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Ausgabe:

Februar/2000

Spalte:

189–192

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

(1) Hofmann, Frank (2) Hofmann, Frank [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

(1) Albrecht Ritschls Lutherrezeption.
(2) Albrecht Ritschl. Kleine Schriften.

Verlag:

(1) Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1998. IX, 292 S. gr.8 = Die Lutherische Kirche. Geschichte und Gestalten, 19. Kart. DM 78,-. ISBN 3-579-00387-9.
(2) Waltrop: Spenner 1999. 193 S. gr.8 = Theologische Studien-Texte, 4. Kart. DM 28,-. ISBN 3-933688-11-6.

Die Titelformulierung der ersten zu besprechenden Arbeit, einer im Sommer 1993 angenommenen Tübinger Diss. theol. (Betreuer Chr. Burger, Korreferent U. Köpf), will ernstgenommen sein. Im Anschluss an neuere vor allem germanistische Überlegungen (5-16) will der Vf. nicht das Lutherbild Ritschls nachzeichnen oder sein Lutherverständnis, sondern eben seine Lutherrezeption. Es geht in dieser kirchengeschichtlichen Arbeit also in erster Linie um die Genese und weitergehende Ausformulierung der eigenen systematisch-theologischen Position Ritschls. Der Vf. fragt, "wie Ritschl als bewußt neuzeitlicher Theologe des vergangenen Jahrhunderts mit der Theologie des Reformators umgeht, wie er sie sich aneignet, welche Elemente er ablehnt und welche er in sein eigenes theologisches Denken einfügt" (8). Dadurch ist der Vf. vor der Gefahr gefeit, Ritschl schnellfertig an Luther (bzw. an seinem eigenen Lutherverständnis) zu messen bzw. abzuurteilen (eine neuere Arbeit, die an einem anderen Gegenstand so verfährt, zitiert er 234 mit Anm. 44).

Aus dieser methodologischen Vorgabe ergibt sich die Anlage der Arbeit wie von selbst. Zunächst wird das forschungsgeschichtliche Terrain vermessen: Im Anschluss an ältere und neuere Überblicksdarstellungen skizziert der Vf. den "Stand der Lutherforschung und Lutherdeutung zur Zeit Ritschls" (16-22). Hier wäre es sicher nützlich gewesen, etwas ausführlicher eigens auf solche Autoren einzugehen, von denen sich Ritschl dezidiert abgesetzt hat (neben dem öfters erwähnten C. Ullmann wäre vor allem auf Ritschls Lehrer F. Chr. Baur, aber auch auf seinen Göttinger Amtsvorgänger I. A. Dorner einzugehen gewesen, zu Ritschls generellen Unbehagen an der kirchen- und dogmengeschichtlichen Forschungslandschaft seiner Zeit gerade auch hinsichtlich der Reformation s. Rechtfertigung und Versöhnung I2, S. 26 f., zit. 43, mit Anm. 37). Es folgt ein Forschungsüberblick (23-35), der sich in der Auswahl der Ritschl-Literatur strikt auf solche Arbeiten beschränkt, die dem Thema Ritschl-Luther i. e. S. gewidmet sind, und Untersuchungen beiseite lässt, die generell seinem Verständnis der Kirchen- und Dogmengeschichte allgemein oder des Protestantismus insbesondere gelten.

