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Ausgabe:

Dezember/1998

Spalte:

1161–1176

Kategorie:

Aufsätze

Autor/Hrsg.:

Slenczka, Notger

Titel/Untertitel:

Theologie im Gespräch mit dem Judentum
Zur Dogmatik Friedrich-Wilhelm Marquardts*

1. Grundlegendes

1.1. Manès Sperber - ein Überlebender, Jude, undogmatischer Sozialist - beschreibt in einer der eindrücklichsten Szenen seines Romanes ’Wie eine Träne im Ozean’ den jungen Sohn des Wolynaer Zaddik, der - 1943 - im Studierzimmer seines Vaters unter dem umfänglichen Folianten, aus dem er lernt, ein kleines deutsches Buch verbirgt, das er heimlich liest: Hegels Phänomenologie des Geistes. Er begründet das damit, daß er sich auf die Probe stelle: "In der Mitte der Verlockungen muß ich leben; es ist wichtig, ihnen zu widerstehen" (a. a. O., 896). Bynie heißt der junge Mann, der sich schließlich gegen den Willen seines Vaters den Partisanen anschließt.

Friedrich-Wilhelm Marquardt - Deutscher vom Jahrgang 1928, Christ, Sozialist aus religiöser Motivation - schreibt eine mehrbändige Dogmatik, in der er ein zweites Konvolut von Büchern nicht unter den Texten der Schrift und der christlichen Tradition verbirgt, sondern bewußt daneben verwendet: die Texte der jüdischen Tradition. Er begründet das damit, daß es die christliche Wahrheit ohne die Lebensgemeinschaft mit dem Judentum und ohne das Lernen von diesem nicht geben könne: Das Christsein ist ein Eintreten in die Israel und dem Judentum (Teil II,2, 225; vgl. I, 133, bes. III,1, § 2 u. ö.) erschlossenen Verheißungen Gottes, und dieses Eintreten ist nur möglich, so M., wenn diese Zumutung Israel gegenüber von Israel selbst bestätigt wird: "Zu den Normen für das, was heute Gotteswort im Menschenwort erkennbar machen kann, zähle ich darum eine Bestätigung durch Israel, ... auch darin ..., daß ich umgekehrt von etwas als einem Gebot, einer Verheissung, einem Gedanken Gottes nicht wirklich mehr überzeugt bin, dem Israels: ’So sei es’ fehlt ..." (III,1, 162).

1.2. Im Werk Sperbers ist Bynie ein Symbol für den bereits vor dem Holocaust sich abzeichnenden Untergang der ostjüdischen Kultur, die als religiös begründete durch den Zusammenstoß mit der säkularen Weltkultur der Neuzeit gefährdet war. Die Gefahr, die von der Neuzeit ausgeht, die zur Trennung von der Tradition in der bedingungslosen Assimilation ’verlockt’, auf der einen Seite; die Gefährdung durch die gesprächsunfähige Selbstisolation des Traditionalismus auf der anderen Seite. Einsicht, hebr. ’bijnah’ - davon ’Bynie’? oder von jidd. ’bijn’, ’zwischen’? - ist es, ’in der Mitte der Verlockungen zu leben’.

Den Knoten der Geschichte, den der Talmudschüler nicht auseinandergehen lassen will, findet M. in der Tradition Barths als bereits zerhauenen vor, und er unternimmt keine bzw. im Fortschreiten der Bände immer geringer werdende Anstrengungen, das Gespräch mit neuzeitlichen philosophischen oder theologischen Positionen wieder aufzunehmen: Die Begründung der Kriteriologie evangelischer Dogmatik im Gespräch mit dem Judentum vollzog sich in Teil I der Dogmatik noch in beständiger Auseinandersetzung wenigstens mit den großen Dogmatiken des 20. Jahrhunderts, wobei allerdings mit einiger Leichtherzigkeit der Anspruch der Theologie auf Wissenschaftlichkeit- jedenfalls im traditionellen Sinne - von der Tagesordnung gestrichen wurde (I, 158 f. im Kontext von 152-165; vgl. 74-147). Im dritten Teil der Dogmatik fällt auf, daß gegenüber dem ausführlichen Gespräch mit der jüdischen Tradition das Gespräch mit dem neuzeitlichen Kontext philosophischer Weltorientierung immer weiter zurücktritt: Zuweilen eine Karikatur Kants (III,1, 131), zuweilen neuzeitliche Theologen - Bultmann, Bornkamm (132 ff.), Althaus (121 ff.; 155), Ritschl (225, freilich kaum wiedererkennbar); sie werden aber überwiegend auf ihre explizite oder implizite Stellung zum Judentum abgehört (etwa III,1, 132 ff.). Aber daß hier Dokumente neuzeitlichen Denkens, gar Hegel (vgl. III,2, 73) auch nur heimlich gelesen worden wären in dem Bewußtsein, daß wenigstens die kritische Auseinandersetzung mit der neuzeitlichen Philosophie und Theologie für das Theologietreiben lebenswichtig ist, kann man nicht konstatieren. Ebenso fehlt in den langen exegetischen Passagen die Bezugnahme auf die gegenwärtige exegetische Literatur, die ebenfalls von der jüdischen Tradition verdrängt ist. Das hat Methode, wie die eingestreuten hermeneutischen Reflexionen beweisen, nach denen man sich der - nach historischem Verständnis willkürlich assoziativen - rabbinischen Exegese darum lernend zu unterstellen hat, weil diese Exegese den Text aus der unmittelbaren Teilnahme an der Geschichte Gottes mit dem jüdischen Volk heraus deute, aus der dieser auch geschrieben sei (etwa: III,1, 206 f.; vgl. III,2, 159). Strukturell ist das eine schlichte Repristination der Berufung auf die geistgeleitete Exegese, die eigentlich inzwischen zu den Ladenhütern der apologetischen Selbstimmunisierung gehört. Zudem wird auch diese Tradition überwiegend zitiert, als sprächen die Überlieferungen und Auslegungen der Rabbinen in Talmud und Midrasch für sich selbst und als gäbe es keine zeitgenössische jüdische Exegese.

Vielleicht wäre hier, wenn schon nicht Schleiermacher, so doch Sperbers Bynie und die anderen literarischen Zeugnisse des Zusammenpralls von jüdischer Tradition und moderner Kultur (J. Roth, Ch. Potok, I. B. Singer) ein Hinweis darauf, daß sich die Theologie bzw. die (nicht nur) christliche Frömmigkeit in Gefahr begibt, wenn sie das Gespräch mit den gebildeten Zeitgenossen von sich aus aufgibt: Es ist wichtig, zu widerstehen, so Bynie, aber zu widerstehen angesichts von etwas, was den Charakter einer Verlockung hat. Wer, wie M., so offensichtlich den Verlockungscharakter des neuzeitlichen Denkens nicht verspürt, tut der Theologie keinen guten Dienst.

1.3. Ein letztes Mal zurück zu Sperber: Während der Zaddik, der Vater Bynies, die nationalsozialistische Bedrohung als eines unter den vielen Martyrien der Judenheit deutet, aus denen ’ein Rest’ immer wieder gerettet wurde, sieht Sperber im Holocaust etwas Neues: Neu sei nicht der Versuch der Vernichtung, nicht die Art und Weise oder die bloße Zahl, sondern neu sei deren Sinnlosigkeit: Weder töten die Mörder aus religiösen Gründen, noch sterben die Opfer für ihren Glauben, den sie - im Falle vieler westlicher Juden - bereits bewußt abgelegt oder faktisch verloren haben: "So geschah’s auf christlicher Erde zum ersten Male, daß man sich rüstete, Juden in Massen zu töten - ohne Berufung auf den Gekreuzigten. Und zum ersten Male sollten die Juden Europas für nichts, im Namen von nichts sterben. ... Diesmal hatten sie ihren Gott nicht mehr, um dem zu wehren, aber auch nicht die Waffen, um einen würdigen... Widerstand zu leisten." (Sperber, Churban 66 f.; ähnlich M. I, 128 f.)

