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Ausgabe:

Februar/2000

Spalte:

157–162

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

(1) Fitzmyer, Joseph A. (2) Jervell, Jacob

Titel/Untertitel:

(1) The Acts of the Apostles. A New Translation with Introduction and Commentary.
(2) Die Apostelgeschichte. Übers. u. erkl.

Verlag:

(1) New York-London-Toronto-Sydney-Auckland: Doubleday 1998. XXXI, 830 S. 3 Ktn. gr.8 = The Anchor Bible, 31. Lw. $ 45,-. ISBN 0-385-46880-6
(2) Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998. 635 S. gr. 8 = Kritisch-exegetischer Kommentar über das Neue Testament, 3. Lw. DM 198,-. ISBN 3-525-51627-4.

Rezensent:

Jürgen Roloff

Fast gleichzeitig sind zwei große wissenschaftliche Kommentare zur Apostelgeschichte erschienen, die manche Gemeinsamkeiten aufweisen. Deren äußerlich auffälligste sei zuerst erwähnt: Beiden Verfassern ist das Kunststück gelungen, die Apostelgeschichte, die umfangreichste neutestamentliche Schrift, in einem einzigen Band auszulegen, und zwar ohne Abstriche am wissenschaftlichen Niveau. Ob man darin wohl ein Zeichen dafür sehen darf, dass der Trend zu umfangmäßig ausufernden mehrbändigen Kommentaren letztlich doch nicht so unaufhaltsam ist, wie es den Anschein hatte, weil ihm nicht nur die harten Realitäten des wissenschaftlichen Buchmarktes, sondern auch die begrenzte Kapazität der Leserinnen und Leser Grenzen setzt? Solche Begrenzung erfordert zwar den Verzicht auf ausführliche Diskussionen von Einzelproblemen und detaillierte kritische Auseinandersetzung mit der Literatur. Doch dieses Defizit wird durch Klarheit der Linienführung, Überschaubarkeit und Geschlossenheit der Auslegung m. E. mehr als ausgeglichen. Zwei ermutigende Beispiele also, die Schule machen sollten!

Eine inhaltliche Gemeinsamkeit beider Kommentare besteht darin, dass sie in Distanz zu der Hauptlinie der kritischen deutschen Nachkriegsforschung (M. Dibelius, Ph. Vielhauer, H. Conzelmann, E. Käsemann, E. Haenchen) gehen. Hatte diese die Apg als ein literarisches Werk vorwiegend fiktionalen Charakters angesehen, das in erster Linie nicht durch geschichtliche Quellen und Informationen, sondern durch die heilsgeschichtliche Theologie seines Verfassers bestimmt war, und das insbesondere in einem unüberbrückbaren Gegensatz zur Theologie des Paulus stand, so betonen sie statt dessen sehr viel stärker den Geschichtswert der Apg, ihrer Fundierung durch authentisches Quellenmaterial und ihre Nähe zu Werken antiker Historiographie. So machen sich beide die von M. Hengel vorgeschlagene Bezeichnung der Apg als "historische Monographie" zu eigen, freilich nicht ohne zugleich den gattungsmäßigen Bezug auf die biblische Geschichtsschreibung mit ihrer theologisch motivierten Ausrichtung auf die Geschichte des Gottesvolkes zu betonen: Es handelt sich um theologische Geschichtsschreibung. Fast deckungsgleich sind ferner ihre Urteile über die Entstehungszeit (Fitzmyer: zwischen 85-90; Jervell: zwischen 80 und 90), die literarische Zusammengehörigkeit mit dem LkEv (wobei Jervell allerdings einen zeitlichen Abstand zwischen der Entstehung beider Werke annimmt) und vor allem über den Autor:

