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Ausgabe:

Februar/2000

Spalte:

210–212

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Wohlmuth, Joseph [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Emmanuel Levinas - eine Herausforderung für die christliche Theologie.

Verlag:

Paderborn-München/Wien-Zürich: Schönigh 1998. 248 S. gr. 8. Kart. DM 70,-. ISBN 3-506-79801-4.

Rezensent:

Peter Dabrock

Nachdem die deutsche Levinas-Rezeption in der Theologie über ein Jahrzehnt wesentlich rezeptiv und exegetisch verfahren ist, um den entsichernden, aber auch schwierigen Denkbewegungen des 1995 verstorbenen philosophischen und jüdischen Denkers überhaupt folgen zu können, mehren sich nun die Untersuchungen, die die Inspirationen dieses spannenden Werkes in die eigene systematische Arbeit integrieren, um so die klassischen Themenfelder und -methoden der christlichen Dogmatik zu reformulieren oder auch zu transformieren.

Die unter dem Titel "Emmanuel Levinas. Herausforderung für eine christliche Theologie" versammelten Studien versuchen sich mehrheitlich an dieser entscheidenden Aufnahme des levinasschen (l.) Denkens. Die Publikation geht auf eine an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn veranstaltete Tagung aus dem Jahre 1997 zurück. An deren dogmatischem Institut hat sich durch das Wirken Joseph Wohlmuths, der sich seit langem um die Rezeption des Denkens von Levinas (L.) durch eigene Veröffentlichungen wie die entsprechende Förderung eines weiten Schülerkreises auszeichnet und der auch als Herausgeber dieses Werkes fungiert, ein Zentrum der L.-Forschung in Deutschland herausgebildet.

Die vorgelegten Abhandlungen konzentrieren sich dabei auf vier Kernbereiche, die für christliche Theologie elementare Weichenstellungen anzeigen: 1. Ästhetik und Sprache (13-42), 2. Schöpfung aus dem Nichts (43-80), 3. Der Mensch als Subjekt (mit Abstand der umfangreichste Teil: 81-173) und 4. Messianismus und Christologie (175-229). Angefügt sind nicht nur Literatur-, Autorenverzeichnisse und Namensindex, sondern auch ein instruktives Ergebnisprotokoll einer Begegnung mit L. aus dem Jahre 1992, das auf einige nicht unbedeutende Selbsteinschätzungen dieses Denkers am Ende seines Lebensweges aufmerksam machen kann (231-237), so die selbstkritische Beurteilung von L. gegenüber dem von ihm eingeführten Begriff der Illeität (233).

Den Reigen der Beiträge eröffnet die gelehrte, aber im Ergebnis gewagte Abhandlung von R. Esterbauer (E.): "Das Bild als Antlitz? Zur Gotteserfahrung in der Kunst beim späten Levinas" (13-23). Im Laufe der Untersuchung wandelt sich vor allem in Folge der Interpretation eines wenig beachteten, späten Aufsatzes von L. ("De l’Oblitération") die Frage der Überschrift zu einer These: Um der wichtigen und richtigen Einsicht der Rehabilitierung der Kunst im Spätwerk von L. sollte man aber nicht - wie E., der L. eher weiterdenkt als interpretiert - von dem Antlitz des Kunstwerkes (19) sprechen. Richtig ist zwar, "daß das Kunstwerk seinen Rezipienten zu einer Stellungnahme zu Verletztem herausfordert" (ebd.), aber es appelliert nicht an das Ich, es dem Sein zum Tode zu entreißen und mit ihm und dem Dritten Gerechtigkeit aufzurichten.

Solide, aber wenig spannend sind die beiden fast ausschließlich als Levinas-Exegese zu bezeichnenden Artikel "Augenblick ethischer Wahrheit. Zur Bedeutung der Metapher im Denken von Emmanuel Levinas" (25-42) von H. H. Hendrix und "Diachronie und Schöpfung" von W. N. Krewani. Dieser Ertrag ist um so enttäuschender, als die beiden Autoren maßgeblichen Anteil an der Vermittlung des l. Denkens nach Deutschland haben.

Kaum überzeugen können die Ausführungen von I. Broy zu: "Emmanuel Levinas, Simone Weil und ihre Anregungen für die christliche Schöpfungstheologie". Wenn sie die unterschiedliche Rezeption des luranischen Zimzum (kabbalistische Metapher zum Verständnis der Schöpfung als Selbstkontraktion Gottes) bei L. und S. Weil untersucht, beschränkt sich das Ergebnis auf die Zurückweisung eines obskurantistischen Bibelfundamentalismus (80; wer vertritt diesen in ernsthafter Schöpfungstheologie?). Entschädigt wird man gleich anschließend durch die gehaltvolle Studie von Th. Freyer (F.) über "Der Mensch als ,Bild Gottes’? - Anmerkungen zu einem Vorschlag von E. Levinas im Hinblick auf eine theologische Anthropologie". Hier wird der Untertitel des vorliegenden Bandes ernst genommen und L.s These, die "Ebenbildlichkeit des Menschen im Ausgang von Widerfahrnis der Transzendenz des Anderen mittels der beiden Gedanken der Idee des Unendlichen im Endlichen und ... der creatio ex nihilo" (85) zu begreifen, für eine Neugewinnung theologischer Anthropologie fruchtbar gemacht. Gerade weil F. auch verschiedene Typen anthropologischer Reflexion eruiert (86-91), wird der im Gespräch mit L. gewonnene Gedanke einer nichttotalitären Reformulierung des traditionellen Topos um so transparenter.

