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Ausgabe:

Februar/2000

Spalte:

164–166

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Haacker, Klaus

Titel/Untertitel:

Der Brief des Paulus an die Römer.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 1999. XXIX, 334 S. gr.8 = Theologischer Handkommentar zum Neuen Testament, 6. Geb. DM 58,-. ISBN 3-374-01718-5.

Rezensent:

Eduard Lohse

In der Reihe des bewährten Handkommentars zum Neuen Testament legt der Wuppertaler Neutestamentler Klaus Haacker eine völlig neu bearbeitete Erklärung des Römerbriefs vor, die an die Stelle des von H. W. Schmidt verfassten Kommentars (1962, 31972) tritt. Stellt man diese beiden Auslegungen einander vergleichend gegenüber, so wird deutlich, in wie starkem Maß sich im Lauf einer Generation die Fragestellungen verändert und die internationale Diskussion sich erweitert haben. Der Vf. trägt diesen Gegebenheiten in vollem Umfang Rechnung und bietet vorzüglich erstellte bibliographische Übersichten, die sowohl Publikationen zum ganzen Römerbrief wie auch Studien zu den einzelnen Abschnitten gelten. Wenngleich es heute unmöglich geworden ist, hinsichtlich der Literaturangaben Vollständigkeit zu erreichen - und Versuche, diesem Ziel nahe zu kommen, kaum noch sinnvoll erscheinen -, ist doch aus der großen Fülle einschlägiger Untersuchungen überall das Wichtigste aufgeführt, gewertet und verarbeitet worden. Der Leser erhält somit breite Information, ohne dass er sich angesichts der Vielzahl zu nennender Veröffentlichungen verloren vorkommen müsste. Denn er wird über unterschiedliche Auffassungen in umsichtiger Darstellung ins Bild gesetzt, so dass er sich ein eigenes Urteil bilden kann. Der Vf. nötigt ihm dabei nicht die eigene Ansicht auf, sondern lässt bisweilen unterschiedliche Meinungen nebeneinander stehen, so dass eine Entscheidung noch zu suchen und zu finden ist.

Der Kommentar enthält nur zu Präskript und Einleitung des Briefes vier kurze Exkurse (zu den Begriffen Apostel und Evangelium, dem Problem einer etwa in 1,3 f. aufgenommenen Tradition sowie dem Thema der Gerechtigkeit Gottes bei Paulus), so dass der Leser gehalten ist, sich die Grundzüge der theologischen Argumentation des Paulus aus der fortlaufenden Lektüre der Auslegung selbst zu erarbeiten. Dabei bietet die dem Kommentar vorangestellte Einleitung willkommene Hilfe, die die Aufmerksamkeit vor allem auf den Verfasser des Briefes - seine Herkunft, seine Bekehrung und sein Wirken u. a. - lenkt und damit anzeigt, dass der Römerbrief ebenso wie andere Paulusbriefe "als ein pastorales Sendschreiben zu verstehen" sei, "mit dem der Apostel in eine konkrete Gemeindesituation hineinspricht" (12). Dem Vf. ist dabei freilich deutlich bewusst, dass einem so konkreten Bezug die Frage entgegensteht, wieweit Paulus "über die römischen Gemeindeverhältnisse unterrichtet war" und ob er "bei den dortigen Christen genug Ansehen genoss, um mit seinem Wort etwas ausrichten zu können" (ebda.).

Im Vorwort zu seinem Kommentar hebt der Vf. einige Gesichtspunkte hervor, die ihm bei seiner Arbeit leitende Orientierung gegeben haben: die enge Verbindung zu seiner Lehrtätigkeit, als deren Frucht sein Kommentar entstanden ist, sowie die Bedeutung rhetorischer Gestaltung, wie sie in der neueren Forschung zunehmend erkannt und zur Erklärung der paulinischen Briefe beachtet wird. Die auf Kommunikation gerichtete Argumentation des Apostels schlägt auch auf die Anlage des Kommentars durch, indem der Leser zu aufmerksamer Betrachtung des Textes und Schärfung des exegetischen Urteils angehalten wird.

Besondere Beachtung findet der christlich-jüdische Dialog - weniger in stärkerer Berücksichtigung des jüdischen Hintergrundes des Textes als vielmehr in großer Behutsamkeit im Blick auf die grundsätzliche Einstellung gegenüber den Juden. Der Vf. sucht gegen das Gesetz gerichtete Polemik abzuschwächen, indem er die apostolische Kritik nicht auf das Gesetz schlechthin, sondern auf einen "covenantal nomism" (Dunn u. a.) bezieht, der ein unbegründetes Überlegenheitsgefühl der Juden hervorgerufen habe. Daher soll "die paulinische Abwertung der ,Werke des Gesetzes’" "nicht auf eine allgemeine Verhältnisbestimmung zwischen Glauben und Handeln" zielen, sondern als "ein Votum für die Gleichstellung von Juden und Nichtjuden vor dem Angesicht Gottes" verstanden werden (84). Die Schärfe der Aussage von 10,4 über das "Telos" des Gesetzes wird abgemildert, indem der Text dahingehend übersetzt wird, Christus sei "die Hauptsache, um die es im Gesetz geht" (201; vgl. weiter 206-208).