Der Name Lukas sei authentisch; es handle sich um den aus Phlm 24, Kol 4,14 und 2Tim 4,11 bekannten Mitarbeiter und Reisebegleiter des Paulus, der in den ihm gewidmeten Abschnitten der Apg größtenteils aus unmittelbarer Augenzeugenschaft berichte, hingegen keine Kenntnis der Paulusbriefe habe. Diese Entscheidung über die Verfasserschaft stellt zugleich die Weichen für das Urteil hinsichtlich der Quellenfrage: Die "Wir"-Stücke gelten als durchweg authentische lukanische Berichte, und zwar des Näheren als Teile eines Tagebuches oder von Reisenotizen des Lukas, die dieser aufbewahrt und später bei der Abfassung der Apg in diese inkorporiert hat (Fitzmyer 103; vgl. Jervell 66). Freilich hat Lukas, "weil er offenbar nur für eine kurze Zeit mit Paulus zusammen war, auch Informationen von anderen bekommen"; und zwar griff er auf die in seiner Kirche kursierenden "Mitteilungen, Gerüchte, Geschichten, Anklagen, Nachreden etc., zutreffender und unzutreffender Art" sowie auf Informationen von anderen Paulusmitarbeitern zurück (Jervell 67).

Jervell (64 f.) vermutet auch hinter den Nachrichten über die Jerusalemer Urgemeinde sowie die übrigen größeren Gemeinden "Tradition als Gemeingut, das überall zu finden war". Er setzt also - wohl zu Recht - auf einen breiten Bestand mündlichen Quellenmaterials. Hingegen vertraut Fitzmyer auf einen breiteren Bestand schriftlicher Quellen. Das betrifft vor allem die erste Hälfte der Apg, wo er unter Rückgriff auf die Quellenhypothese von P. Benoit eine palästinische (eher griechisch- als aramäischsprachige), eine antiochenische und eine paulinische (d. h. aus dem Umkreis des Paulus stammende) Quelle postuliert (hilfreich die tabellarische Auflistung 85-88). Relativ weit divergiert das Urteil über die Summarien 2,42-47; 4,32-35 und 5,12-16: Fitzmyer (98) beurteilt sie (m. E. etwas pauschal) als lukanische Bildungen, deren literarische Vorbilder einerseits im MkEv, andererseits in der zeitgenössischen hellenistischen erzählerischen Prosa zu suchen sind, während Jervell (154-158) sie für von Lukas aufgrund von vorgegebenem traditionellem Material gestaltet hält. Das Urteil über die Apg-Reden hingegen unterscheidet sich nur in Nuancen. Beide Vff. sind nämlich darin einig, dass sie in ihrer vorliegenden Form aus der Feder des Lukas stammen und dass sie sich hauptsächlich an die Leser wenden, um ihnen an entscheidenden Punkten die Bedeutung der erzählten Ereignisse zu erklären und übergreifende Entwicklungen herauszustellen. Eine Ausnahme macht nach Fitzmyer (108) lediglich die Abschiedsrede in Milet (20,18-25) als "based on direct knowledge by the narrator, and the only speech evocative of Paul’s personal style, though simplified for use in an historiographic work". Jervell, der dieses Urteil über die Miletrede uneingeschränkt teilt (72) will darüber hinaus in allen übrigen Reden (mit Ausnahme von 17,22-31) ein gewisses Maß an Tradition finden. Er rechnet mit von Lukas vorgefundenen Redenfragmenten, zumindest aber mit Grundschemata von apostolischen Heiden- und Judenmissionspredigten: "Oder hatten die Christen eine Jesusüberlieferung, aber keine Apostelüberlieferung, wenn es sich um Reden handelte? ... Sollte man ... kein Interesse an Überlieferung von Reden aus der ersten Generation gehabt haben? Kann man dafür keinen Sitz im Leben erkennen?" (70) Das sind allerdings nicht nur - wie Jervell zu insinuieren scheint - rhetorische, sondern echte Fragen, auf die die Forschung, soweit ich sehe, noch keine zureichende Antwort weiß.