Für M. ist der Holocaust ein Einschnitt in der Geistesgeschichte, der alles Denken unter den ’kategorischen Imperativ’ stelle, daß sich dies Ereignis nicht wiederholen dürfe (vgl. I, 76 und Kontext). Für die Theologie stelle sich diese Forderung nicht nur als ethische, sondern als Aufruf zur Buße: Es gelte, die Schuld an der Vorbereitung des Holocaust zu erkennen, die die Theologie durch die Tradition des theologischen Antijudaismus und durch das aus derselben Tradition gespeiste Schweigen zu den Judenverfolgungen auf sich geladen habe. M. folgert daraus die Verpflichtung zu einer Theologie im Gespräch mit dem Judentum, die sich ihrer Verstrickung in den Holocaust und der Infragestellung aller Theologie durch den Holocaust bewußt wird. Er deutet hier - im ersten Teil seiner Dogmatik - Auschwitz als den Versuch, Gott durch die Vernichtung des Volkes zu töten, an das er sich gebunden hat; der Holocaust sei so die Vollendung des zuvor und vorbereitend unternommenen theologischen Versuches, einen metaphysischen Begriff Gottes von seiner Konkretion als Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs zu lösen (vgl. III,2, 68 f.). Theologie nach Auschwitz könne nur eine Theologie im Umkreis des Volkes Israel sein, die die Fraglichkeit Gottes und seiner Verheißung angesichts dieses Ereignisses zum eigenen Thema macht (vgl. I, 124-147). Daß die Fragestellung der genannten Passage und entsprechend die Antwort einen nicht bis ins letzte klaren Eindruck macht - geht es nun darum, den Antijudaismus der theologischen Tradition zu beseitigen, oder geht es um eine Antwort auf die theologischen Aporien, die Auschwitz stellt? - löst sich mit dem skizzierten Programm: M will den Modus des Theologietreibens so ändern, daß christliche Theologie in einer Teilnahme an der Existenzweise Israels neubegründet und die christliche Verheißungsgewißheit an die Teilnahme am im Judentum erschlossenen Gottesverhältnis gebunden wird (s. u.): Das Vertrauen auf die Treue Gottes zu seinen dem jüdischen Volk gegebenen Verheißungen ist der Grund auch der christlichen Hoffnung und damit zum einen die Antwort auf die vom Judentum her aufgebrochene Frage nach Gott angesichts von Auschwitz, zum anderen die Bedingung der Möglichkeit einer christlichen Theologie ohne antijüdischen Exklusivitätsanspruch (vgl. I, 129ff.; 149 ff.; näher unten). Der Begriff ’Gott’, so M., ist gebunden an die Zuwendung zum Volk Israel (vgl. III,2, 68 f.; vgl. ebd. 178-187, bes. 182 ff.), und darum ist Auschwitz als Versuch der Tötung Gottes die Krise der Theologie einerseits und die Gemeinschaft mit dem jüdischen Volk die Bedingung der Möglichkeit der (christlichen) Theologie andererseits (ebd. 65 ff.).

2. Aufbau und Charakter der Dogmatik.

2.1. Die Eschatologie ist kein beliebiger Teil dieser Dogmatik und nicht umsonst ihr umfänglichster: Der erste Teil der Dogmatik (vgl. ThLZ 114, 1989, 537 f.) ist im Untertitel als Gestalt der ’Prolegomena’ gekennzeichnet; neben der oben angedeuteten Ortsbestimmung der gegenwärtigen Theologie findet der Leser dort eine Neubestimmung des Verhältnisses von Denken und Handeln, Theologie und Lebensvollzug unter dem Begriff einer ’evangelischen Halacha’: M. geht es um die Bindung christlicher Theologie an einen bestimmten Lebensvollzug, Theologie sei eine auf den Vollzug eines Gottesverhältnisses - das ’Gehen’ eines ’Weges’ im Gottesverhältnis - abzielende Auslegung der Schrift im Unterschied zu einer rein wissenschaftlichen Selbstreflexion des Glaubens oder kognitiven Vergewisserung seiner Inhalte (I, 179 ff.; 183 f.; 213 ff., vgl. zusammenfassend 261 f.). Dieser Gedanke ist innerchristlich nicht revolutionär, zumal ihn M. der Konzentration aller Glaubensinhalte um die promissio und der entsprechenden Zuordnung zum Existenzvollzug des Glaubens bei Luther und dem frühen Melanchthon parallelisiert (I, 183 f.) und gegen die von ihm in der reformierten Tradition diagnostizierte Reduktion des Glaubens auf ein reines Verhältnis des Erkennens zum Erkannten abgrenzt (ebd. 185). Es bleibt hier in Teil I der Dogmatik allerdings bei einer bloß formalen Parallelisierung der christlichen zur jüdischen Halacha: Daß die jüdische Halacha auch inhaltlich für die Christen verpflichtend sein könnte, ist - hier noch - nicht mitgedacht, im Gegenteil: "In notwendiger Verschiedenheit von jüdischer Halacha befinden wir uns, weil wir auf unseren Weg nicht durch Gesetzestraditionen, sondern nur von Jesus Christus gebracht werden können, der allein uns auf biblische Texte einer uns bindenden Evangelischen Halacha stoßen kann." (I, 166, vgl. 205 ff.; 211 ff.)

Materialiter wird dort, in Teil I, die Verbindung zwischen Israel und der Kirche aus den Heiden durch die Gestalt Abrahams vermittelt als Teilnahme an der ungesicherten Existenz des Abraham aus der Verheißung Gottes (§ 6), und dieser Existenzvollzug des Glaubens in einem bestimmten Kontext - in der Lebensbeziehung zum jüdischen Volk, im Teilen des Lebens mit den Armen und im Dienst an der ’Humanität der Gattung Mensch’ (I, 263, vgl. 362 ff., 366 ff.) - ist der Ursprung des theologischen Denkens, dem es bleibend verpflichtet ist.

Der zweite Teil der Dogmatik - ’Das christliche Bekenntnis zu Jesus, dem Juden’ - sucht die Bindung der Kirche aus den Heiden an das Judentum christologisch zu begründen. Diese Christologie ist hier nicht ausführlich zu besprechen (vgl. ThLZ 116, 1991, 304 f.), ich rufe nur zwei Grundgedanken in Erinnerung, auf die ich weiter unten noch zurückzugreifen habe: die These, daß die Christologie darin ihr Zentrum habe, daß von Jesus in den Strukturen gesprochen werde, in denen das Alte Testament - M. spricht von der Hebräischen Bibel - von Israel rede; Jesus und seine Existenz ist eine strukturelle Analogie zur Existenz des Judentums vor Gott, und insofern ist ein Leben in der Nachfolge zugleich eine durch Jesus von Nazareth erfolgende Einweisung in die Existenz Israels im Bund Gottes unter der Tora (250 ff., bes. aber 31). Dieser Gedanke impliziert einen zweiten Grundgedanken, nämlich die unter Aufnahme von Barths Verhältnisbestimmung von Evangelium und Gesetz (vgl. II,2, 268 ff. u. ö.) entfaltete These, daß in Christus das Gesetz nicht abgetan, sondern erfüllt sei und für den Christen unter die Prämisse des Evangeliums trete, als solches aber seine Gültigkeit behalte - die christliche Theologie wird so anschlußfähig für das Toraverständnis des Judentums, das Christsein insgesamt wird der christologisch vermittelte und limitierte Eintritt in den Toragehorsam.

Im Grunde stellen auch diese christologischen Überlegungen lediglich Prolegomena, und zwar für die Eschatologie dar; die Christologie wird von M. als Antwort auf eine Frage bestimmt, die aus dem durch Jesus vermittelten Leben in der Tora erwächst (Beginn von II,2, 7 [Leitsatz]: "Die christologische Frage entsteht ... im Tun der Tora ..."), eine Antwort, die also zurückweist in die Existenz angesichts des kommenden Gottesreiches (II,2, 308, vgl. die folgenden §§ 8-11; 430 ff.). Die Christologie kommt somit von der eschatologischen Existenz her und ist konstitutiv für sie, zielt also auf das Grundthema, das dann die Eschatologie bestimmt: Diese hat die Aufgabe, das Leben im Zeichen der Hoffnung zu beschreiben.

Die Eschatologie, der hier zu besprechende dritte Teil der Dogmatik selbst stellt also nichts anderes als die Entfaltung dieser Implikationen der Christologie dar. Sie wiederholt viele Elemente derselben (vgl. etwa die Grundbestimmungen der Christologie in § 3) und unterstellt den traditionellen Stoff der Eschatologie einer entschieden (sozial)ethischen Perspektive (s. u.), entfaltet sie als ’christliche Lehre von der Weltrevolution’ Gottes (III,1, 19), worunter eben - vereinfacht und zusammengefaßt - dies zu verstehen ist, daß die Eschatologie von Gottes Kommen aus der Zukunft und von der gegenwärtigen Erfahrung seiner verändernden bzw. befreienden Macht handelt.

2.2. Der Aufbau der Eschatologie: Der materialen Eschatologie geht in Band 1 eine Art von Prolegomena der Eschatologie voraus, die unter die Frage gestellt sind: ’Dürfen wir hoffen?’ und die offenbar den Vorbehalt lösen soll, den der Titel der Eschatologie insgesamt zu erkennen gibt - ’Was dürfen wir hoffen, wenn wir hoffen dürften?’. Inhaltlich werden hier zwei Fragen skizziert und miteinander verbunden: Zum einen (,wenn wir hoffen dürften’) die Frage danach, mit welchem Recht sich Heiden als Christen auf die Gottes Geschichte mit Israel vorantreibenden Verheißungen berufen dürfen - der Antwort darauf dienen die §§ 2 und 3, in denen die Antwort aus dem Gesetz einerseits, aus der Christologie andererseits erhoben wird. Die zweite Frage (,was dürfen wir hoffen’) nimmt die Anfrage auf, vor die M. die Theologie angesichts von Auschwitz gestellt sieht; sie erhält im Rahmen der Eschatologie nun die Gestalt, daß mit Auschwitz der Gedanke einer eschatologischen ’Endlösung’ - der radikalen Vernichtung alles Bösen und der endgültigen Scheidung der Guten und Bösen - desavouiert sei. Das zwinge dazu, die Eschatologie eben nicht als Hoffnung auf endgültige Bereinigung, sondern als Grund eines Weges der Hoffnung unter den Bedingungen der nicht erlösten Lebenswelt zu entwerfen (III,1, 148 ff.). In diesem Sinne entwirft die Eschatologie insgesamt eine ’Halacha der Zukunft’ - übersetzt in die Termini der Verkündigung Jesu: den Lebensvollzug in der Erwartung und in der Zugehörigkeit zum als Zukunftsmacht kommenden Gott bzw. Gottesreich, wobei es M. aber darauf ankommt, diese Zukunft nicht als Ausstand künftiger Wirklichkeit in reiner Differenz zur Gegenwart zu beschreiben, sondern als Krise und Neuorientierung des Lebens. Es ist von daher ein Grundzug dieser Eschatologie, daß sie alle klassischen Themen durchsichtig macht auf deren das Leben des Christen in der unerlösten Welt bindende ethische und sozialkritische Relevanz.

