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Ausgabe:

Februar/2000

Spalte:

185–187

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Lehmann, Hartmut

Titel/Untertitel:

Protestantische Weltsichten. Transformationen seit dem 17. Jahrhundert.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998. 207 S. 8 = Sammlung Vandenhoeck. Kart. DM 39,-. ISBN 3-525-01373-6.

Rezensent:

Frank-Michael Kuhlemann

Die Sozial- und Kulturgeschichte des Protestantismus erlebt zur Zeit einen bedeutenden Aufschwung. Steht sie hinter der Katholizismusforschung zwar noch weit zurück, mehren sich in der letzten Zeit doch Veröffentlichungen, die den Protestantismus nicht nur in einer theologie- und kirchengeschichtlichen Perspektive betrachten, sondern in Ergänzung der eher konventionellen Zugangsweisen nach den gesellschaftlichen und kulturellen Prägungen, nach Frömmigkeitsstilen und Lebensweisen, Weltbildern und Mentalitäten des Religiösen fragen. Im Kontext dieser Forschungsrichtung steht auch das Buch von Hartmut Lehmann. Es versammelt neun Aufsätze des Verfassers aus einem Zeitraum von gut 30 Jahren. Die thematischen Schwerpunkte des Bandes kreisen um Fragen des Pietismus, der Erweckungs- und Gemeinschaftsbewegung einerseits sowie die Bedeutung Luthers im Protestantismus zwischen Kaiserreich und der unmittelbaren Nachkriegszeit nach 1945 andererseits. Zwischen beiden Themenkreisen angesiedelt ist ein Beitrag über "Hitlers evangelische Wähler", der vom Titel her vielleicht nicht unmittelbar mit den ausgewählten Schwerpunktthemen verbunden erscheint, dessen Lektüre aber die inhaltlichen Bezüge sowohl in der einen als auch in der anderen Richtung sofort deutlich werden läßt.

L.s Absicht ist es, den Transformationsprozess "protestantischer Weltsichten", Lebensstile und "Mentalitäten" anhand der ausgewählten Beispiele zu rekonstruieren. Die bearbeiteten Fälle möchte er dabei als "aufschlußreiche Stationen" eines umfassenden Wandlungs- und Variationsprozesses protestantischer Lebenseinstellungen begreifen (8). Das gelingt ihm - trotz der Breite der ganz unterschiedlichen Forschungsfelder und des zeitlich wie auch örtlich weit auseinanderliegenden Entstehungszusammenhangs der einzelnen Aufsätze erstaunlich gut. Das Buch zeichnet sich durch eine ungewöhnliche Dichte und wechselseitige Verschränkung sowohl der Methode als auch der thematischen Grundperspektiven aus. So scheinen die charakteristischen Punkte des protestantischen Selbstverständnisses, die Hitler und den Nationalsozialismus mit ermöglichten, in den Beiträgen über Matthias Claudius und Claus Harms, über das Lutherjubiläum 1883 oder auch das Lutherverständnis des Historikers Otto Scheel ansatzweise bereits auf: Die Vorstellung von Deutschland als dem neuen Israel, die Festlegung der Kirche auf einen strikten Antirationalismus, die schwere Hypothek des protestantischen Nationalismus, sprich die Verbindung von evangelischem Christentum und ,wahrem Deutschtum’ sowie schließlich die ausgeprägte Furcht des protestantischen Bürgertums vor der radikalen Linken figurieren gewissermaßen als langlebig angelegte Dispositionen oder auch Mentalitäten des neuzeitlichen Protestantismus, die sich vor allem unter dem Druck der Säkularisierung sukzessive verschärften. Dem Leser vermittelt sich so ein relativ dichtes Bild über die Grundkonstanten des protestantischen Lebens- und Weltverständnisses, ohne dass der Autor den inneren Zusammenhang der einzelnen "Stationen" immer wieder explizieren müsste.

Abgesehen von der thematischen Dichte ist der Band auch aufgrund seiner vielfach überraschenden Einsichten und innovativen Forschungsperspektiven äußerst anregend. Das gilt vornehmlich für das Feld der Pietismusforschung, auf dem der Vf. seit Jahrzehnten ausgewiesen ist. Eindrücklich werden dem Leser die "Horizonte pietistischer Lebenswelten" (11) vorgeführt. Hierbei geht es um ganz unterschiedliche Themenfelder: Pietistische Zeit- und Raumvorstellungen, die Bedeutung der Frauen im Pietismus werden ebenso diskutiert wie die Entstehung neuer protestantischer Berufsfelder (wie etwa das des Missionars oder das der Diakonisse) durch den Pietismus. Anregend ist schließlich die These von der bemerkenswerten Weltoffenheit des pietistischen Denkens, das sich vielleicht mehr noch als die Aufklärung aus dem Bewusstsein einer "universalen Bewegung" speiste, die an der "Bewältigung von Aufgaben" arbeitete, "die das Schicksal der ganzen Menschheit betrafen". Während sich für die Aufklärer des 18. Jh.s jenseits Europas und speziell Frankreichs kaum etwas abzeichnete, das für den Fortschritt der Menschheit Relevanz haben könnte, besaß Gottes Reich für die Pietisten "eine weltweite Dimension" (vgl. 18).

Das alles sind Einsichten und Perspektiven, die für eine Mentalitätsgeschichte des Protestantismus von zentraler Bedeutung sind. Gleichwohl lassen sich gerade auch in dieser Hinsicht Desiderata formulieren, die für eine moderne Mentalitätsgeschichte zu berücksichtigen wären. L.s Ausführungen sind nämlich methodisch insofern immer noch einer eher traditionellen Zugangsweise verpflichtet, als sie in der Regel exemplarisch argumentieren; und es stehen - grosso modo - relativ bedeutende Zeitgenosssen (Matthias Claudius, Claus Harms, Otto Scheel) oder Zeitpunkte (das Lutherjahr 1883, die Wahljahre 1932/33, die ersten Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg) im Mittelpunkt, die gewissermaßen als Pars pro toto abgehandelt werden.

Dieser methodische Zugriff wirft aber für eine Mentalitätsgeschichte des Protestantismus, die vornehmlich an der longue Durée und damit an der Auswertung serieller Quellen interessiert sein muss, durchaus Probleme auf. So wird bei L. - explizit oder implizit, ob gewollt oder nicht - durch die Zusammenschau der einzelnen Aufsätze suggeriert, als habe es trotz aller Transformationen und Vielschichtigkeiten der analysierten Phänomene eine relativ deutliche Linie mit klar beschreibbaren und vor allem typischen "Stationen" vom frühneuzeitlichen Protestantismus und den hier entstandenen "politischen Hypotheken" bis hin "in die jüngste Vergangenheit" gegeben (vgl. 78). Diese Vorstellung scheint aber schon insofern problematisch, als L. mit seinen gewählten Schwerpunkten nur einen kleinen Ausschnitt aus dem vielschichtigen Spektrum protestantischer "Weltsichten" und Lebenwelten behandelt. Und gerade neuere Forschungen sowohl zum frühneuzeitlichen als auch zum neueren Protestantismus zeigen, dass gerade die Frage von Kontinuitäten und Diskontinuitäten des protestantischen Denkens im Grunde neu diskutiert werden muss.