Trotz solcher weitgehender Gemeinsamkeiten hat, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, jeder der beiden Kommentare sein spezifisches, unverwechselbares Eigenprofil.

Fitzmyer folgt dem vorgegebenen Grundschema der Anchor-Bible. Auf einen den übergreifenden Grundfragen gewidmeten Einleitungsteil, der - bezeichnenderweise - keinen Abschnitt über die Theologie der Apg enthält, folgt die Einzelauslegung, die jeweils untergliedert ist in Übersetzung, "Comment", "Notes" und "Bibliography". Nicht einsichtig ist mir, warum - anders als in früheren Bänden der Reihe - dem Einleitungsteil eine Gesamtübersetzung vorgeschaltet ist, zumal diese wortgleich mit den im Rahmen der Einzelauslegung wiedergegebenen Übersetzungen einzelner Abschnitte ist. Die Schwäche dieses Schemas besteht darin, dass es den Vf. nicht dazu nötigt, dem Leser unmittelbar einsichtig zu machen, wie sich die Gesamtauslegung im "Comment" aus den exegetischen Einzelbeobachtungen der "Notes" ergibt. "Comment" und "Notes" laufen vielfach relativ unverbunden nebeneinander her. So beschränken sich die "Comments" weithin darauf, die Stellung der Einzelperikopen im Ganzen der Apg zu beschreiben, ihren Inhalt kurz zu paraphrasieren und historische Fragen allenfalls anzudeuten.

Die "Notes" erklären philologische und historische Einzelheiten und bieten biblische Querverweise sowie Hinweise auf antike Quellen. Zwar werden in ihnen gelegentlich auch abweichende Standpunkte in der Literatur erwähnt, doch ist für eine kritische Auseinandersetzung mit diesen - schon auf Grund des Fehlens eines Anmerkungsapparates - kein Raum. Überdies fällt auf, dass es sich bei der hier berücksichtigten Literatur fast durchweg um ältere Standardwerke handelt. Die neuere Literatur (übrigens auch die deutschsprachige, was heute bei amerikanischen Autoren nicht mehr selbstverständlich ist!) wird in den "Bibliographies" zwar erfreulich zuverlässig erfasst, in den "Notes" jedoch kaum berücksichtigt.

Dies alles hat zur Folge, dass die "konservative" Sicht der Quellenlage unmittelbar einmündet in eine konservative Sicht der lukanischen Geschichtsdarstellung, d. h. in eine Bestätigung dessen, was man schon immer aus ihr herauslesen zu können meinte. F. gibt sich weithin mit der Feststellung zufrieden, dass die Dinge sich tatsächlich so ereignet haben könnten, wie Lukas sie darstellt. Kaum je fragt er nach der spezifischen theologischen Tendenz der lukanischen Geschichtsdarstellung, den durch sie bedingten Einseitigkeiten und (bewussten oder unbewussten?) Verkürzungen geschichtlicher Sachverhalte sowie nach der Verortung von lk Theologie und Geschichtsschau im Gesamtspektrum des Urchristentums.

Dafür nur zwei Beispiele: (1) Wir erfahren von F. weder etwas über die - aus 6,1-7 zu erschließende - Bedeutung der "hellenistischen Sieben" für die christliche Anfangsgeschichte (F. versteht den Vorgang nur als Einsetzung einer "new class of ministers" durch die Apostel [345]), noch über die Hintergründe der in 15,36-40 erwähnten folgenschweren Trennung zwischen Paulus und Barnabas (F. führt sie lediglich auf persönliche Querelen zurück [571]), und die sich angesichts von 21,17-25 doch immerhin mit einiger Dringlichkeit stellende Frage nach der Annahme oder Ablehnung der paulinischen Kollekte für Jerusalem scheint F. keiner Erörterung wert zu sein. - (2) Zu 15,1-21 erfährt man zwar, dass das Aposteldekret - entgegen der lukanischen Darstellung - nicht auf dem Apostelkonvent selbst beschlossen worden sein kann, sondern als Versuch, dessen Folgen zu bewältigen, zu beurteilen ist ("Luke has ... telescoped two incidents that were historically distinct in topic and in time [552]), doch wird die theologische Problematik der Vorgänge selbst wie auch deren lukanischer Deutung nivelliert. F. lässt es bei dem schlichten Hinweis bewenden, Lukas gehe es darum, "to stress the inevitable break with Judaism" (552). Das bleibt ganz auf der Linie jener Selbstverständlichkeit, mit der Lukas als Heidenchrist eingeführt und die universalistisch-heidenchristliche Grundlinie der Apg aus 1,8 deduziert wurde. Kritische Fragen zu alledem, wie sie in der Apg-Diskussion der letzten Jahre laut geworden sind, bleiben bei F. unberücksichtigt.