Der zweite Band behandelt unter der Frage ’Was kommt auf uns zu?’ auf den ersten Blick die klassischen Themen des Todes einerseits (§ 4) und der ’Zeichen der Zeit’ bzw. der Wehen der Endzeit andererseits (§ 5); der dritte Band widmet sich unter der Frage ’Was dürfen wir hoffen?’ den ebenfalls traditionellen Themen der Auferstehung (§ 6), des Gerichtes (§ 7A) und des Ewigen Lebens (§ 7 B); die ursprünglich ebenfalls für Band III angekündigte theologische Utopie und die Gotteslehre, die M. programmatisch in der Eschatologie unterbringen will, folgen in einem eigenen Band (III,4), der im Titel und in der Farbgebung (grün statt blau) von den ersten drei Teilbänden abgehoben ist.

2.3. Vom Charakter her handelt es sich überwiegend um Exegesen langer Passagen aus biblischen und rabbinischen Texten, die für sich genommen - ich werde auf einige Passagen noch hinweisen - gerade dadurch, daß sie sich dem abgekauten Konsens der Exegeten und den Interpretationshinsichten der kirchlichen Lehrbildung entziehen, häufig einen frischen und von guten Einzelbeobachtungen ausgehenden Zugang zu den Texten eröffnen. Ein Beispiel dafür ist die Deutung der Apg vom Thema ’Hoffnung’ her in III,2 (287 ff).: Im Zentrum eine gute und überzeugende Beobachtung zur zentralen Stellung des Begriffes ’Hoffnung’ im Ausgang von Apg 26,6; diese Beobachtung wird dann aber - und das ist die negative Kehrseite - gewaltsam gegen den Text gekehrt: Von diesem Fund her soll ausgerechnet die Apg genötigt werden, die bleibende Bindung der Heidenkirche an den Bund Gottes mit dem ’Israel nach dem Fleisch’ zu bezeugen. Der beständige Verdacht, antijüdische Ressentiments könnten den ursprünglichen Sinn der Texte verstellt haben, und die immer wieder unternommenen Versuche, mit Hilfe rabbinischer Tradition die Texte auf die Prärogative des Bundes Gottes mit Israel und der Gültigkeit der Tora hin zu lesen, haben den unbestreitbaren Charme, der von einer solchen Querlektüre ausgeht, zwingen auch durch das Überraschungsmoment guter Beobachtungen zur Auseinandersetzung - an deren Ende allerdings ich dann doch guten Gewissens zur ’Tradition’ und ihrem Textverständnis zurückkehre und den Eindruck gewinne, daß die Anliegen M.s bestenfalls als Sachkritik an den Texten, nicht aber im Modus der Rettung des Textes vor den angeblichen Mißinterpretationen einer 2000jährigen Auslegungsgeschichte zur Geltung zu bringen wären (vgl. etwa die Römer-Exegese in II,2, 180ff.; ebenso die Deutung des paulinischen Gesetzesverständnisses in III,1, 231 ff.). Zuweilen kann man sich auch beim besten Willen dem Eindruck einer gewissen Beliebigkeit nicht entziehen, etwa wenn in einer Auslegung derselben Bibelstelle die Absicht der Frauen, am Ostermorgen Jesu Leichnam zu salben, das eine Mal als Resignation vor der Endgültigkeit des Todes (III,1, 401) und ein anderes Mal als Protest für das Leben angesichts des Todes gedeutet wird (III,2, 129).

Ein zweites Charakteristikum sind die eher assoziativ und anspielungshaft angezogenen und daher nicht ernsthaft diskutierten kulturellen Phänomene, seltener theologische und philosophische Positionen, sehr oft Kirchenlieder usf. - in III,1 noch im Gestus des Anwalts vor Gericht: "Aber nun rufe ich - beliebig - auf: z. B. [die Spannung wächst, ich hatte einen Lehrer, der das so machte; N.Sl.] Pier Paolo Pasolini." (III,1, 145) Das ’assoziative’ Denken, das M. selbst als formale Eigentümlichkeit der rabbinischen Exegesen notiert (III,1, 205 f.), prägt - im Laufe der Bände zunehmend - seine eigenen Ausführungen und soll wohl (in optimam partem gelesen) zum auch von den Rabbinen intendierten ’inhaltlichen Mitdenken’ (im Unterschied zu einer grammatisch-philologischen Analyse; vgl. a. a. O.) nötigen.

Offen gesagt erschwert mir dieses assoziative Denken zuweilen das inhaltliche Mitdenken. Die den Paragraphen vorausgeschickten und von Band zu Band umfänglicheren ’Vorsätze’ bieten dem Leser durch ihren Umfang immer weniger Orientierungshilfe, die Zusammenfassungen werden immer seltener, so daß der Leser allein bleibt im Wald der Phänomene und Positionen, durch die sich der Gedankengang hindurchwindet.

Zudem sind die Bezugnahmen auf Phänomene und Positionen leider gerade kein Indiz für ein ernsthaftes Gespräch, sondern zuweilen und ganz besonders in Band III,4 zutiefst ärgerliche Bemerkungen - ein Beispiel: Die Überlegungen dieses vierten Bandes zu den Quellen der Gotteserkenntnis (III,4, 287 ff.) nehmen Bezug auf drei ’regna’ der Gotteserkenntnis (naturae, gratiae, gloriae) und explizieren die Erfahrung Gottes in regno naturae anhand der Natur (288 f.), der Geschichte (289-291), der ’Abenteuer’ des Philosophierens (291 - ein Absatz!!); dann kommen ’die Künste’ (291 f.) zu Wort und die Musik (da wird’s ausführlich, der Barthschüler hört natürlich Mozart: 292-296), und schließlich, nach einem 7zeiligen (!) Absatz zu den Naturwissenschaften, die Sprache - immerhin eine knappe Seite (297 f.). Ja und was da so steht, verschlägt einem doch den Atem: "Dem klassischen Philosophieren ging es um Einheit, wo es Sonate und Symphonie um Ganzheit ging, und zwar eine in Vielgestalt. Was das Philosophieren in einem Satz fassen, womöglich gar auf den Begriff bringen will, will der Sonaten- und Symphonie-Schreiber in vielen Sätzen sagen ... er muß statt nur eines Themas in zwei Themen reden, muß also im Dialog bleiben und darf nicht auf ein Roma locuta, causa finita drängen: Rom hat gesprochen, der Philosoph hat gedacht und gesetzt und den Begriff gefunden - darum Schluß jetzt mit weiterem Ergründen." (III,4, 296) Das steht da wirklich, vom Wesen der Dialektik bei Hegel, bei Platon, in den scholastischen Quaestionen ist in dieser Charakteristik der Philosophie jedenfalls nichts bekannt; in diesem ’geistreichen’ Ton der andeutenden Verständigung unter Connaisseurs geht es über viele Seiten nicht nur in dieser Passage, man weiß gar nicht, wo man mit dem Widersprechen anfangen soll, weil eben nichts ernsthaft behauptet wird, weil es für den Gedanken auch nicht wichtig ist, ob das Referat auch nur annähernd stimmt. Es herrscht völlige Beliebigkeit, nach der man offenbar alles über alles sagen darf, wenn es nur gut klingt: Vgl. etwa den unausgewiesenen Überbietungsanspruch, mit dem Barths ’Wort Gottes-Theologie’ Heideggers Sprachdenken entgegengesetzt wird: ebd. 297; vgl. die Behauptung, Kant habe Gott ’ein- und ausgegrenzt’, um die Vernunft ’rein’ zu halten (ebd. 291 - vermutlich soll tatsächlich insinuiert werden, es heiße darum ’Kritik der reinen Vernunft’), und an derselben Stelle wird der alte Hut aller Theologen zitiert: Wittgensteins Tractatus, Satz 7. Der ohnehin knappe Absatz zur Philosophie wird resümiert: "Und so öffnete sich in den vielfachen Abenteuern nicht nur der Metaphysik, auch der philosophischen Erkenntnistheorie, der Logik, der Naturphilosophie, der Ästhetik, ja: im Philosophieren als solchem ein ferner Blick auf Gott." (ebd.) Mit den ca. 10 Seiten ist das Thema der ’natürlichen Gotteserkenntnis’ erledigt, und auch der zitierte ’Blick’ bleibt im folgenden völlig unbedacht, weil M. alle Quellen natürlicher Gotteserkenntnis überhaupt nur aufruft, um zu statuieren, daß Gotteserkenntnis nicht in solchen ’Spielereien’ sich vollzieht (298 - also doch keine ernsthaften ’Abenteuer’), sondern nur im Loben Gottes und damit in der Betroffenheit von Gott - und hier wird nun auch nicht Schlinks gedacht, der die Doxologie schon vor längerem als Ursprung und Grundform der Gotteslehre bestimmt hat, und auch nicht Ebelings, der die Gotteslehre im Ausgang vom Gebet entwirft; es wird auch nicht vermerkt, daß M. mit dieser Begründung der Theologie im religiösen Verhältnis lediglich eine Grundposition der Selbstverortung der neuzeitlichen Theologie aufnimmt (Ritschl, Frank, Brunner, Gogarten, Bultmann, um Barth einmal nicht zu nennen und von Schleiermacher zu schweigen).