Das Corpus der Arbeit bildet dann ein chronologischer Gang durch Ritschls Gesamtwerk von den frühen patristischen Studien bis zu dem unabgeschlossen hinterlassenen Buch über die Fides Implicita. Mit unermüdlichem Fleiß spürt der Vf. die Lutherbezüge auch in kleineren Arbeiten Ritschls auf und verfolgt akribisch die Veränderungen der Bezugnahmen auf Luther in den Werken, die mehrere Auflagen erfahren haben ("Rechtfertigung und Versöhnung", "Unterricht in der christlichen Religion"). Von eigenem Interesse ist die Tatsache, dass Ritschl nie wirklich auf die Erlanger Lutherausgabe, die er besessen hat (248 mit Anm. 17), "umgestiegen" ist, sondern durchweg ältere Ausgaben (v. a. Walch und Löschers Reformations-Acta) benutzt hat - vielleicht ein Indiz dafür, dass die Erlanger Ausgabe zur Zeit ihrer Entstehung eher als Parteiunternehmung denn als ernstzunehmender wissenschaftlich-editorischer Fortschritt eingeschätzt wurde. Der Vf. arbeitet heraus, dass Ritschls Vertrautheit mit Luthers Werk quantitativ und qualitativ konstant gewachsen ist (vgl. in Kürze die instruktive tabellarische "Übersicht über die von Ritschl benutzten Luthertexte", 237-245). In Ritschls immer intensiver werdendem Umgang mit und Bezug auf Luther lassen sich unterschiedliche, aber eng miteinander verschränkte Motive ausmachen. Ritschl hat sich selbst pointiert als einen Theologen verstanden, der im Kontext seiner Zeit produktive Ansätze der Theologie Luthers, die unter den Nötigungen des 16. Jh.s von ihm selbst und zumal von seinen Epigonen alsbald wieder verunklart worden waren, wieder zur Geltung brachte (vgl. prägnant 146). Dieses hochdifferenzierte Verständnis der Reformation und der reformatorischen Theologie implizierte für Ritschl die Aufgabe, zuweilen mit Luther gegen Luther zu argumentieren (vgl. 173 u. ö.), vor allem jedoch die Nowendigkeit, Luther gegen die repristinatorischen Sachwalter seines Erbes ins Feld zu führen.

Ritschl, seinem eigenen Selbstverständnis nach primär biblisch orientierter Offenbarungstheologe mit dem Anspruch, auf dem Boden der reformatorischen Lehrgrundlagen zu arbeiten, sah sich wegen seiner "Heterodoxien" (werttheoretische Reformulierung der Lehre von der Gottheit Christi, Vorordnung der Rechtfertigung der Gemeinde vor die des Einzelnen, Ablehnung aller "mystischen" Vorstellungsformen etc.) zunehmend verletzenden Angriffen ausgesetzt. Sehr schön weist der Vf. immer wieder nach, wie gerade diese polemischen und apologetischen Nötigungen Ritschl in seinem Umgang mit Luther immer weiter vorangetrieben haben (vgl. z. B. 157, 168, 183, 206, 222 f.). Aber damit ist das Bild nicht erschöpft: Ritschl hat, v. a. in seinen Festreden zum Lutherjubiläum 1883 und zum Göttinger Universitätsjubiläum 1887, auch explizit das von Luther inaugurierte evangelische Christentumsverständnis als einzig tragfähige sittlich-religiöse Grundlage des gesellschaftlichen Lebens im neuen Kaiserreich empfohlen. Sehr treffend bemerkt der Vf., dass es nicht ein politisch ideologisierter, sondern der dezidiert theologisch verstandene Luther war, dem Rischl diese Orientierungsfunktion zutraute (177-187).1 Diese subtilen Untersuchungen würzte der Vf. immer wieder mit Zeugnissen von Ritschls kaustischem Witz (vgl. z. B. 170 mit Anm. 5), aber auch seiner treffenden Selbstironie (z. B. 218 mit Anm. 929), die er der von dessen Sohn Otto Ritschl verfassten Biographie entnimmt (zur Geschichte der dort verarbeiteten Materialien vgl. 2 mit Anm. 7!). Abschließend kontrastiert der Vf. auf erhellende Weise Ritschls Luther-Rezeption mit der großangelegten "Theologie Luthers" von Theodosius Harnack, deren zweiter Band (1886) maßgeblich von der Auseinandersetzung mit Ritschl mitbestimmt ist: "Harnack entwirft ein Bild der Theologie Luthers, das in seinen Grundzügen auch heutigen historischen Maßstäben gerecht wird ... Die von Harnack vorgelegte Darstellung der Theologie Luthers ... zielt auf eine vollständige Übernahme derselben in die Gegenwart" und entgeht damit "nicht der Gefahr einer bloßen Repristination" (235). Seine Würdigung Ritschls fällt sehr wohlabgewogen aus. Er bescheinigt ihm zwar, er habe "die dynamische Struktur von Luthers Denken nicht hinreichend erfaßt" (258), vermag jedoch ebenso deutlich den hieraus entspringenden Gewinn auf den Begriff zu bringen: "Ritschls Lutherinterpretation ist keine Lutherrepristination. Sein Vorgehen ist selektiv, weil es produktiv ist. Ritschl ist sich dessen bewußt" (259). Dieses differenzierte Ergebnis verdankt sich, wie einleitend bemerkt, der rezeptionsgeschichtlichen Fragestellung, unter der der Vf. sein Thema traktiert.

