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Ausgabe:

Februar/2000

Spalte:

175 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Lobenstein-Reichmann, Anja

Titel/Untertitel:

Freiheit bei Martin Luther. Lexikographische Textanalyse als Methode historischer Semantik.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 1998. XIII, 598 S. gr.8 = Studia Linguistica Germanica, 46. Lw. DM 268,-. ISBN 3-11-016076-5.

Rezensent:

Birgit Stolt

Es handelt sich um eine 1997 an der Universität Heidelberg angenommene Dissertation im Fach germanistische Sprachwissenschaft, die auch auf das Interesse von Theologen und Reformationshistorikern zählen und, wie die Autorin erhofft, "Anregungen für eine neue interdisziplinäre Betrachtungsweise geben" kann (Vorwort). Als "Bindeglied" dient die Methode der historischen Semantik, die danach fragt, was einst mit den Wörtern gemeint wurde.

Untersucht für den Gebrauch von ,Freiheit’ in den Texten Luthers werden zwei Corpora: Grundlage bilden Freiheitstraktat und Adelsschrift (Corpus I), deren Untersuchung zwei Drittel der Arbeit umfasst, und wo die Methode einer lexikographischen Textanalyse anhand der praktischen Problemlösungen entwickelt wurde. Daran schließt sich eine Analyse der Schriften von 1517 bis 1531 (Corpus II), in dem die Ergebnisse der Beispielanalyse "zu einem methodischen Zugriff für alle weiteren Schriften Luthers" dienten (48).

Insgesamt wurden 35 Bände der Weimarana [!] in drei Durchgängen bearbeitet. Nachdem im ersten Durchgang alle Belege mit (-)frei(-) exzerpiert wurden, erfasste der zweite Durchgang bedeutungsverwandte Ausdrücke (wie ledig, loslösen, entbunden). Im dritten Durchgang wurden auch Wörter anderer Etymologie exzerpiert, wie glaube, frömmigkeit, die erst nach "erheblicher Vorkenntnis und genauer semantischer Analyse als Freiheitswörter erkennbar" waren (17; in diesem Stadium setzt der Leser zunächst ein Fragezeichen, da es nicht einsichtig ist, warum z. B. Glaube, fromm, fröhlich als Synonyme gelten können. Man muss sich darin auf die "erhebliche Vorkenntnis und genaue semantische Analyse" der Autorin verlassen). Nach einer Untergliederung nach Wortarten sowie syntaktischer und semantischer Analyse wurden die Ausdrücke in einem onomasiologischen Wortfeld zusammengefasst und danach als letzter Schritt ein Begriffsfeld konstruiert.

Es wird unterschieden zwischen "Belegbedeutung", das pro Belegstelle Gemeinte, und "Einzelbedeutung", womit die abstrahierenden Zusammenfassungen mehrerer Belegbedeutungen auf einer höheren Beschreibungsebene bezeichnet werden. Die entsprechenden Wortartikel bilden ein auf die Freiheitsausdrücke beschränktes Lutherwörterbuch (22). Über die Einzelbedeutung geschieht der Schritt zum Begriff und von dort zum Begriffsfeld.

In umsichtigen Analysen, in denen jeder Schritt empirisch abgesichert und für den Leser nachvollziehbar ist, wird das jeweilige "Gemeinte" eruiert. Für frei ergaben sich im Freiheitstraktat sechs, in der Adelsschrift sieben Einzelbedeutungen, mit teilweise auf den ersten Blick unerwarteten "Synonymen" wie recht, christlich, unsträflich, gemeyn, offen, mutig, frisch, die in ihren interlexematischen Beziehungen, in Wortfelder und Begriffsfelder eingeordnet und veranschaulicht werden. Für Freiheit werden im Freiheitstraktat sieben, in der Adelsschrift fünf Einzelbedeutungen ermittelt.

Als "Synonyme" erscheinen: dienstbarkeit, dienst, fromkeit, seligkeit, gerechtigkeit, friede, glaube (die Belege umfassen nicht weniger als neun Seiten, 195-203!), lust, liebe, gewalt, gnade, genüge, speise, freude, licht, kunst, warheit, weisheit, erfüllung gesetz (!), gebot (4 Seiten), reue, sünde (4 Seiten), bosheit, gefengnis, tod, begierde, werk (8 Seiten), seben, recht, trost, evangelium, wort, zusagung, verheissung, testament, schrift, geist. Die "interlexematischen Beziehungen" werden tabellarisch dargestellt (256f.). Basisbegriff ist für frei und Freiheit die ,Rechtfertigung’. Aus dem Wortfeld lassen sich die Begriffsfelder der Vollkommenheit, der Befreiung von weltlichen Dingen und der Freiwilligkeit abstrahieren.