Im Blick auf die Kapitel 9-11, die vom Geschick Israels handeln, wird jedoch kein Zweifel daran gelassen, "daß die eschatologische Rettung Israels auch eine Rechtfertigung der Gottlosen voraussetzt" (241). Paulus nimmt also am Ende von Kap. 11 "das Ergebnis seiner Argumentation in 1,18-3,20 wieder auf: Juden sind nicht weniger als die Nichtjuden von Gott ethisch gefordert, aber von der Sünde gezeichnet und so auf die rettende Gerechtigkeit Gottes und die Rechtfertigung Gottes und die Rechtfertigung aus reiner Gnade angewiesen" (245).

Grundsätzlich neue Gesichtspunkte bringt der Vf. in die Erklärung des Römerbriefes durch den Beitrag ein, den er aus der Lektüre antiker Quellen, insbesondere von römischen Autoren, für die Interpretation des Römerbriefes zu gewinnen sucht. So wird wiederholt darauf hingewiesen, in welchem Sinn römische Leser und Hörer Begriffe wie Frieden, Gerechtigkeit, Gesetz, Schuld, Sühne, Verfehlungen, Übertretungen der Gebote u. a. verstanden haben mögen, so dass sie entsprechende Gedankenverbindungen zwischen paulinischer Lehre und ihnen geläufigen Vorstellungen herstellen konnten (vgl. zu 83, 87, 91, 107, 113, 129, 134, 143, 146 u. ö.). Doch da der Vf. die Adressaten des Briefes zu Recht nicht unter römischen Bürgern, sondern weit eher unter tributpflichtigen Nicht-Römern vermutet (vgl. 268 f. zu 13,6), wird zu bedenken sein, wieweit einerseits die Leser, andererseits aber der Verfasser des Briefes mit spezifisch römischem Gedankengut vertraut gewesen sein mögen. Der Vf. möchte zeigen, dass der Apostel "den Römern als ein Römer" habe gegenübertreten wollen, so dass sein Brief geradezu als Beispiel für missionarische Kontextualisation gelesen werden könne. Doch wird des Näheren zu prüfen sein, ob wirklich im Römerbrief das Augenmerk auf das besondere Milieu der Reichshauptstadt gerichtet ist, zumal die eben genannten Begriffe im römischen Kontext in erster Linie politische und soziale Zusammenhänge betreffen, die bei Paulus - wenn überhaupt - höchstens in seiner Paränese gelegentlich angenommen werden könnten. Da im Rom der damaligen Zeit - wie zahllose Inschriften, besonders auch aus jüdischen Katakomben beweisen - die Kenntnis der griechischen Sprache weit verbreitet war, sind als Hintergrund des Römerbriefes schwerlich ausgesprochen römische Verhältnisse anzunehmen, sondern vielmehr verbreitete Vorstellungen der hellenistischen Umwelt - genauer: des hellenistischen Judentums einschließlich seiner Bezogenheit auf die Israel überkommenen heiligen Schriften. Gleichwohl wird künftige Interpretation des Römerbriefes die Anregungen zu beachten und genauer zu gewichten haben, die der Vf. neu in die wissenschaftliche Diskussion eingebracht hat.

Sorgfältige Lektüre dieses gelehrten Kommentars wird den Leser auch zur Auslegung einzelner Stellen zu Rückfragen veranlassen - so z. B., ob wirklich angeraten werden darf, der umstrittenen Aussage von 9,5 mit Hilfe einer Konjektur zu entgehen (187), oder ob nicht in weit stärkerem Maß, als der Vf. es zugestehen möchte, der Apostel sich wiederholt auf vorpaulinische Aussagen stützt (so 1,3 f.; 3,24-26 u. a.; zu S. 25 f., 89), die er aufnimmt und in seiner Auslegung des gemeinchristlichen Evangeliums interpretiert. Mit diesen Hinweisen möge angedeutet sein, wie lohnend und bereichernd die Beschäftigung mit diesem neuesten Kommentar zum Römerbrief ist und welchen eigenständigen Beitrag der Vf. zu seiner Auslegung erbracht hat.