Diese Fragestellung ist jedoch zugleich für ein gewisses Defizit verantwortlich. Gleichsam im Vorbeigehen arbeitet der Vf. immer wieder heraus, dass Ritschls Lutherrezeption in engstmöglichem Zusammenhang mit einem äußerst elaborierten Bild der Vorgeschichte und der Geschichte des Protestantismus steht. Seine Abgrenzung des genuin Reformatorischen in Luthers Theologie beruht auf ganz selbständigen Überlegungen zum Verhältnis Mittelalter-Reformation. Seine Bestimmung des Verhältnisses zwischen Luther und seinen Epigonen (Melanchthon) und der Differenzen zwischen den Reformatoren im klassischen Sinne und jenen Strömungen, die man gern als "Linken Flügel" der Reformationen bezeichnet, basiert ebenfalls auf dieser Grundlage, in der auch Ansätze religionssoziologischer Einsichten verarbeitet sind, die deutlich auf E. Troeltsch vorausverweisen (vgl. 60 f.). Vollends ist Ritschls Verständnis der Aufklärung, Kants und Schleiermachers konstitutiv für seine theologische Zeitdiagnose, für sein spezifisches Selbstbewusstsein und für die Stellung zu seinen Gegnern - und damit doch eben auch für seine Lutherrezeption. All das benennt der Vf. immer wieder durchaus zutreffend in seinem Durchgang durch Ritschls Gesamtwerk. Aber er verdichtet diese einzelnen Züge niemals zum Gesamtbild (ein Ansatz: "Die Stellung Luthers unter den Reformatoren nach Ritschl", 252-254). Daher ist sehr zu wünschen, dass der Vf., der ja wohl zur Zeit mit den Materialien vertraut ist wie kaum jemand sonst, diese Aufgabe in einer ergänzenden und flankierenden Arbeit löst. Er würde dadurch die Bedeutung seiner schönen, sorgfältig gearbeiteten und sehr gut lesbaren Studie für alle weitere Forschung an Ritschl noch einmal erheblich deutlicher ins Licht rücken.

Im Nachgang zu seiner Dissertation hat der Vf. sodann eine Sammlung "Kleiner Schriften" Ritschls veröffentlicht. Es handelt sich um vier Arbeiten, die im Umkreis und im Gefolge des Hauptwerks über "Rechtfertigung und Versöhnung" entstanden sind: Ritschls zweiteilige Selbstanzeige dieses Werks in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen (1874), den in dieser Selbstanzeige ebenfalls mitbesprochenen Vortrag über "Die christliche Vollkommenheit" (1874; 21889), die Streitschrift "Theologie und Metaphysik. Zur Veständigung und Abwehr" (1881; 21887), endlich Ritschls akademische Festrede zum Lutherjubiläum 1883. Ein besonderer Glücksgriff in dieser Auswahl sind die beiden Selbstanzeigen: Sie haben keine Aufnahme in die beiden von O. Ritschl herausgegebenen Bände der "Gesammelten Aufsätze" A. Ritschls gefunden, sind also seit ihrem ersten Erscheinen nie mehr nachgedruckt worden. Und es sind höchst wichtige Texte: Klar, präzise und verständlich wie kaum irgendwo sonst hat Ritschl sich hier auf ganz engem Raum über die leitenden Motive und Ziele seiner wissenschaftlich-theologischen Lebensarbeit ausgesprochen - für den Einstieg etwa in ein Seminar über Ritschl sind sie weitaus besser geeignet, als der "Unterricht in der christlichen Religion", dessen spezifisches Profil ja dem Leser erst deutlich wird, wenn er Vertrautheit mit dem Ansatz Ritschls mitbringt. Auch sonst ist die Textauswahl vollauf gelungen - als Kirchenhistoriker mag man allenfalls bedauern, dass der Aufsatz über "Die Entstehung der lutherischen Kirche" (1876) keine Aufnahme gefunden hat - eine höchst gehaltreiche Studie, die auch als Meilenstein in der Geschichte der Melanchthondeutung und -kritik hochbedeutsam ist. Aber das hätte natürlich den Umfang und den Preis des Bandes wieder erheblich gesteigert ... Abgeschlossen wird der Band durch eine Auswahl älterer Literatur zu Ritschl sowie eine Ritschl-Sekundärbibliographie seit 1942, die Anspruch auf Vollständigkeit erhebt (175-193; beides überarbeitet und mit Ergänzungen übernommen aus der Dissertation).