Das ist alles ärgerlich - wohlgemerkt und betont: Als ärgerlich bezeichne ich nicht die Inhalte der theologischen Position, soweit sie erkennbar werden, wohl aber die im Laufe der vier Bände der Eschatologie immer geringer werdende Bereitschaft zur ernsthaften Selbstvermittlung und zur Wahrnehmung fremder Positionen - etwa: Gott mit Wissen oder Tun in eine Grundbeziehung zu bringen sei Schleiermacher unmöglich gewesen: "Kants kritische Reflexion auf das, was die Vernunft vermag und was nicht, hatte den Theologen diese Möglichkeit verstellt; auf den Gebieten des Wissens und Tuns, der Wissenschaft und der Ethik läßt sich so etwas wie Gott nicht mehr vermitteln, lediglich als ein ’Postulat’ praktischer Vernunft ließe er sich noch denken [das hat offenbar mit dem Tun nichts zu tun; N.Sl.]: als Antreiber und Lohner ethischen Wollens; "wir Menschen sind ein so dumpfes Gemächte, daß wir ohne winkenden Lohn nicht auf Trab zu bringen sind; darum sollte man einen Gott wenigstens postulieren, der mit Lohn winkt und die Menschen dazu bewegt, das Gute zu tun" (III,4, 339). Auf diesem Hintergrund mutet es dann doch merkwürdig an, wenn M. seinerseits den Lohngedanken in der jüdischen Theologie mit heiklem Ohr und mit dem Gestus der Empörung gegen christliche Verzeichnungen in Schutz nimmt (III,1, 130-141) und darauf hinweist, daß nach jüdischem Verständnis der Toragehorsam ’sich in sich selbst’ lohnt und als solcher ’beglückend, befriedigend und gut’ ist (ebd. 139) - wenn auch Gottes Lohnen am Ende der Zeiten (freilich nicht als Reaktion auf das menschliche Wohlverhalten und nicht als dessen Motivation) zu erwarten bleibe (ebd. 141). Diese entschärfende Deutung des Lohngedankens ist doch sicherlich nicht nur von der protestantischen Begründung der Ethik in Abgrenzung gegen eine (angeblich) römische ’Lohnmoral’ beeinflußt, sondern mittelbar gewiß auch von der kantschen Kritik an einer heteronomen Begründung der Ethik, die im Original zu rezipieren M. offenbar nicht für nötig hält.

3. Ansatz und Exemplarisches

Ich gehe nun exemplarisch einige der Themen durch, nicht mit dem Anspruch, damit auch nur der Topographie dieses zerklüfteten Geländes gerecht werden zu können, wohl aber mit dem Anspruch, Exemplarisches herauszuheben, an dem sich der Ansatz der Dogmatik verdeutlichen und eine kritische Stellungnahme verständlich machen läßt.

3.1. Ich setze ein mit dem Referat einer Selbstkorrektur M.s: Während M., wie referiert, im ersten Band die Evangelische Halacha als strukturelle, nicht inhaltliche Analogie zur jüdischen Halacha begründet, ist er spätestens im vorliegenden Band der Zumutung ansichtig geworden, die eine solche christliche Selbsteinweisung in die jüdische Tradition für das Judentum bedeutet: "Wie befremdlich muß ... eine christliche Bewegung aussehen, die in aller Unschuld und Kindlichkeit heute - nach Auschwitz - behauptet, wir seien ... ’in den Israelbund aufgenommen’ worden ...[,] suchten uns statt der uns von der Tora zugebilligten noachidischen Gebote irgendeine eigene Evangelische Tora zusammen, fühlten uns aber im übrigen ganz tief und schön angesprochen von den feinen skeptischen und aufrührerischen, erotischen und politischen Verheißungen der Hebräischen Bibel ..., die ... wir doch fabelhaft aktuell und für ’uns heute’ brauchbar finden ..." (III,1, 161 f.). Vorbehaltlos anzuerkennen ist der Mut zur ausdrücklichen Selbstkritik - M. verweist in einer Anmerkung auf die eigenen Prolegomena (Teil I) - gerade an diesem entscheidenden Punkt: M. räumt ein, daß es den christlichen Bemühungen um einen Dialog mit dem Judentum in den früheren Phasen in recht naiver Weise eigentlich um sich selbst gegangen ist, und mehr noch: Daß im Hintergrund die Unfähigkeit steht, dem anderen seine Andersheit zu lassen (vgl. a. a. O. oben), die M. auch im Hintergrund des ’metaphysischen Projektes’ Auschwitz erkennt (vgl. ebd. 184 mit 162; dazu die lange Aufnahme der Kategorie des ’Anderen’ von Lévinas im Rahmen der Gotteslehre: III,4, 467 ff.).

Im Rahmen seiner Eschatologie (III,1) allerdings entscheidet die Passage über die Frage, ob und wieweit die Christen aus den Heiden die dem jüdischen Volk geltenden Verheißungen auf sich beziehen dürfen, und M.s Position an dieser Stelle modifiziert sich erstens dahin, daß die Zugangsbedingungen nicht vom Heidenchristen gewählt werden können, sondern nach Maßgabe der jüdischen Tradition zu bestimmen sind, nämlich als Einhaltung der noachidischen Gebote, die im folgenden ( 2) ausgelegt werden; die Position modifiziert sich zweitens dahin, daß die in Teil I der Dogmatik nebeneinander genannten Handlungsräume der Verwirklichung der jesuanischen Halacha (Verbundenheit mit Israel; Zuwendung zu den Armen; Bewährung der Humanität in der Gattung Mensch; I, 365 f., vgl. Kontext) nun - mit einer Kritik am linksprotestantischen Solidarisierungspathos, für deren Schärfe ein anderer als er gekreuzigt würde (III,1, 185 f.) - unter das entschiedene Vorzeichen und Kriterium des Dienstes an Israel gestellt: "Hier wirkt das biblische Beziehungsmodell viel praktischer und erfahrener: Von Israel gehts zu den Völkern, vom Besonderen zum Allgemeinen, niemand wird seine menschliche Berufung erfüllen, ja nicht einmal verbindlich hören, der sie nicht an seinem Verhältnis zu Israel beständig übt ..." (III,1, 186). Den Folgen dieser Selbstkorrektur werden wir noch in der theologischen Bestimmung der Landverheißung begegnen. Drittens impliziert die Selbstkorrektur die oben zitierte normative Bedeutung der Zustimmung des Judentums zu den theologischen Aussagen der christlichen Tradition - mit Folgen für die Trinitätslehre und die Christologie (etwa III,1, 265 ff. im Kontext des Verbotes der Abgötterei, vgl. III,4, 539 ff.).

3.2. Bleiben wir zunächst beim ersten der genannten Punkte: Die noachidischen Gebote sind nach M. die vom jüdischen Volk gewährte Teilgabe an den Israel geltenden Verheißungen - "Die noachidischen Gebote gehören ... in eine Eschatologie, weil sie den Nichtjuden, die sich hier gebunden zeigen, den kommenden Äon, das Erreichen des Himmelreichs, Teilhabe an der neuen Welt Gottes in Aussicht stellen." (III,1, 328 f.) M.s Position ist auf der einen Seite genau so problematisch, wie dieses Zitat klingt - wenig später nämlich bezeichnet er die noachidische Halacha als die notwendige Vorbereitung - den ’ersten Schritt’ - auf die kommende Welt Gottes hin, die eben das Kommen des Jesus von Nazareth ist: "Sie [die noachidischen Gebote] sind dadurch ein Beitrag zur Konstituierung von Zukunft, daß sie die Menge der Völker einladen, überhaupt einen allerersten Schritt in die Zukunft zu tun." (ebd. 329) Auf der anderen Seite entschärft er diese Problematik in Anlehnung an Barth dadurch, daß er die Selbstunterstellung unter das Gesetz zu Beginn seiner Auslegung der Gebote (232 f. und Kontext) unter das Vorzeichen des Evangeliums stellt: Die Rechtfertigung stehe nach jüdischem Verständnis ebenso wie bei Paulus vor den ’Werken des Gesetzes’, die auch Paulus - darin angeblich gut jüdisch - als Folge der realisierten (für die Heiden in Christus vermittelten) Gottesgemeinschaft faßt (ebd. 232 f.). Was M. allerdings unterschlägt (und darum wird Barth vermutlich in dieser Passage auch nicht ausdrücklich genannt), ist die gesetzeskritische Pointe, die Barths Deutung des Gesetzes als Form, deren Inhalt das Evangelium ist, hat: Das Gesetz hat nach Barth gerade keinen eigenen Inhalt neben der Aufforderung, sich die Gnade Gottes in Christus gefallen zu lassen. Die Inhalte des Gesetzes ergeben sich - bei Barth - als Ableitung aus dem Evangelium von Christus, nicht aber als Kombination einer zunächst gegen die Christologie eigenständigen noachidischen Halacha mit der Gottesgemeinschaft Israels, die nach M. den Christen durch Christus zugänglich wird. Man könnte eben auch umgekehrt fragen, ob denn der gesetzesfreie Glaubensbegriff des Paulus wirklich richtig wiedergegeben ist, wenn M. feststellt, daß der Wille Gottes zur Gemeinschaft mit dem Menschen in der Geschichte von Tod und Auferweckung Jesu offenbart sei, und fortfährt: "Erst in der Teilnahme an dieser Geschichte - Paulus nennt das: ... im Glauben -, darin, daß wir uns vertrauensvoll dieser Geschichte anschließen, finden wir unseren Platz in der Rechtsgemeinschaft Gottes." (III,1, 232)