Bei Jervell hingegen stehen eben diese kritischen Fragen im Zentrum. Sein Kommentar präsentiert sich bereits formal als ein Meisterstück übersichtlicher Disposition und darstellerischer Präzision. Zunächst werden in einem 56 Seiten umfassenden Einleitungsteil die für die Auslegung maßgeblichen literarischen, historischen und theologischen Grundentscheidungen vorgestellt. Den Auftakt bildet dabei ein Abschnitt, der den Ort des Kommentars innerhalb der neueren Auslegungsgeschichte beschreibt. Hier erfährt der Leser mit aller wünschenswerten Deutlichkeit, was ihn erwartet: Keine Fortführung oder Modifikation der Position des seinerzeit ungemein einflussreichen Vorgängerkommentars von E. Haenchen, sondern ein radikaler Bruch mit der von diesem maßgeblich repräsentierten "kritischen deutschen Nachkriegserforschung und -beurteilung der Apostelgeschichte" (49).

Die Einzelauslegung folgt dem Grundschema: Übersetzung - Literaturangaben - Vers-für-Vers-Exegese - Zusammenfassung. Dadurch ergibt sich eine klare, vom Leser nachvollziehbare Linienführung: Die durch die Einzelexegese bereitgestellten Bausteine werden in der Zusammenfassung zu einem übersichtlichen Ganzen verbunden. J. verzichtet auf den Duktus sprengende Einzelausführungen und Auseinandersetzungen. Zwar fehlen Exkurse, doch wird ein bei aller Knappheit sehr informationsreicher Anmerkungsapparat geboten. In ihm gelingt es J. sehr gut, seinen eigenen Standpunkt innerhalb des neueren Forschungsspektrums auch hinsichtlich von Einzelfragen exakt zu verorten. Dies geschieht, indem die neueren Kommentare (v. a. Conzelmann, Haenchen, Lüdemann, Roloff, Schille, Schmithals, Wikenhauser, Weiser) sowie andere wichtige Apg-Literatur gleichsam als "ständige Zeugen" in die Anmerkungen eingebracht, jeweils hinsichtlich ihrer Urteile typisierend zusammengefasst und mit Zustimmung bzw. Ablehnung bedacht werden.

J. verspricht nicht zu viel, wenn er in seinem Einleitungsteil einen radikalen Bruch mit der Auslegungstradition signalisiert. In der Tat: Hier wird ein Bruch vollzogen. Und zwar nicht nur mit der durch Haenchen repräsentativ zusammengefassten deutschen Nachkriegsforschung, sondern darüber hinaus mit der (etwa auch von Fitzmyer vertretenen) traditionellen Auslegung im weiteren Sinn. Dies ist nachgerade ein Lehrstück dafür, wie vage und unangemessen in der Exegese der Begriff "konservativ" sein kann. Denn J. ist - wie anfangs gezeigt - hinsichtlich seiner Quellenbeurteilung und der Einschätzung des Geschichtswertes der Apg durchaus "konservativ", doch gerade dieser Konservatismus liefert die Basis für die Entfaltung einer die Grenzen des Herkömmlichen sprengenden Gesamtsicht.

