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Ausgabe:

Februar/2000

Spalte:

168 f

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Resseguie, James L.

Titel/Untertitel:

Revelation unsealed. A Narrative Critical Approach to John’s Apocalypse.

Verlag:

Leiden-Boston-Köln: Brill 1998. XI, 233 S. gr.8 = Biblical Interpretation Series, 32. Lw. hfl 143.-. ISBN 90-04-11129-8.

Rezensent:

Martin Karrer

Die Bildersprache und der eigentümliche Aufbau der Offb provozieren zur Anwendung des "neuen" literarischen Kritizismus. Insofern nimmt der Leser die vorliegende Studie mit Spannung in die Hand. Kommt er von der herkömmlichen religionsgeschichtlich-literaturhistorischen Analyse, ist er zwar überrascht, dass keine forschungsgeschichtliche Auseinandersetzung erfolgt. Aber er wird das um des Forschungswandels willen nicht zu hoch gewichten. Statt dessen wird er die innere Gliederung der Arbeit verfolgen: Auf die Einführung erzählkritischer Begrifflichkeit (in der Einleitung 1-31) folgt deren Anwendung in Kapiteln über Erzählperspektive/Rhetorik (32-69), Schauplätze (incl. Requisiten; 70-102), Gestalten/Charaktere (103-159) und Handlungsstruktur (160-192), schließlich eine Skizze der theologischen Bedeutung der Offb (160-209).

Freilich kommt es R. in dieser Gliederung stärker auf Methodenbreite als auf scharfe Konturen an. So hebt der Abschnitt zur Erzählperspektive weniger die modernen Kategorien des auktorialen, neutralen usw. Autors hervor als ein breites Raster herkömmlicher literaturwissenschaftlicher Rubriken (Raumstruktur, Zeitstruktur, psychologischer und ideologischer Blickwinkel sowie besonders breit und damit nützlich [48-69] Zahlenrhetorik). Unter Schauplätze/Requisiten fällt mit, was herkömmlich Symbole hieße (Buchrolle, Siegel, Posaunen, Schalen; das versiegelte Buch enthält Gottes Heilsplan in der Geschichte etc. [101 u. ö.]); die Grundsatzdiskussion um die figurative Sprache der Offb (evokative Symbole usw.) wird nicht wesentlich bereichert (blass bereits 13 ff.). Die "Charaktere" entfalten einen klassischen Gegenstand der Literaturwissenschaft in der Bandbreite zwischen Gottesbeschreibung und "kleinen Charakteren" (vier Reiter, zwei Zeugen usw.; letztere 145 ff.). In der Erzählstruktur begegnen wir der alten Diskussion um die Rekapitulationstheorie (wobei R. dem literarischen Fortschritt Vorrang vor den Wiederholungs- und Redundanzmomenten gibt; 160-166).

Der Leser/die Leserin begegnen in der Anwendung nicht mehr als eigenes Kapitel, nachdem die Einleitung den Streit der letzten Jahrzehnte um ihren Rang mit einem versöhnlichen Ausgleich zwischen implizitem Leser (im Sinne englischsprachiger Autoren) und einem "authorial reader", der fähig ist, die Haltungen des ersten Auditoriums mitsamt dessen Verfälschungen zu teilen, entscheidet (27-31; Iser und Fish werden einander merkwürdig nah gerückt [28], eine dekonstruktive Lektüre der Offb lediglich gestreift [29]).

Leistung und Grenze der Studie werden ansichtig. Wir erhalten einen hilfreichen Überblick über erzählerische Gesichtspunkte der Offb. Doch vielfach bleiben die Beobachtungen an der Oberfläche. Die Diskussion hat eigentlich erst nach ihnen zu beginnen und ruft fortwährend nach Vertiefungen, sowohl in der erzählkritischen Position (zwischen herkömmlicher Literaturtheorie und neuen Untersuchungsansätzen) wie in den Einzelheiten (z. B. wären bei der Beschreibung Jesu als Menschensohn 1,13 ff. die Erzähllinien zu Engelserscheinungen zu ergänzen [111 ff.]; die derzeitige Diskussion um eine der Angelologie nah erzählte Christologie - L. T. Stuckenbruck, Angel veneration and christology, 1995 u. v. a - erscheint auch in der Bibliographie nicht). Manche Lücke überrascht (z. B. die unterbleibende Besprechung des erzählkritisch letzten Wortes 22,21), und der Bruch zur herkömmlichen Auslegung ist weniger merklich, als Titel und Einstieg der Studie erwarten ließen. Das theologische Bild der Offb als eines kulturkritischen, subversiven Dokumentes, das die dominante Kultur prophetisch kritisiere und eine Vision neuer Welt vor die Leser stelle (193), bleibt dem Forschungshauptstrom nahe (herkömmlich würden wir dazu allerdings eine Auseinandersetzung mit der Kritik L. L. Thompson’s, The Book of Revelation, 1990, erwarten).

Alles in allem: Der neue "literary criticism" wird vor der Offb nicht Halt machen und unsere Kenntnisse über sie bereichern. Vorliegende Studie bereitet diese Forschungserweiterung vor, ohne ihr schon ganz zuzuschlagen zu sein.

Bibliographie (mit beschränkter Auswahl bei der nicht englischsprachigen Literatur; an bedeutenden Kommentaren fehlen französisch P. Prigent, deutsch U. B. Müller) und umfangreiche Register beschließen den Band.