Der Band ist mit einer kurzen Gesamteinleitung versehen, die, wie die Einleitungen zu den Einzelschriften, zur Hauptsache von den Materialien in O. Ritschls Biographie seines Vaters zehrt und die Arbeiten lebens- und werkgeschichtlich einordnet. Über die Gegner, mit denen Ritschl sich v.a. in "Theologie und Metaphysik" auseinandersetzt, erfährt man nichts; nicht einmal die neueste Literatur zu ihnen ist verbucht. Die Texte sind jeweils "diplomatisch getreu" (15) der letzten von Ritschl selbst verantworteten Auflage nachgedruckt. Die Seitenzahlen der Druckvorlagen sind im Text reproduziert. Ob irgendwo Druckfehler berichtigt worden sind, ist aus der Einleitung nicht ersichtlich; mindestens einer ist jedenfalls stehengeblieben (124 müsste ebenso wie im Original Feuerhorn zu Feuerborn korrigiert werden). Überhaupt sind die den Texten beigegebenen Erläuterungen stellenweise allzu sparsam ausgefallen: Man wüßte schon gern, was Ritschl meint, wenn er 132 Anm. lakonisch auf "Theol. Literaturzeitung 1881. Nr. 4" verweist; ebenfalls heute kaum noch bekannte ntl. Exegeten, mit denen Ritschl sich auseinandersetzt, wären durchaus ein paar erläuternde Anmerkungen wert gewesen (91. 114-116), und die ganze Subtilität der Bosheit im 2. Absatz auf 92 wird einem erst deutlich, wenn man sich klarmacht, dass Mt 23,4 im Hintergrund steht. - Aber das ist alles Einzelkritik, die den Wert des Bandes v. a. für den akademischen Unterricht in keiner Weise herabsetzen soll.

Der Dank für diese willkommene Bereicherung der im Handel greifbaren Ritschl-Titel gilt allerdings nicht nur dem Herausgeber, sondern auch dem Verleger, der hier wieder einmal eindrücklich unter Beweis stellt, dass er trotz aller Konkurrenz der "Großen" im Geschäft mit engagierter, kundiger Beharrlichkeit ein höchst respektables Verlagsprogramm aufgebaut hat, in dem neben interessanten neueren Arbeiten eben auch höchst wichtige Neudrucke aus der Theologie des 18., 19. und 20. Jh.s stehen - und zwar Neudrucke, die man sich sogar leisten kann!

Fussnoten:

1) Die höchst verständisvolle Besprechung der Festreden hätte vielleicht durch etwas mehr Zeit- und Lokalkolorit noch an Profil gewonnen. La-gardes Stellungnahme zur Göttinger Lutherfeier ist leicht greifbar bei P. Fischer [Hrsg.], Paul de Lagarde. Schriften für das Deutsche Volk, München 1924, 262-265. Zum Universitätsjubiläum vgl. die bezaubernd anschauliche Studie von R. Smend, Göttingen 1887 - die Universität in Preußen (1988), jetzt in: Ders., Bibel, Theologie, Universität, KVR 1582, Göttingen 1997, 166-186. Ritschl optierte in seiner Rede politisch nicht konservativ (212), sondern nationalliberal (Smend, 174).