In dem ersten ihrer beiden Beiträge zu diesem Sammelband gibt S. Sandherr unter dem Titel: "Eine Religion für Erwachsene. Versuch über das Subjekt im Ausgang von Emmanuel Levinas" einen Einblick in die Arbeit aus dem Umfeld zu ihrer gleichthematischen Dissertation. Hierbei geht sie L.s Weg vom erwachsenen zum inkarnierten Subjekt nach - eine Subjektskonzeption, die zwar die Wege der postmodernen Subjekts-Destruktion kreuzt (107), aber wieder verlässt, wenn sie das Subjekt als "unter dem Anspruch des anderen Menschen" (108) und in der Sorge um die Gerechtigkeit begreift. In "Freiheit als Verantwortlichkeit für den Anderen. Biblische Wurzeln der Freiheitskonzeption in der Philosophie von Emmanuel Levinas" rekonstruiert M. Je’draszewski das Verständnis von Freiheit als Verantwortung bei L. im Anschluss an dessen Interpretation der Kain-und-Abel-Story. Wenn auch nicht alle in Szene gesetzten Dialoge dieses Bandes (s. Broy) gelingen, der von M. Hundeck unter dem Titel: ",Conatus essendi’ und ,inkarniertes Subjekt’. Ein inszenierter Dialog zwischen Baruch de Spinoza und Emmanuel Levinas" kann ein wichtiges Motiv des l. Denkens gerade durch die Kontrastierung zu dessen ursprünglicher Bedeutung erhellen.

In ihrem zweiten Beitrag ",Nach oben fallen’. Die Alteritätskonzeption von Emmanuel Levinas als Impuls für den feministisch-theologischen Diskurs" leistet S. Sandherr einen enorm wichtigen Brückenschlag, weil sie jenseits der von ihr nicht geleugneten, teils massiv patriarchalen Sprache von L. dennoch und gegen eine damit begründete vorschnelle feministische Aversion wertvolle Impulse für einen theologischen Feminismus aus diesem Denken gewinnen kann, insofern es differenzsensibel ist für Leiblichkeit, asymmetrische Verantwortung und nicht aufhebbare Transzendenz (156-159). E. Dirscherl lenkt in seinem Aufsatz: "Das inspirierte Subjekt bei Emmanuel Levinas - eine Inspiration für die christliche Theologie?" die Frage nach der Inspiration der Heiligen Schrift auf das in den Schriften sich bezeugende Inspirationsereignis der Verantwortung des unvertretbaren Subjektes für den verletzlichen Anderen. Ob man allerdings in Mt 25 (ein Text, der ja nur in der Klammer von Mt 1,23 und 28,20 zu lesen ist) "fast so etwas wie einen Kanon im Kanon entdecken" (172) kann, müsste wohl noch intensiver diskutiert werden. Eine Herausforderung stellt dieser Vorschlag, dem sich M. Poorthuis in seinem Beitrag "Asymmetrie, Messianismus, Inkarnation. Die Bedeutung von Emmanuel Levinas für die Christologie" anschließt (211 f.), allemal dar. Letztere Untersuchung und die von V. Jakobs: "Zur Frage des Messianischen bei Emmanuel Levinas - Erträge einer Interpretation Messianischer Texte" widmen sich eindringlich dem Verständnis des Messianischen, wie es L. vor allem in dem zentralen Aufsatz "Messianische Texte" in "Schwierige Freiheit" entwickelt hat. Abschließend führt der Herausgeber J. Wohlmuth seine ungemein bedeutsamen und anregenden Überlegungen zur Reformulierung der klassischen Christologie mit dem analytischen Instrumentarium des l. Denkens, wie er es bereits in seinem Band "Im Geheimnis einander nahe" (vgl. ThLZ 122, 1997, 1161-1163) vorgeführt hat, unter dem Titel "Herausgeforderte Christologie" weiter.

Der vorgelegte instruktive Sammelband verdient Beachtung, weil er - einerseits dezidiert in den Beiträgen von Freyer, Dirscherl und Wohlmuth, andererseits eher implizit, aber mehr oder minder erkennbar in den doch eher exegetisch orientierten übrigen Artikeln - eine systematisch-theologische Transformationsbewegung mit Hilfe eines Denkens vollzieht, das dem phänomenologischen Axiom folgt, dass die (Rede von der) Erfahrung des Fremden zum Fremdwerden der Erfahrung (der Rede) führen muss. Allerdings vermisst man im provoziert-provokativen Diskurs evangelisch-theologische Stimmen. Zumindest hätte es noch eines Gedankensganges bedurft, ob und wenn wie sich ein "sola fide" im Gespräch mit L. denken lässt. Wird in dieser Figur nicht auch der anstrengenden "Religion für Erwachsene", die sich in der Unterwerfung unter den Anderen zu verzehren droht, Raum zum Atemholen geschenkt, weil Jesus als das "Sagen des Göttlichen" (226) eben auch gesagt hat: "Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder ..." (Mt 18,3) und "Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid" (Mt 11,28)?