Ich zitiere diesen Satz, um die mögliche Antwort M.s auf die vorgetragene Kritik an seinem Gesetzesverständnis zu entfalten (vgl. ebd. 346): Er würde vermutlich darauf hinweisen, daß die Entfaltung der noachidischen Gebote lediglich den ersten Abschnitt dieses Bandes bilde und ergänzt werde durch § 3, in dem Jesus von Nazareth als ’Verheißung und Quelle aller Verheißungen’ ausgelegt wird, eine veritable Christologie im Kontext der Eschatologie. Im Hintergrund steht wieder die (für sich [m. E. nicht unter Aufnahme aller M.schen Implikationen] durchaus bedenkenswerte) These des Teiles II der Dogmatik, nach der die Christologie insgesamt nur als Übertragung von Israelprädikaten auf Jesus von Nazareth verständlich werde; entsprechend sieht M. die soteriologische Bedeutung Jesu darin, daß Jesus der ’Zukunftsmensch’, die vorgreifende Erfüllung der Verheißungen Gottes ist (ebd. 346), und zwar insofern, als er der Täter der Tora ist: "Was Jesus zukunftsträchtig macht, ist, daß er die Tora lebt. Und diejenige Zukunft, die sich uns an Jesus erschließt, ist die, die Gott mit der Tora verbunden hat." (ebd.) Teilhabe an Christus ist so Teilhabe am Lebensvollzug der Tora - es vollzieht sich hier aber eben doch eine Umkehrung der Barthschen Verhältnisbestimmung von Evangelium und Gesetz: M. hält zwar die Vorordnung der Gnade fest, diese Gnade und damit der Inhalt des Gesetzes aber ist nicht mehr christologisch bestimmt, sondern die Christologie tritt inhaltlich unter das Vorzeichen der als Manifestation der Gnade Gottes gedeuteten Tora Israels. Bei M. ist also das als Gnade gedeutete Gesetz der Inhalt, Christus aber die Form des Gesetzes für die Heiden.

Damit sind die ’Zugangsbedingungen’ zu den dem jüdischen Volk geltenden Verheißungen für die ’gojim’, wie M. durchgehend schreibt, durch die jüdische Theologie definiert: Es handelt sich um einen Eintritt in den Toragehorsam Jesu, der in § 2 auf die Einhaltung der noachidischen Gebote eingeschränkt wird - wobei ja noch eigens zu diskutieren wäre, ob nach jüdischem Verständnis dem der Tora in der ermäßigten Form der Noah-Gebote folgenden Heiden denn auch tatsächlich das Heil gewiß ist: Die einander widersprechenden Texte, anhand derer M. das Problem wenigstens thematisiert (III,1, 180 f., vgl. ebd. 210-212) sind kaum geeignet, einem Zweifelnden an diesem Punkt Gewißheit zu vermitteln.

3.3. Der christologische § 3 insgesamt ist nicht ganz uninteressant und bietet eines der vielen Beispiele dafür, daß und warum man die eigenständigen Interpretationen biblischer Textkomplexe in der Dogmatik M.s eigentlich immer auch mit Gewinn liest: M. problematisiert die Deutung der Evangelien als ’Passionsgeschichten mit ausführlicher Einleitung’ und weist darauf hin, daß die Evangelien nicht mit der Passion, sondern mit der Auferweckung enden, und eigentlich auch nicht damit, sondern mit der Berufung der ersten Jesusjünger bzw. der ersten Gemeinden, die im Lichte der Wirkungen des Lebens Jesu an ihnen und damit im Lichte des kommenden Gottesreiches leben (vgl. 359 und Vorausgehendes; 361; 371; 379 apokalyptischer Kontext). M. erreicht mit dieser gerade in der Durchbrechung gängiger exegetischer Zugänge frischen Deutung der Evangelien, daß diese vollständig unter die Kategorie der Zukunft und der Eröffnung von Zukunft zu stehen kommen: Nicht der Rückbezug auf eine historische Vergangenheit, sondern die Erfahrung der Zukunft Jesu ist damit die Grundintention dieser Texte, die Teilgabe an einem Lebensvollzug, der nicht in der Vergangenheit liegt und in einer abständigen Zukunft - mit dem Kommen Jesu zum Gericht - weitergehen wird, sondern der aus der Zukunft kommend die Christen auf diese Zukunft ausrichtet. Das Leben Jesu und seine Passion wird um der Zukunft des Kommenden willen berichtet; der Christ erhält Anteil am Leben des ’Zukunftsmenschen’, des ’kommenden’ Täters der Tora.

Ich möchte jetzt einmal davon absehen, daß die fachexegetische Verifizierbarkeit der Ausführungen M.s und auch die Wiedergabe von Kählers Anliegen nach meinem Eindruck Probleme aufwerfen. Hier kommt es darauf an, die im Hintergrund stehende dogmatische Absicht zu erfassen: Es geht M. darum, die existentielle Bedeutung der Lehre von den Letzten Dingen - Jesu Kommen zum Gericht - für das christliche Leben wieder sichtbar zu machen; dies eben so, daß er das gesamte Leben Jesu der Perspektive seiner Wiederkunft unterstellt und damit das Leben der Christen als Leben in der Ausrichtung auf den Kommenden bestimmt. Dies hat eine hermeneutische Pointe: M. widerspricht damit den Bemühungen um eine Hermeneutik, die sich in der Vergegenwärtigung von Vergangenem erschöpft: Hermeneutik, so könnte man im Sinne M.s vermutlich sagen, erfolgt in der Selbstvermittlung Gottes aus der Zukunft in das Leben der Menschen, nicht aber in der Reinterpretation vergangener Ereignisse auf eine Gegenwart hin (III,1, 351 ff.).

Damit wird ein Grundzug dieser Eschatologie und der Theologie M.s insgesamt erkennbar: die konsequente Reinterpretation des Verhältnisses von Gott und Mensch bzw. Gott und Welt unter dem apokalyptischen Schema von hereinbrechender Zukunft und ’altem Äon’ - vorbehaltlich der noch zu skizzierenden Bedeutung der ’Raum-Kategorie’ für die Eschatologie; so schreibt M. ausdrücklich, daß ’Gott und Zukunft zuhauf’ gehören: Gerade damit versucht M. - darin doch wohl Moltmann folgend - die kirchen- und gesellschaftskritischen Implikationen der frühen dialektischen Theologie weiterzutransportieren (III,1, 42 f.).

3.4. Ein weiteres Thema (Band III,2): Die Ausführungen über den Tod. Insgesamt scheint diese Dogmatik nicht entlang einer eigenen Struktur, sondern am Leitfaden des Gedankenganges biblischer und rabbinischer Texte entwickelt zu werden, und zwar auf ein Ziel hin, das der Autor zu Beginn noch nicht recht zu formulieren weiß. Die Passagen zum Topos des ’Todes’ machen allerdings sichtbar, daß dieser Eindruck trügt: Im Zentrum steht eine theologische Deutung des Todes, derzufolge der Tod eben nicht vom physischen Sterben her zu deuten ist, sondern das Verfehlen einer Gottesbeziehung, aus der das Leben besteht, darstellt (III,2, 81 ff., bes. 85 ff). Das Zentrum dieser Gottesbeziehung aber ist der Toragehorsam: "Biblisch heißt Leben per definitionem: An der Tora Gottes teilnehmen und damit an der irdischen Geschichte Israels. Und am Evangelium Gottes teilnehmen und an den Wegen Jesu. Und das Andere davon heißt ’Tod’." (ebd. 86) Erst von dieser Definition des Lebens her wird die Erfahrung des Todes in Negativphänomenen identifiziert, die von der Schrift her als Wirken des Todes im Leben beschreibbar werden: Der Verfall im Alter, die physische Krankheit, der Entzug von Erfüllung, Kinderlosigkeit, Verlust von Gemeinschaft (96-99).

