Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Februar/2000

Spalte:

178–180

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Neebe, Gudrun

Titel/Untertitel:

Apostolische Kirche. Grundunterscheidungen an Luthers Kirchenbegriff unter besonderer Berücksichtigung seiner Lehre von den notae ecclesiae.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 1997. 295 S. gr.8 = Theologische Bibliothek Töpelmann, 82. Lw. DM 156,-. ISBN 3-11-015628-8.

Rezensent:

Reinhard Brandt

Mit den Worten des apostolischen Glaubensbekenntnisses bekennt die Gemeinde "die heilige christliche Kirche, Gemeinschaft der Heiligen". Doch wie ist das Verhältnis zwischen dieser geglaubten Kirche und der empirisch vorfindlichen Kirche? Wem gelten die altkirchlichen notae ecclesiae - die eine, heilige, katholische und allgemeine Kirche - im Verhältnis von geglaubter und empirischer Kirche? In welchem Verhältnis stehen dazu die von der Reformation eingeführten Kennzeichen der Kirche: Wort und Sakrament? Und welche Bedeutung haben die altkirchlichen notae wie die reformatorischen Kennzeichen im Blick auf die Frage nach der rechten Gestalt der Kirche?

Obwohl es viele Arbeiten zur Ekklesiologie - auch zur Ekklesiologie Luthers - gibt, kann ein genauer Blick auf Luthers Auffassung von der Kirche eine Hilfe sein, um zu Antworten auf die genannten Fragen zu gelangen. Dies unternimmt Gudrun Neebe mit ihrer 1994 in Marburg angenommenen Dissertation.

N. beginnt mit einem Überblick über die Forschungslage (3-31), in dem u. a. deutlich wird, auf welche Schwierigkeiten die Rekonstruktion der Aussagen Luthers stößt. Kritische Rückfragen ergeben sich etwa gegenüber Kühn und Steinacker, zustimmend bezieht sich N. auf Kinder. - Angesichts der disparaten Auffassungen ist es erforderlich, die Quellen selbst zu Wort kommen zu lassen:

In einem ersten ausführlichen Durchgang (34-181) untersucht N. einzelne Schriften Luthers aus der Zeit von 1518-1541. Schon 1518 hat Luther im Sermo de virtute excommunicationis die grundlegende Unterscheidung zwischen der innerlichen geistlichen und der leiblichen äußerlichen Natur der Gemeinschaft der Glaubenden eingeführt (35). Sein Kirchenbegriff hat sich bis 1539 (Von den Konziliis und Kirchen) nicht gewandelt (79). Luther zielt damit nicht auf einen doppelten Kirchenbegriff; vielmehr gilt: "die eine Kirche als Gemeinde der Heiligen ist zugleich eine geistliche Versammlung in dem einen Glauben, der einen Liebe und Hoffnung - dies ist ihre ,Seele’, ihr Wesen - und eine leibliche Versammlung- dies ist ihr ,irdischer Leib’, ihre äußere Erscheinung" (54). Leider wird dies aber - so N. - durch missverständliche Formulierungen Luthers wie "zwo kirchen" immer wieder verdunkelt (53).

In weiteren Einzelanalysen beschreibt N. die Verborgenheit der Kirche unter Trübsal, Ketzereien und anderen Gebrechen (93) und benennt die Zeichen, an denen nach Luther gleichwohl die Präsenz der Kirche erkannt wird: die lautere Verkündigung des Evangeliums (97 u. a.), Taufe und Altarsakrament (106). In Schriften ab 1533 nennt Luther weitere Zeichen, u. a. Schlüssel, Predigtamt (als Mittel 2. Ordnung), Glaubensbekenntnis, Vaterunser, Psalmen, Katechismus, Leiden und Verfolgung (114).