Es geht J. zentral um eine neue Sicht der Stellung der Apg zum Judentum und damit ihrer Ekklesiologie. Lk schreibt - so die Leitthese - weder von einem heidenchristlichen Ausgangspunkt aus, noch ist sein Ziel die Darstellung der Entwicklung der Kirche hin zu einem als Ziel der Heilsgeschichte verstandenen Heidenchristentum. Er vertritt vielmehr eine judenchristliche Position. Und zwar ist er so tief in jüdischen Überlieferungen verwurzelt, dass sich für ihn die Annahme judenchristlicher Herkunft nahelegt.

Das zeigt sich zunächst an seiner Christologie und Soteriologie: Sein Messiasbild ist jüdisch geprägt; Jesus wird als der gezeichnet, der die Israel gegebenen Heilsverheissungen nicht aufhebt, sondern abschließend erfüllt. Analoges gilt für sein Gesetzesverständnis: Die Tora - und zwar mit Einschluss der Ritual- und Opfergesetze - ist in der Kirche gleichermaßen für Menschen jüdischer und heidnischer Herkunft verbindlich. Daraus ergibt sich als wichtige Folgerung eine zentral am Gottesvolk-Gedanken orientierte Ekklesiologie: Die Kirche ist nicht das "neue" Gottesvolk, weder in der Weise, dass sie Israel als "altes" Gottesvolk ersetzen würde, noch so, dass sie das Resultat eines Zusammenwachsens von Juden und Heiden wäre; sie ist vielmehr "das eine Israel als Gottes Volk schlechthin" (50), das durch das Hinzukommen ehemaliger Heiden erweitert und zu seiner endzeitlichen Fülle gebracht wird. Ein gesetzesfreies Heidenchristentums ist von daher für Lukas keine reale Möglichkeit. In seinen Augen sind die zum Christusglauben bekehrten Menschen aus dem Heidentum im Status von Gottesfürchtigen, die das Gesetz grundsätzlich als verbindlich anerkennen. Dies hat erhebliche Konsequenzen für das Paulusbild: Der lk Paulus ist nicht der Heidenapostel, "sondern der Apostel der Juden und der Welt, d. h. der Diaspora. Er ist der Pharisäer schlechthin, nicht ein Expharisäer, sondern sozusagen der ewige Pharisäer" (51).

Einige Komponenten dieser Sichtweise J.s sind ähnlich in den letzten Jahren im Bereich der deutschsprachigen Forschung vertreten worden; genannt seien hier nur G. Lohfink (zur lk Ekklesiologie), M. Klinghardt (zum judenchristlichen Charakter des lk Werkes und seines Gesetzesverständnisses) und K.-W. Niebuhr (zur jüdischen Identität des Paulus). Neu und verdienstvoll ist jedoch die Zusammenschau zu einem übergreifenden Gesamtkonzept und dessen konsequente Erprobung an einer Auslegung der Apg. J. vermutet sicher mit Recht, dass sich aus diesem Gesamtkonzept erhebliche Konsequenzen für die Sicht der frühesten Kirchengeschichte ergeben könnten. Ist nämlich ein so profilierter judenchristlicher Standpunkt, wie er ihn für Lk reklamiert, "sozusagen im Hauptstrom des frühen Christentums auch nach dem Jahr 70" vertreten worden (51), dann war das Judenchristentum keineswegs eine nach der Katastrophe Jerusalems fast spurenlos verschwundene Erscheinung am Rand der Entwicklung zur heidenchristlichen Großkirche. Es wäre dann vielmehr damit zu rechnen, dass die lk Darstellung des gesetzestreuen Paulus, seiner Missionsweise, auch der Massenbekehrungen von Juden und Gottesfürchtigen noch an der Wende zum 2. Jh. für nicht unwesentliche Teile des frühen Christentums "einen aktuellen normativen und paränetischen Sinn" hatte (52).