Man merkt zunächst im Hintergrund die Grundstruktur der Verhältnisbestimmung von Gottes Wille und Nichtigem bei Barth: Wie dort Gottes Wille dem Nichtigen vorausgeht, so hier - an sich - das Leben dem Tod, der dessen Negation und die unbegreiflich mögliche ’Wahl’ des Sünders ist (99ff.). Andererseits steht in der aufgrund dieser Wahl dem Tod verfallenen Welt - entsprechend dem ’in die Hände der Sünder’ gelegten Gesetz - das Leben unter dem Vorzeichen, daß es dem Tode abgerungen ist und Gott der Herr des Todes nur so ist, daß er es in einem ’dramatischen Geschehen’ wird (vgl. dazu 88 f.). Der Passus kulminiert in einer ’Christologie des Todes’, in der M. zu zeigen sucht, was seine Bestimmung des Lebens als Voraussetzung des Todes und die entsprechende Bestimmung Gottes als ’Vorgesetztem’ des Todes erbringt: Auf den Grundgedanken reduziert beschreibt M. den Tod Jesu als den von Jesus gewählten Weg aus der Nähe Gottes in die Todesverfallenheit des Menschen, ein Weg, den er nach dem Willen Gottes geht, der darin sich des Todes - seines Widerparts - bedient, um dem Tod den Charakter der Gottesferne zu nehmen, indem Jesus - als der ihm ’Nächste’ - in dem Sterben des Gottesfernen ist, das dadurch nicht mehr gottesfern sei (120). M. deutet den Tod Jesu als die Durchsetzung der Gottesnähe - des Lebens im genannten Sinne- gegen die Gottesferne und in der Gottesferne: Der Tod verliert diesen Charakter.

Dazu gehört nun der zweite Gedanke, nach dem M. entschieden daran interessiert ist, Gott selbst von jeder Verbindung mit dem Tod auch im Sterben Jesu freizuhalten: Gott bedient sich des Todes zur Durchsetzung der Gottesnähe des Menschen, aber "er ist ihm nicht selbst verfallen" (126). Jede Andeutung einer Auseinandersetzung etwa mit der bei Luther und der lutherischen Tradition ja nun nicht aus Lust am theologischen Paradox, sondern gerade aus dem von M. hervorgehobenen soteriologischen Interesse motivierten Verbindung Gottes mit dem Tod unterbleibt hier, dies aber eben um den Preis einer theologischen Harmlosigkeit des undifferenzierten Widerspruches gegen eine ’Gott ist tot’-Theologie. Ein solcher ’harmloser’ Widerspruch mutet gerade in einer Theologie merkwürdig an, die sich die Wahrnehmung der jüdischen Frage nach dem Tode Gottes nach Auschwitz in der christlichen Theologie auf die Fahnen geschrieben hat (I, 124-145): Angesichts der im ersten Band der Dogmatik von Auschwitz her an eine traditionelle Gotteslehre gestellten Fragen, die M. ja ausdrücklich im Kontext der referierten Passage aufnimmt (III,2, 44 ff.), berührt die Schlichtheit dieser doch zuletzt ganz unangefochtenen Behauptung eines Gegensatzes von Gott und Tod merkwürdig, zumal sie mit dem Schrecken von Auschwitz nicht vermittelt wird: Inwiefern ergibt sich denn hier nun eine Möglichkeit der Rede von Gott nach Auschwitz? Wo unterscheidet sich denn diese Rede von einem vom Vergehen auch im Tod Christi unberührten Gott von dem zuvor kritisierten angeblichen Überspringen des Phänomens der Vergänglichkeit im Kontext der griechischen Philosophie?

Parmenides überspringe den Tod und die Vergänglichkeit in einer Lehre von einem vom Vergehen unberührten Sein, war hier zu lesen (ebd. 76 ff.) - wo doch Parmenides im zweiten Teil seines Lehrgedichtes das Phänomen des Vergehens durchaus nicht übersprungen hat, wie M. zu vermuten scheint; auch Aristoteles wußte doch um die Sterblichkeit des Menschen - es ist daher wieder ein ärgerlicher Unsinn, wenn ein Beispiel des Aristoteles für die Unterscheidung von Substanz und Akzidens (Sokrates bleibt, auch wenn er außerwesentliche Eigentümlichkeiten, etwa die Musikalität, verliert) von M. als Behauptung eines ’ewigen Seins’ des Sokrates gedeutet wird (ebd. 79, vgl. auch das direkt vorangehende Mißverständnis der Kritik des Aristoteles an der Elementenlehre). Was die Lehre M.s von dem vom Tod nicht berührten Gott von der (angeblichen) griechischen Lehre von einem unvergänglichen Sein unterscheidet, kann ich so nicht erkennen.

Zurück zum Größerflächigen: Die skizzierte Passage zum Tod hat eine innere Beziehung zur Passage von der Auferstehung (III,3; § 6), die M. in der Grundstruktur ebenfalls als einen Urteilsspruch Gottes auslegt, in dem Gott dem Todeswillen und der Wahl des Todes durch den Menschen widerspricht und diesen zum Leben richtet (III,3, 102; 106); M. fragt schließlich am Ende dieses Abschnittes nach dem Sinn der zunächst zugestandenerweise metaphorischen Rede von der Auferstehung, nach der Wirklichkeit der Auferstehung also. Die Grundstruktur des Abschnittes ist die, daß M. die (angedeutete) Rede von der Auferweckung in der Tora als Erschließung des Zeugnisses für die Wirklichkeit der Auferweckung in Geschichte und Natur deutet. Der erste Abschnitt über das ’sprachlich-Wirkliche’ der Auferweckung soll das Problem lösen, daß von ’Auferstehung’ im Text des AT nur in schmalen Andeutungen die Rede ist; der Titel weckt zunächst Erwartungen in Richtung einer Sprachtheologie, die er dann aber nicht erfüllt: M. vollzieht sehr einfach einige rabbinische Textauslegungen nach, die sprachliche Eigentümlichkeiten des biblischen Textes als Reflex der Erwartung einer Auferstehung deuten - und was ich als Hineinlesen von Zukunftserwartungen in den Bibeltext beschreiben würde, faßt M. als eine Eigentümlichkeit des jüdischen Schriftverständnisses, das sich ’der Auferweckung der Toten ... aus dem Lebendigen, Vielsagenden der Sprache ihres Gesetzes und des Gesetzes ihrer Sprache vergewissert’ (ebd. 153). Die mündliche Tora i.S. des im Selbstverständnis Israels Gegebenen (eben die Auferweckung) sei die hermeneutische Prämisse dieses Schriftverständnisses - im Klartext: Es wird etwas in den (philologisch explizit anderslautenden) Text hineingelesen und behauptet, das sei das ursprünglich Gemeinte (ebd. 152 f.; vgl. eine ähnliche Behauptung der dem jüdischen Volk eigentümlichen Möglichkeit des Schriftverständnisses: III,2, 159 unten). Das mag eine Hermeneutik sein, zwar wortgewaltig einhergehend (die ’wesenhafte Mitbestimmung der Zeiten’; die ’Sprache als Medium der Zukunft’), bei näherem Zusehen aber doch arg schlicht.

Interessanter sind die beiden anschließend genannten Anhaltspunkte für die Auferstehung, nämlich die geschichtliche Rettungserfahrung Israels und des Einzelnen, in der die Macht Gottes über den Tod erfahren werde, und die natürlichen Analogien zur Auferweckung (ebd. 153-161). All dies seien Indizien für die Macht Gottes über den Tod - eine Lehre vom Wunder in nuce, die dann durch den ’sehr einfachen’ (161) Hinweis auf die Auferweckung Jesu von den Toten abgeschlossen wird. Und hier wird dann auf ca. 2 Seiten völlig unproblematisiert und unberührt von jeder Diskussion das Zeugnis des Paulus in 1Kor 15 wiederholt: Ohne die Auferstehung Jesu kein christlicher Glaube (ebd. 161 f.).

Jede Frage nach dem Sinn und der theoretischen Vermittelbarkeit dieser Aussage wird abgeschnitten durch den Hinweis, es gehe darum, diese Botschaft zu bewähren und zu leben, nicht zu verstehen oder theoretisch zu verifizieren. Hier hält sich die Grundtendenz der vorangehenden Passagen bzw. die Grundsignatur dieser Eschatologie insgesamt durch, die eine Anleitung zum Leben aus der Hoffnung, nicht eine theoretische Vermittlung von ’Letzten Lehrinhalten’ sein will: Die ethische Transformation von Lehrinhalten in eine in der Antithetik der alten Wirklichkeit unter dem Todesvorzeichen und der anbrechenden Wirklichkeit des aus der Zukunft kommenden Gottes entschiedene Existenz: "Grundlos in sich als das schlechthin Unglaubliche, bedarf es [das Wort vom Tode, der verschlungen ist in den Sieg] dessen, daß wir es nachträglich begründen, ihm Grund geben in unseren Leben und dem unserer Gesellschaften" (ebd. 162).