Eine besondere Entdeckung gelingt N. in ihrer Analyse von Luthers Aussagen über die Apostolizität der Kirche (162 ff.). Diese besteht erstens darin, dass die Kirche in Christus gegründet ist, und zweitens darin, dass sie unverfälscht lehrt wie Christus und seine Apostel und dass sie ihre Praxis daran ausrichtet. N. zeigt, dass Luther damit die Apostolizität der Kirche im Blick auf ihre beiden Lebensdimensionen behauptet: "Die Kirche als geistliche Einigkeit ist auf Christus gegründete Kirche und kann daher als apostolisch charakterisiert werden. Die Apostolizität ist hier Eigenschaft der Kirche und Faktum." (167) "Die Kirche als leibliche Versammlung kann als apostolisch bezeichnet werden, sofern ... sie unverfälscht (apostolisch) lehrt und ihre kirchlichen Handlungen der Einsetzung und Ordnung Christi und seiner Apostel entsprechend ausübt. In diesem Fall ist die Apostolizität der Kirche Kriterium für die Präsenz der Kirche" (ebd.). Dieses Ergebnis, das allerdings auf einer relativ schmalen Textbasis beruht, wird bestätigt durch Luthers Charakterisierung des apostolischen Predigens und Lehrens (169).

In keiner Schrift hat Luther seine Auffassung von der Kirche umfassend und abschließend dargelegt. Vielmehr ist die Entwicklung in den späteren Schriften in Rechnung zu stellen. Auch gebraucht Luther eine Vielzahl von Termini. Was der Begriff "Kirche" bezeichnen soll, kann oft nicht mit letzter Sicherheit entschieden werden. Dies veranlasst N. zu einer systematischen Darstellung der Ekklesiologie Luthers (182-268). Dabei geht sie von einer terminologischen Festlegung aus: Der Begriff "Kirche" dient ihr als Oberbegriff für den Gesamtzusammenhang, der die beiden Aspekte umfasst, die Luther unterscheidet und die N. als geistige und als leibliche Gemeinschaft bezeichnet (183).

Ob solch ein Vorgehen sinnvoll ist, kann man fragen. Erstens wirkt das Buch dadurch in manchen Passagen redundant: Der Befund, der sich an Hand von N.s Frageraster aus den einzelnen Schriften Luthers ergab, wird erneut dargestellt. Andererseits wäre auch jedes andere Verfahren schwierig. Eine Darstellung, die nur an Luthers einzelnen Schriften entlanggegangen wäre, hätte für die systematische Fragestellung nicht genug ausgetragen. Würde man sich hingegen von vornherein auf eine systematische Rekonstruktion konzentrieren, so würden die spezifischen Eigenheiten der einzelnen Schriften Luthers leicht unter den Tisch fallen. Durch die Aufteilung auf zwei Hauptteile, deren Gliederung weitgehend parallel ist, vermeidet N. diese Gefahren. - Zweitens kann jede Rekonstruktion von Luthers Aussagen nur einen Vorschlag darstellen. Die Arbeit von N. hat den Vorzug, dass sie deutlich markiert, was ihr terminologischer Vorschlag ist und in welchen sachlichen Bezügen er steht. Darüber hinaus erlaubt ihre Rekonstruktion, Luthers ekklesiologischen Texten gerecht zu werden und sie in einen kohärenten Zusammenhang zu bringen.

Die systematische Darstellung beginnt mit dem Hinweis auf das Wirken des Heiligen Geistes, der unverfügbar durch das äußere Wort den Glauben wirkt und so die Kirche schafft: Die Kirche ist Geschöpf des Wortes Gottes (188 f.). Sie ist nicht auf leibliche Weise konstituiert, sondern durch Gottes Wirken, in dem sich Gott jedoch an die Wortverkündigung der Menschen gebunden hat (190).

Die Kirche ist für Luther eine geistliche Gemeinschaft, nämlich die Gemeinschaft der Glaubenden mit Christus und in demselben Glauben miteinander im Leib Christi. Diese geistliche, innerliche, verborgene Gemeinschaft konstituiert allein Gott (196), sie kann deshalb nur geglaubt werden. Weil die Kirche indes unter raumzeitlichen Bedingungen existiert, ist sie als leibliche Gemeinschaft "die leiblich um Wort und Sakrament versammelte Gemeinde" (197). Entscheidend ist die Gottesbeziehung der Kirche. "Die leibliche Gemeinschaft der Glaubenden ist die Frucht dieser Gottesbeziehung und zugleich das Mittel, dessen sich Gott in seinem Kirche schaffenden und bewahrenden Handeln bedient." (205) Von der leiblichen Gemeinschaft der Glaubenden noch einmal zu unterscheiden ist die konkrete und sichtbare geschichtliche Realität der Kirche, die Luther gelegentlich (missverständlich) als "äußerliche Christenheit" bezeichnet (210 ff., 240).

