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Ausgabe:

Juni/2019

Spalte:

595–597

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Rüggemeier, Jan

Titel/Untertitel:

Poetik der markinischen Christologie. Eine kognitiv-narratologische Exegese.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2017. XIII, 623 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 458. Kart. EUR 119,00. ISBN 978-3-16-155750-7.

Rezensent:

Paul-Gerhard Klumbies

Die bei Hans-Joachim Eckstein von Jan Rüggemeier verfasste Un­tersuchung wurde im Wintersemester 2015/16 von der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen als Dissertation angenommen. Das Ziel der Studie besteht darin, die traditionellen »historischen und philologischen Methoden der Exegese« zusammen mit neueren Ansätzen aus den Literatur- und Erzählwissenschaften »in ein gemeinsames System der Textbetrachtung zu überführen«. Diese Zugangsweise soll »am Beispiel des marki-nischen Jesusbildes demonstriert werden« und zu neuen Antworten auf die »Frage nach der Christologie des ersten Evangeliums« (3) führen.
In fünf Kapiteln werden Ziel und Aufbau der Untersuchung (Kapitel 1), »Narratologische« (Kapitel 2) und »Methodische Zugänge zur markinischen Christologie – Forschungsgeschichte« (Kapitel 3), eine auf die Auslegung des Textes bezogene »Poetik der markinischen Christologie« (Kapitel 4) sowie eine Zusammenfassung der erzielten Einsichten (Kapitel 5) präsentiert.
Angesichts der Fülle unterschiedlicher Zugänge zum Markusevangelium fragt R. »nach einem übergeordneten Gesamtsystem des Textverstehens und der Textanalyse« (3). Eine »wesentliche Voraussetzung für die Ausformulierung einer einheitlichen Methodik« zur Textuntersuchung liege »in der kognitiven Wende der Nar­ratologie« (4). Die kognitive Narratologie steht nach R. für ein integratives methodisches Verfahren, für das die Verschmelzung von religionsgeschichtlichen und außertextlichen historischen Er­kenntnissen mit einer textbezogenen Interpretation charakteris-tisch ist (198). Zu ihrer Anwendung zählt auch die Kenntnisnahme kognitionspsychologischer Einsichten. Sie schärft nach R. die Aufmerksamkeit für das Einwirken des Vorwissens auf das Textverstehen (9–17).
R. kritisiert die Überbetonung der Handlungsanalyse im exe-getischen Diskurs gegenüber anderen Aspekten wie der »Perspek-tiven- und Figurenanalyse« (79.102). In seiner Darstellung der Forschungsgeschichte behandelt er die Frage nach der Vereinbar-keit der divergierenden methodischen Ansätze (104) so, dass er »die wechselseitige Beeinflussung unterschiedlicher methodischer Zugänge« (105) wahrnimmt. Nacheinander vorgestellt werden religions- und redaktionsgeschichtliche sowie literatur- und erzählwissenschaftliche Zugänge (106–198). Exakt schildert R. die unterschiedlichen Umgangsweisen mit der sogenannten Messiasgeheimnistheorie. Seine Behauptung, »die Frage nach der inneren Kohärenz des Messiasgeheimnisses« ließe sich mit »den Mitteln einer heutigen Handlungsanalyse präziser beantworten«, zeigt allerdings, dass die Tragfähigkeit der Hypothese Wredes als solcher für ihn nicht zur Disposition steht (173.363–373.505–507.514–515).
Erhellend ist der treffende Rekurs auf die Poetik des Aristoteles, den R. seinen Einzelanalysen in Kapitel 4 voranstellt. Er hebt die Bedeutung einer angemessenen Verhältnisbestimmung zwischen den Handlungen und Taten und dem Charakter des Protagonisten hervor, eine für die Erfassung des Jesusbildes bei Markus zentrale Weichenstellung (199–205). In seinen Textanalysen bewegt sich R. an Schlüsselstellen des Markusevangeliums entlang. Er nennt die jeweils repräsentativen Interpretationsansätze und wägt sie gegeneinander ab. Die Heuristik der Auslegung ist dabei primär durch den Bezug auf Forschungsdebatten zu den Einzelstellen bestimmt. Sie resultiert weniger aus einer an Textbeobachtungen selbst ge­wonnenen Wahrnehmungshinsicht. Hervorzuheben unter den textbasierten Darlegungen zur »Perspektivische(n) Vermittlung« (206–307) ist die Klassifizierung der erzählten Zeit des irdischen Wirkens Jesu als »Anfang« der darauf bezogenen Phase der Verkündigung des Christusevangeliums (219 u. 485).