Die Auferstehung von den Toten am Ende der Zeiten, so könnte man vermutlich zusammenfassen, ereignet sich und verifiziert sich wesentlich in der Ausrichtung des Lebensvollzuges auf die Zukunft des auf die Gegenwart zukommenden und verändernden Gottes, nicht in der isolierten und gar nur theoretischen Ausrichtung auf eine Vergangenheit der Auferstehung Jesu und eine Zukunft seines Kommens zum Gericht. Allerdings fragt man sich dann doch, warum und in welchem Sinn sich diese Neubegründung und -ausrichtung der Existenz auf die Auferstehung Jesu bezieht: Die Auferstehung Jesu wird eingeführt als Parallele zu den Erfahrungen der Auferstehungsmacht Gottes in der Geschichte Israels (s. o.) und soll wohl dieser Macht Gottes vergewissern - wobei die Auferstehung Jesu, mit solcher Beweislast bedrängt, doch die klassischen Fragen geradezu aufnötigt, an denen M. aber unberührt vorbeigeht, denn seine Dogmatik bietet Halacha, nicht Vermittlung mit der Wissenschaft. Spätestens am hier referierten Punkt besteht Anlaß zu der Frage, ob das denn funktionieren kann.

3.5. Ich notiere lediglich im Vorbeigehen die in § 7 (A) vorgetragene Deutung des Gerichtes als Dialog wechselseitiger Rechtfertigung Gottes und des Menschen und komme zu einem Thema, das deutlich macht, daß M. bereit ist, der Bindung an das Judentum auch die "political correctness" zu opfern: die Deutung der Errichtung des Staates Israel als endzeitliches Heilsereignis (III,2, 187 ff.). Insgesamt ordnet sich diese Passage dem § 5 ein, der den klassischen Topos der ’Zeichen der Zeit’ aufnimmt (III,2, 140, vgl. 137 ff.) und modifiziert zu einer christlichen Geschichtstheologie (III,2, 164 ff.), die wesentlich die Funktion des Trostes und vor allem der Orientierung der Heilsgemeinschaft habe - wieder das Motiv der Deutung der klassischen Inhalte auf ein ethisches (Lebensvollzug ermöglichendes) Zentrum hin (III,2, 145-155).

Die Passage setzt ein mit einer Orientierung über den Sinn der Kirche als ’Mitläufer Israels’ (ausdrücklich 164, vgl. Vorangehendes): Die Kirche hat ihren Sinn in einem beständigen empfangenden Verhältnis zu Israel und im Dienst an ihm: "Die Geschichtlichkeit der Kirche war und ist eine Israelgeschichtlichkeit. Das ’Sein’ der Kirche steht und fällt in ihrer empfangenden Beziehung zu Israel und in ihrem aktiven Wirken für das jüdische Volk: dafür, daß es inmitten der Völker seinen anerkannten Platz, seinen Frieden und darin die Stillung seiner messianischen Sehnsucht erfahre" (159). Ich empfehle nur zu überlegen, wie eine klassische Antwort auf die Frage, womit das ’Sein’ der Kirche steht und fällt, lauten würde - man wird so aller Implikationen der Position sofort ansichtig.

M. wendet sich auch hier wieder gegen einen parallel zum jüdischen verlaufenden christlichen Weg (158), aber eben auch gegen die Selbst-Einverleibung der ’gojim’ in das jüdische Volk: Es geht um einen Dienst der Kirche am jüdischen Volk, wobei der Kirche das ’antiheidnische’ Zeugnis obliegt; Israel hingegen "lehrt und lebt die Wahrheit Gottes: angefochten und bestritten zwar, aber doch in der Form einer Selbstgewißheit, die so keinem Heidenchristen erschwinglich ist und das, was Tora, Propheten und Schriften sagen, mit anderen Akzenten hört, als wir mit unseren heidnisch-gebildeten Ohren und Herzen" (159).

Der Dienst für Israel ’und seinen anerkannten Platz’ (s. Zitat oben) ist ganz wörtlich gemeint und wird in M.s Dogmatik selbst vollzogen - in Gestalt eines ebenso problematischen wie beeindruckenden Plädoyers für den Staat Israel als heilsgeschichtliches Ereignis (III,2, 266). Ausdrücklich wird (ebd. 252 und ff.) der Staat Israel von 1948 als die Instanz gelesen, von der her die Buchstaben der alttestamentlichen Landnahme neu zu buchstabieren sind, und ausdrücklich wird 266 f. notiert, daß die im Text vorangegangenen Ausführungen zur Landverheißung, zur Tora des Landes etc. im AT (187-266) zu lesen seien auch auf den gegenwärtigen Staat Israel hin. Und in diesen Ausführungen (187 ff.) erfolgt nun nicht nur die (in extremen Ausmaßen geographisch bestimmte: 190, vgl. aber 206 f.) Zuweisung des Landes an das jüdische Volk (unter Abweis aller Ansprüche derer, ’die sich heute als palästinisches Volk begreifen’ und ’keineswegs Nachkommen der alten Philister’ sind, 198), sondern es erfolgt auch eine Rechtfertigung von Vertreibung und heiligem Krieg (als Gestalten des Gerichtes, vgl. 209). Alles dies wird vorgetragen unter dem Vorzeichen des Gespräches mit den wachsamen Ohren der politisch Korrekten (207, 199 u. ö.): Die Vertreibung der Völker bei der Landnahme- die von M. umstandslos der Gegenwart parallelisiert wird (vgl. 198; 207) - sei nicht eine Vernichtung, sondern vielmehr eine ’Enterbung’ (202 ff.), die dem ’Enterbten’ in das Rechtsverhältnis der Fronknechtschaft verhilft (205 f.): "Dies gilt es festzuhalten: Sie ’blieben ansässig’, ... ’nur’ ihre Rechtsstellung wurde verändert, sie wurden Abhängige, Bürger zweiter Klasse - so wie es bis zum heutigen Tage in südlichen Gesellschaften noch gang und gäbe ist ..." - und dann folgt noch ein Hinweis auf die Geschicke der jüdischen Minorität im christlichen Abendland und das deutsche Ausländerrecht, wo es dergleichen ja auch gebe. Offenbar rechtfertigt das die Rechtsstellung der Enterbten- ein Bärendienst, nebenbei!

Das Thema der Bannvollstreckung wird - wenn ich nichts überlesen habe - nicht einmal gestreift, wohl aber ausdrücklich die ’bleibende Aktualität’ der Landverheißung und ihrer Kontexte hervorgehoben (207 f).; diese Erinnerung macht deutlich, daß die unter 2. (,Die Tora des Landes’, 210 ff.) eingeschärfte Bindung der Landverheißung an die Befolgung der Tora und das dort implizit eingeschärfte Fremdenrecht (237 ff.) jedenfalls keine Korrektur der ’Enterbung’ impliziert. Endgültig bricht M. mit allen Regeln der "political correctness", wenn er das ’fundamentale Unrechttun’ als die Prämisse der Utopie des Landes ausgibt - Landverheißung lasse sich nun einmal nur durch Landnahme verwirklichen (228), die Verheißung nur durch Unrecht realisieren: "Das Oben ist nur durchs Unten zu erreichen, anzuzielen. Das Judentum behauptet mit seiner Zusammenbindung von schriftlicher und mündlicher Tora die Wahrung des Realitätsprinzips im Angesicht jedes utopischen Lustprinzips, behauptet den Widerspruch der Wirklichkeit gegen die Verheißungen und das Gebot Gottes, besser noch: schützt Verheißung und Gebot vor ihrer Verlustierung durch Idealisten" (228 f.). Realitätssinn statt Ideal - das sind starke Worte am Anfang eines Abschnittes, der überschrieben ist mit ’Krieg ums Land’ und der den Krieg um das Land im ständigen Blick auf die Gegenwart rechtfertigt.

Eine unter ’7.’ nachgeschobene ’Palästinensische Befreiungstheologie’ (275) gedenkt der Opfer. Die Weichen werden gestellt, indem kühn Lessings Ringparabel dahin aufgelöst wird, daß Gott Israel den wahren Ring gegeben habe und ’Christenring und Muslimring ... Nachbildungen, wenn nicht gar Fälschungen’ (ebd. 278) sind - jedenfalls, wenn sie in der Absicht, Israel zu enterben, eingesetzt werden. Die folgende ’Befreiungstheologie’ kulminiert dann in einer unsäglich peinlichen Passage, in der M. versucht, aus der Perspektive eines palästinensischen Christen - ausdrücklich nur um die geht es (281!) - die Situation eines bedrückten Volkes zu beschreiben, politische Optionen zu bewerten (283 f.) und hier die Identifikation mit dem anklagenden und auf Zurechtbringung dringenden Täufer Johannes zu empfehlen (282 ff.), dazu eine Christuszentrierung, die an ’Jesus nicht ohne sein [jüdisches] Volk’ denkt. Das gipfelt darin, daß M. schließlich - unter vielen Vorbehalten und Selbsteinwänden freilich - den palästinensischen Christen mit Luther das ’Leiden, Leiden, Kreuz, Kreuz’ als des Christen Recht (ausdrücklich nicht: Pflicht) anrät (ebd. 285).