Die Kirche als leibliche Gemeinschaft, d. h. als Versammlung von Glaubenden, ist verborgen unter Schwachheit und Unvollkommenheit sowie unter Leid und Verfolgung (217); sie ist nicht abgrenzbar: Kein Mensch kann wissen, wer Glied am Leib Christi ist (219). So stellt sich die Frage, "wie und wodurch sich die verborgene Kirche in der Wirklichkeit manifestiert, daß sie daran erkannt werden kann". Antwort auf diese Frage gibt Luthers Lehre von den Kennzeichen der Kirche (nach Melanchthon notae externae): Evangeliumsverkündigung, Taufe und Altarsakrament (222f.). Diese sind "die Wirk- und Gnadenmittel, durch die Gott durch den Heiligen Geist den Glauben schafft und Kirche konstituiert". Sie sind gleichzeitig "auch die Kriterien und Erkennungszeichen, anhand deren die Präsenz der Kirche bestimmt" (224) und "zwischen wahrer und falscher Kirche" unterschieden werden kann (236). Dabei darf die Unterscheidung zwischen der Kirche als leiblicher und geistlicher Gemeinschaft, die ausschließlich die wahre Kirche Christi betrifft, nicht gleichgesetzt werden mit der Unterscheidung zwischen rechter und falscher Kirche (237).

Mit den Kennzeichen (notae externae) der Kirche nicht zu verwechseln sind die altkirchlichen notae ecclesiae, die für Luther als Attribute das Wesen der Kirche von ihrer Ursprungsbeziehung her beschreiben: Katholizität eignet der Kirche als geistlicher Gemeinschaft, "weil alle an Christus Glaubenden ... zu der einen Gemeinschaft der Glaubenden (Oberbegriff) gehören" (244). Die Kirche ist eine, weil "alle Christen mit Christus und miteinander zu einem Leib verbunden" sind; solche Einheit "entsteht nach Luther allein aus Gottes Wort" (250). Heilig ist die Kirche "durch ihre Verbundenheit mit Christus und auf Grund ihres Gerechtfertigtseins durch den Heiligen Geist" (254). Die Kirche ist apostolisch, weil sie auf Jesus Christus gegründet ist (257). - Dies alles sind verborgene Wesenseigenschaften der Kirche, sie beschreiben die Kirche als geistliche Gemeinschaft, sie sind nicht "äußerlich wahrnehmbar, sondern können nur geglaubt werden" (259). Zugleich ist die Apostolizität der kirchlichen Verkündigung für Luther "das Hauptkriterium der Präsenz der Kirche Christi ..., dessen Erfüllung anhand der Kennzeichen der Kirche im einzelnen überprüfbar ist" (267, ähnlich schon 257). N.s zusammenfassende These, dass "die Apostolizität bei Luther ein Brennpunkt innerhalb seiner Ekklesiologie" ist, "in dem alle Linien zusammenlaufen" (267), hat sich auch im Buchtitel niedergeschlagen.

N. begründet ihre These so sorgsam, dass man ihr schwer widersprechen kann. Ihre Vorschläge zur Terminologie und zur Rekonstruktion bewähren sich an den Texten und ergeben ein kohärentes Bild von Luthers Ekklesiologie. Irritierend bleibt, dass sowohl die altkirchlichen Attribute der Kirche als auch die reformatorischen Kennzeichen der Kirche in der einen oder anderen Weise als "notae" angesprochen werden. - Eine andere Frage ist, was ihre Untersuchung über die historische Analyse hinaus für die Diskussion heute austrägt. N. selbst weist in einem zweiseitigen Fazit auf die zentrale Bedeutung der Verkündigung und des Gottesdienstes hin. Fruchtbar zu machen wäre dies für die Diskussion um die nötige Zentrierung des ausdifferenzierten kirchlichen Institutionenensembles. Fruchtbar kann die Untersuchung auch für die ökumenische Diskussion werden, indem gegenüber der römisch-katholischen Lehre die Ekklesiologie Luthers klar konturiert wird. - N. zieht diese Linien nicht mehr aus; gleichwohl erweist sich ihre Arbeit auch für die weitere Diskussion als ertragreich.