Im Blick auf die religiösen und ethischen Konfliktthemen in Mk 2,1–3,6 nimmt R. richtig wahr, dass den verhandelten Inhalten über die Beantwortung der konkreten Einzelfragen hinaus Verweischarakter zukommt. Allerdings ordnet er das der Christologie innewohnende Konfliktpotential weniger einer Debatte zur Zeit des Markusevangelisten als den in der Erzählung agierenden jüdischen Autoritäten und deren »christologische(m) Standpunkt« zu (250).
Ein Leitgedanke ist der wiederholte Hinweis auf »Emergenz«, von R. übersetzt als »hintergründige Wahrheit« (263). Diese Wahrnehmung einer zweiten Bedeutungsebene gibt der Untersuchung insofern eine Tiefendimension, als sie den theologischen Verweischarakter der markinischen Darstellung im Auge behält.
Seiner Analyse der Darstellung Jesu als Figur in der markinischen Erzählung legt R. elf Merkmale, die von »Standpunkt«, »Wahrnehmung«, »Gefühle« bis zu »Charakter« reichen, zugrunde (312–313). Deren Bedeutung gewichtet er jeweils auf einer Skala von eins bis fünf. Jede dieser Wahrnehmungseinstellungen richtet sich dabei auf den Markustext als Ganzen und greift exemplarisch auf aussagekräftige Stellen zu. Bei deren jeweiliger Auswahl lässt R. Freiheit walten. Richtig nimmt er die Analogie zwischen Jesu mündlichen Äußerungen, etwa in Gleichnissen, und seinem machtvollen, wundertätigen Handeln wahr (334). In der Summe führt der fein gerasterte Zugriff zu einem multiperspektivischen Gesamtbild der Person Jesu.
Auch im Blick auf die Rolle des Elia trägt R. viele Vorschläge aus der Literatur über dessen Verhältnisbestimmung zu Johannes dem Täufer, Jesus und Gott zusammen (379–405). Der Feststellung, dass der Markusevangelist »einen erzählerischen Brückenschlag zwischen der nachösterlichen Gemeindesituation und der Lebensgeschichte Jesu, der ἀρχὴ τοῦ εὐαγγελίου Ἰησοῦ schafft«, ist grundsätzlich zuzustimmen (407). Ob diese Verbindung allerdings sach-identisch mit der Verknüpfung von »nachösterliche(m) Bekennt-nis und vorösterliche(n) Erzähltraditionen« (408) ist, wie R. meint, steht dahin.
R.s Überlegungen zur »Funktion der markinischen Erzählung« (455) liegt die Beobachtung zugrunde, dass in der neueren deutschsprachigen Markusforschung eher Erwägungen zur kulturellen als zur christologischen oder theologischen Funktion der ältesten Evangelienschrift angestellt werden (457). Solchen Sichtweisen stellt R. in direkter Auseinandersetzung mit den vier Monographien von C. Jochum-Bortfeld, W. Fritzen, A. Bedenbender und S. Hübenthal (457–468) die These entgegen: »(D)ie Hauptfunktion der Erzählung (bleibt) eine christologische.« (458) Zentral für R.s Arbeit ist die Feststellung, dass zwischen der Perspektive Gottes und der Jesu ein »Konvergenzpunkt […] im frühchristlichen Be­kenntnis zu Jesus als dem Kyrios besteht«. Diese »hoheitschristologische Vorstellung (stellt) den Schlüssel zum Verständnis der markinischen Christologie dar« (490).
Sein Ergebnis fasst R. in drei Punkten zusammen. Erstens komme der markinischen Erzählung eine »epistemologische Funktion« zu: Die »Menschen (haben) Jesus in seiner eigentlichen Identität […] faktisch nicht erkannt« (532). Zweitens habe Markus ein »Bilanzierungsinteresse«. »Das Unverständnis der Menschen« gegenüber dem irdischen Jesus solle »festgehalten« werden (515.532). Drittens liege eine »ethisch-didaktische Funktion« vor. Der Rezipient werde an die Autorität Jesu gewiesen und gewinne daraus die Fähigkeit, »mit den Anfeindungen seiner Umwelt umgehen« zu können (532).
Mit seinem engmaschigen Netz von Fragehinsichten und Analyseperspektiven, das R. über den Text des Markusevangeliums breitet, bietet die Untersuchung eine sorgfältig erstellte Forschungsbilanz der Arbeit zur markinischen Christologie.