Alle Selbsteinwände und Vorbehalte M.s gerade in dieser Passage heben die Peinlichkeit nicht auf, die nicht in der realpolitischen Option M.s zu suchen ist, gegen die ich gar nichts habe; peinlich ist die Willkür einer theologischen Überhöhung politischer Optionen, die der Staat Israel selbst klugerweise seinen Bürgern und Parteien überläßt, sich dabei gerade weigernd, etwas anderes als ein säkulares Staatswesen zu sein - und eben dies ist einer der Züge, der diesen Staat so unterstützenswert macht: daß er sich nicht offiziell und gerade auch nicht in der politisch unumgänglichen Anwendung von Gewalt als Gottesstaat versteht. Es ist das eine, Krieg führen zu müssen um das Überleben, und ein ganz anderes, diesen Krieg theologisch zu überhöhen und sogar noch in der von Israel nicht erzwungenen Flucht der Palästinenser aus Israel nach 1948 den ’Gottesschrecken’ des Alten Testaments zu identifizieren (261-263).

3.6. "Negative Theologie. Theologie von der Kehrseite Gottes. Theologie des Ausweichens. Lob aus der Tiefe, aus dem Gott-Hinterhersehen - Befreiungstheologie der Enterbten. Befreit von der Macht des Christseins: rein europäisch gedacht, sogar bloß deutsch" (285). Ein Zitat aus den letzten Sätzen der Passage zur ’palästinensischen Befreiungstheologie’, die also ein Aufruf zum Leiden und zum Machtverzicht ist. In der Tat: Das ist ’bloß deutsch’ gedacht, die ganze Dogmatik ist ’deutsch’, aber in einem anderen Sinne, als der Selbsteinwand M.s impliziert: Die - völlig unstrittige - deutsche Schuld wird dem Christentum insgesamt auf die Schultern gewälzt und aus ihr eine Einsicht in ein wahres Christentum abgeleitet, an dessen Wesen alle Christen auf der Welt - hier eben die palästinensischen - genesen sollen.

3.7. Die Israeltheologie, die Theologie von der Landverheißung, ist der Hintergrund einer den ersten Teil des vierten Bandes der Eschatologie, die ’theologische Utopie’, prägenden Merkwürdigkeit: M.s Plädoyer für eine Wiederentdeckung der ’Raumkategorie’ in der Eschatologie, die zugunsten der Zeitkategorie des zeitlichen Jenseits vergessen sei (etwa 62 ff. unter der Überschrift ’Utopie und die Gabe Lebensraum’ [!]). Die Zukunft findet hier ihren Ort und sozusagen ihren Beginn - die Kibbuzim im Land Israel etwa (31 f.; vgl. 64 f.).

Das ganze wird überführt in eine Lehre von Natur und Kultur unter den Titeln des ’Gartens’ (Eden) und der ’neuen Stadt’ (Jerusalem) (§ 8, 3. und 5.). Ich gehe dem nicht weiter nach; entscheidend ist für das Verständnis des theologischen Grundgedankens M.s, daß er in diesem Teil der Dogmatik Elemente der beredt verschwiegenen Schöpfungslehre nachträgt.

Diese fehlt in der Tat in der Dogmatik. Bezugnahmen auf die Schöpfung findet man lediglich in Passagen, in denen die Schöpfung selbst - in schweigender Anlehnung an Barth - als Hintergrund des Heilswirkens Gottes an Israel bestimmt wird (III,2, 188); nun wird der Bericht vom Garten Eden als Utopie gedeutet und damit konsequent der schon mehrfach notierten Umorientierung des dogmatischen Stoffes unterworfen: Der Deutung aller Inhalte unter der Prämisse, daß Gott aus der Zukunft auf eine dem Unheil verfallene Gegenwart zukommt; und konsequenterweise findet man dann eben in diesem Teil der Dogmatik auch die Gotteslehre als Lehre vom eschatologischen Gotteslob, das in Israel bzw. der Heilsgemeinde bereits in der Gegenwart laut wird (III,4, 276 ff.).

Wenigstens zu erwähnen sind die dort unternommenen Versuche M.s, der Trinitätslehre den Anstoß zu nehmen, den sie dem Judentum bereitet; M. versucht hier, in der kirchlichen Trinitätslehre das sich in der Dreiheit der Personen artikulierende Motiv der durch Jesus von Nazareth vermittelten Begegnung der Heiden mit Gott und der Nähe zu ihm durch den Geist Jesu Christi zu verbinden mit der Wahrung der Transzendenz Gottes auch gegenüber diesen Instanzen der Vermittlung Gottes mit der Welt: Die Trinitätslehre ist Ausdruck des Lobes Gottes über den den Heiden in Christus eröffneten ’Weg’ und stellt eine strukturelle Analogie zum Verhältnis von Gott und Tora im Judentum dar (III,4, 565), ist aber selbst zur Aufhebung in der endgültigen Einheit der Personen in der mit Gott geeinten Menschheit bestimmt (566 ff.) - was aber eben dadurch gelingt, daß die Gottheit Jesu im traditionellen Sinne negiert wird (571) und Jesus als Repräsentant der mit Gott vereinten Menschheit und nur so als Sohn Gottes prädiziert wird. Die Differenzierung Gottes ist heilsgeschichtlich bedingt und zielt auf die letzte Einheit Gottes, die den Menschen einschließt, und in diesem Sinne gehört nach M. die Lehre von Gott in die Zukunft bzw. in die Eschatologie (vgl. auch III,2, 179).

4. Fazit

Es sind nach meinem Eindruck zwei Elemente, die M.s Dogmatik zusammenhalten: erstens die Konzentration aller Stoffe auf die Zukunft in dem Bemühen, die kritischen Impulse der Theologie des jüngeren Barth und deren Verweigerung gegenüber der Vermittlung Gottes mit irdischen Wirklichkeiten unter der Prämisse des Gegensatzes von Zukunft und Gegenwart zu reformulieren. Dabei wird diese Zukunft konsequent auf die Vergegenwärtigung und ethische Orientierung des christlichen Lebensvollzuges in der Gegenwart hin ausgelegt. Das zweite Element ist die Konzentration aller christlichen Spezifika auf das Original und die Quelle des Gottesverhältnisses: das Volk Israel bzw. das Judentum.

Fussnoten:

Man könnte fragen, ob nicht beides miteinander zu tun hat, und ob sich nicht in dieser Bezugnahme auf Israel möglicherweise eine tiefe Aporie des in der ersten Eigentümlichkeit zum Ausdruck kommenden Erbes der Barthschen Theologie verbirgt: Diese leidet unter der Aporie, daß unter der beständigen Absage an jede Vermittlung Gottes mit der konkreten Wirklichkeit, die es neben dem Menschen Jesus von Nazareth ja auch noch gibt, die Rede von Gott irrelevant zu werden droht und eines Inhaltes bedarf, gegen den sie sich nicht nur negativ verhält, an dem sich die Bedeutsamkeit der Rede von Gott positiv ausweisen läßt: Ein faßbares initium der Zukunft inmitten der massa perditionis. Und dies ist ihm, M., Israel, weil alles andere dies nicht sein darf; ein Israel, das das Zentrum der Wirklichkeit darstellt und um das sich in konzentrischen Kreisen die in Christus in den Bund berufene Kirche aus den Heiden und die Völker der Welt insgesamt ordnen, um so erst und in Zukunft auf Gott im Zentrum hin ausgerichtete Schöpfung zu sein: "Dieser Gott ist der Gott der Juden, ehe er der Gott der anderen Menschen ist, ist partikular scheinender ’Volksgott’ ..., ehe er ’universaler’ Menschheitsgott ist. So sehr dies ’ehe’ auch Signal für einen geschichtlichen Weg ... ist, signalisiert es doch in der Hauptsache ein unüberwindbares theologisches Verhältnis: Dieser Gott will als Menschheitsgott nur wirken, indem er der Gott des jüdischen Volkes war, ist und bleibt ..." (III,2, 179). Und so wird plötzlich aus dem Geiste der Barthschen Theologie eine Geschichtstheologie möglich, genauer: eine Deutung ganz konkreter Geschichte als Gotteshandeln und eine Sinngebung aus theologischen Quellen an Sachverhalte, die sonst als ’natürlich’ und gottlos gelten: Ein konkretes Volk und sogar ein bestimmtes Land als Volk und Ort der Utopie. Vielleicht ist dies- eine Aporie spezifisch Barthschen Erbes - zumindest auch ein movens im Hintergrund dieses Entwurfes.



* Marquardt, Friedrich-Wilhelm: Was dürfen wir hoffen, wenn wir hoffen dürften? Eine Eschatologie. Bd. 1-3. Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 1993/94/96. 482 S., 415 S., 565 S. gr.8. Lw. DM 98,-, 118,-, 148,-. ISBN 3-579-01925-2, 3-579-01945-7, 3-579-01946-5. (zit. als Teil III oder III,1 [2; 3])

Marquardt, Friedrich-Wilhelm: Eia, wärn wir da - eine theologische Utopie. Gütersloh: Kaiser/ Gütersloher Verlagshaus 1997. 608 S. gr.8. Lw. DM 168,-. ISBN 3-579-01947-3. (zit. als III,4).

Zitiert werden auch die vorangehenden Bände der Dogmatik Marquardts: Ders.: Von Elend und Heimsuchung der Theologie. Prolegomena zur Dogmatik. München 1988 (zit. als ’Teil I’ oder I). Ders.: Das christliche Bekenntnis zu Jesus, dem Juden. Eine Christologie, 2 Bde. Gütersloh 1990 (zit. als ’Teil I’ oder II,1 und 2).