Die Basisfelder werden in Einzelanalysen behandelt, wobei sich dem Leser der Synonymik-Begriff der Autorin erhellt. Beispielsweise wird festgestellt, dass Freiheit und Gerechtigkeit für Luther zum einen synonym sind, sich jedoch im Kontext auch ergänzen können, während Freiheit und Glaube "in einer untrennbaren Wechselbeziehung zueinander" stehen, der Glaube der Freiheit jedoch vorgeordnet ist (264 f.). An Luthers Verständnis von Gnade und Freiheit ließe sich das Kirchenverständnis Luthers ablesen.

Der Abschnitt ist reich an interessanten Beobachtungen und Einsichten. Auf Einzelheiten lässt sich im Rahmen dieser Besprechung nicht näher eingehen. Ein Vergleich der Ergebnisse für die Adelsschrift und das Freiheitstraktat ergab signifikante Unterschiede in der Argumentation, mit einem Bedeutungsspektrum "christliche Freiheit" im Freiheitstraktat, und "weltliche Freiheit" in der Adelsschrift. Als das eigentlich Unterscheidende wurde die Rezipientenorientierung befunden, da beide Schriften zwei Seiten einer Medaille wiedergäben, deren eine Seite sich auf das Innere des geistigen Menschen, die andere auf den Menschen in seiner leiblichen Existenzform beziehe (16, 378 f.). Als inhaltliches Bindeglied wird das Zitat 1Petr 2 angesehen (WA 6, 407,32).Überraschend ist der syntaktische Befund, dass der bestimmte Artikel in der Adelsschrift ausschließlich für freiheit im christlichen Sinne verwendet wird; was im Freiheitstraktat als die andere freiheit (als negatives Gegenstück zur christlichen Freiheit) bezeichnet wird, erscheint in der Adelsschrift ohne Artikel (371 f.).

Ein vierzigseitiger Abschnitt (327-366) behandelt den Bauernkrieg, für den etliche Zeitgenossen - darunter Erasmus von Rotterdam - Luthers Freiheitsschrift verantwortlich gemacht hatten. Als Corpus diente der Quellenband von G. Franz: Der Deutsche Bauernkrieg (1972). Die Analyse weist auf, dass die Bauern ein völlig anderes Freiheitsverständnis hatten als Luther. Für sie bedeutete Freiheit einen Rechtszustand in ihrer sozialen Wirklichkeit, während sich die Bedeutungen 1-5 in Luthers Freiheitstraktat, die die innere christliche Freiheit betreffen, überhaupt nicht finden.

Die Auswertung von Corpus II ergab wesentliche Übereinstimmungen mit Corpus I, die in einer "Zusammenschau der lexikalischen Ergebnisse" übersichtlich dargestellt werden (542ff.) - Im Verlauf der Darstellung verschiebt sich die Interpretation der Autorin mehr und mehr in die theologischen Bereiche der lutherschen Gedankenwelt, was der Autorin bewusst ist: in einer abschließenden "Captatio benevolentiae" stellt sie bei sich "eine allmähliche Identifizierung mit der Theologie Luthers" fest.

Der Aspektenreichtum der Untersuchung kann hier nur angedeutet werden. Es handelt sich um eine beeindruckende Arbeit, ertragreich sowohl für den Sprachwissenschaftler - nicht zuletzt in der Methode mit der Dreigliederung von wort-, syntax- und textbezogener Analyse - wie für den Theologen und den Reformationshistoriker.

Als "Ergebnis methodischer Art" sei abschließend die Autorin zitiert: "Die vorliegende Untersuchung ist ... sowohl eine Monographie zum Thema ,Freiheit’ bei Luther wie ein Nachschlagewerk, das jedem Benutzer in gleicher Weise als Findebuch von Belegstellen wie als Verständnishilfe für Bedeutungen und Begriffe dienen kann" (546).