eben nur die Voraussetzung für ethisch gutes Handeln. Sowohl weil institutionelle Rahmenbedingungen nicht alle ethischen Probleme erfassen können, als auch weil solche Rahmenbedingungen, wo sie möglich sind, immer unvollkommen bleiben, kann auf das ethische Handeln von Personen nicht verzichtet werden. Die Beispiele, die Hackmann bringt, reichen von sozialen Problemen, etwa Notlagen durch Armut, bis hin zum Umgang mit der Gefährdung der Umwelt. Das Funktionieren von Marktwirtschaften setzt schon in kurzfristiger Perspektive Moral voraus - ohne "Minimalmoral" ist "mit bedeutenden Effizienzverlusten zu rechnen". Erst recht langfristig werden Gesellschaften ohne ethische Einstellungen "ihre Wohlfahrtspotentiale im Sinne einer bestmöglichen Förderung der Interessen aller bei weitem nicht ausschöpfen" (85).

Sowohl der Beitrag von Wulf Gaertner über "Rationalität von Normen" als auch der Beitrag von Birger Priddat über "Rationalität, Moral und Person" befassen sich mit der Vermittlung der für die Ökonomie so zentralen Grundannahme eines individuellen Nutzenmaximierungsinteresses mit moralischen Normen. G. zeigt am Beispiel der Wahl des Kuchenstücks, dass eine verinnerlichte moralische Norm ebenso in eine rationale ökonomische Entscheidung eingehen kann wie die konventionelle Maximierungsforderung der Ökonomie. Priddat nimmt diese Erkenntnis auf und beschreibt das moralische Leben einer menschlichen Person als von Präferenzen, Metapräferenzen und prospektiven Präferenzen gekennzeichnete "balancierte Identität" (137). Die Stärke dieser Beschreibung liegt nicht nur in der Überwindung einlinig auf individueller Nutzenmaximierung zielender Personkonzepte, sondern auch in der Verdeutlichung des dynamischen Charakters moralischer Entwicklung, ein Charakteristikum, das auch dem Beitrag von Wolfgang Buchholz und Christian Haslbeck zur "Überwindung von Kooperationsproblemen durch Präferenzänderungen" zugrundeliegt. Einen ganz bestimmten Faktor der Beeinflussung individueller Präferenzen untersucht Iris Bohnet. In ihrem Beitrag "Solidarität durch Salienz" zeigt sie, dass die Gebebereitschaft privater Spender in hohem Maße abhängt von der "Salienz" (Bekanntheit) der Nutznießer.

In den Beiträgen des Bandes tauchen immer wieder Gedanken auf, die in der Gerechtigkeitstheorie von John Rawls ihren berühmt gewordenen Ausdruck gefunden haben. Dies gilt für den Beitrag von Hans-Peter Weikard über die vertragstheoretische Begründbarkeit intergenerationeller Verpflichtungen, ganz besonders gilt es aber für den Beitrag "Öffentliche Werte und Wohlfahrtsoptionen" des Rawls-Übersetzers Wilfried Hinsch, obwohl dort kaum explizit auf Rawls Bezug genommen wird. Wie Rawls geht Hinsch vom Selbstverständnis demokratischer Bürger als freie, gleiche und kooperationsfähige Personen aus (213). Daraus ergibt sich, dass alle gesellschaftlichen Ungleichheiten öffentlich rechtfertigungspflichtig sind.

Hinsch unterscheidet drei Arten von potentiellen Rechtfertigungsgründen für Ungleichverteilungen von Gütern: bedarfsbezogene Gründe, also etwa das Angewiesensein auf medizinische Betreuung, leistungsbezogene Gründe, also etwa eine bestimmte Leistung bei der Güterproduktion, und prudentielle Gründe. Prudentielle Gründe liegen dann vor, wenn Ungleichverteilungen von Gütern für alle Beteiligten im Lichte ihres wohlverstandenen Eigeninteresses zustimmungsfähig sind (217 f.). Während der für das Vorliegen der jeweiligen Rechtfertigungsgründe entscheidende interpersonelle Vergleich bei leistungsbezogenen Gründen auf größte Probleme stößt, ist er bei den bedarfsbezogenen Gründen eingeschränkt und bei den prudentiellen Gründen problemlos möglich. Die Gewährleistung gleicher Wohlfahrtsoptionen - so Hinschs These - "ist ein Gut, dessen Verwirklichung eine Gesellschaft für alle ihre Mitglieder durch eine geeignete Verteilung aller kollektiv verfügbaren Güter und Ressourcen anstreben muß" (237).

Der Band schließt mit drei Beiträgen zur Umsetzung wirtschaftsethischer Überlegungen in praktische Politik. Michael Schramms Aufsatz "Bürgergeld ,light’. Sozialpolitik für den Arbeitsmarkt" lotet Möglichkeiten zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit aus. Peter Koslowski beschäftigt sich mit "Spekulation und Insider-Handel. Über das wirtschaftsethische Problem des Insider-Wissens", und Werner Lachmann untersucht das Thema "Die Diätenregelung für Abgeordnete des Deutschen Bundestages. Versuch einer (wirtschafts-)ethischen Bewertung."

Als besonderes Verdienst dieses neuen Bandes der "Wirtschaftsethischen Perspektiven" ist der erfolgreiche Versuch hervorzuheben, die Relevanz moralischer Normen für wirtschaftliche Zusammenhänge deutlich zu machen und mit den Mitteln praktischer Vernunft zu begründen. Insofern leisten sie auch theologisch begründeter Wirtschaftsethik einen wichtigen Unterstützungsdienst.