Erstaunlich konsequent und einlinig ist das Bild der missionarischen Entwicklung, das J. aus der Apg deduziert. Die "Hellenisten", die - wohl historisch zutreffend (222) - zwar als kultkritisch, nicht jedoch als gesetzeskritisch dargestellt sind, haben sich grundsätzlich auf Mission innerhalb der Grenzen des Got-tesvolkes beschränkt d. h. bei Samaritanern und Proselyten (Apg 8,1-40). Das setzt voraus, dass auch der äthiopische Kämmerer (8,26-40) für Lk als Proselyt galt (was m. E. nicht eindeutig ist). Der Übergang zur Völkermission wird durch einen doppelten Auftakt eingeleitet: die Bekehrung des Paulus (9,1-30) und die Taufe des Kornelius (10,1-11,18). Obwohl historisch der Zusammenhang zwischen der Kornelius-Szene und Petrus offen bleiben muss, wird sie als zutreffender Hinweis darauf verstanden, dass Petrus "offenbar auch die Heidenmission ohne Beschneidungszwang anerkannt" hat (319), und zwar bereits vor dem Apostelkonvent. Eine Rückdatierung von 10,1 bis 11,18 hinter diesen ist darum nicht notwendig. Dies um so weniger, als es ja nicht um gesetzesfreie Heidenmission, sondern nur um eine Heidenmission ohne Beschneidungszwang ging.

Auch auf dem Apostelkonvent (15,1-35) stand allein die Beschneidungsfrage zur Debatte: Können unbeschnittene Menschen aus den Weltvölkern zum Gottesvolk gehören, dem allein das Heil zugesprochen ist? (403). J. sieht das sicher richtig.

Ich vermag ihm jedoch nicht zu folgen, wenn er die Beschneidungsproblematik einseitig mit der Forderung kultischer Reinheit für die Heiden verbindet und von da her das (zutreffend vom Reinheitsgesetz Lev 17 her gedeutete) Aposteldekret auch historisch als zentralen Inhalt der Konventsentscheidung ansieht. Ging es nicht vielmehr in erster Linie um die ekklesiologische Frage, ob christusgläubige Heiden ohne Beschneidung dem Gottesvolk zugehören können oder ob sie im Status einer Randgruppe verharren müssen? Das implizierte zugleich die Frage nach der Konsequenz, die sich aus der als Aufnahmeritus in die Kirche verstandenen Taufe für die Gewichtung der Beschneidung ergab (vgl. hierzu zuletzt W. Kraus, Zwischen Jerusalem und Antiochia, Stuttgart 1999). Die Spannung zwischen Apg 15 und dem paulinischen Eigenbericht in Gal 2, vor allem im Hinblick auf Ursachen und Verlauf des antiochenischen Konflikts, macht doch wohl die Annahme, das Dekret gehöre historisch zur Folgegeschichte des Konvents, nicht jedoch zu diesem selbst, unausweichlich. J. will dieser Annahme durch recht "lockere" Interpretationen der paulinischen Selbstaussagen ausweichen: Paulus habe es mit den Tatsachen nicht so genau genommen (aber konnte er sich das in der kritischen Situation des Gal überhaupt leisten?), und überdies sei (H. Räisänen folgend) in seinen theologischen Aussagen ein Mangel an Kohärenz vorauszusetzen. Hier liegt m. E. ein Schwachpunkt in J.s sonst weithin so erhellender und überzeugender Darstellung.

Weitere kritische Fragen wirft die Deutung des lk Paulusbildes auf. J. wischt erstaunlich unbekümmert den weitgehend etablierten Forschungskonsens beiseite, wonach der lk Paulus nicht zum Kreis der Apostel gehört, sondern ein berufener Zeuge eigener Funktion und eigenen Rechtes neben (bzw. nach) den "12 Aposteln" ist, wenn er (vor allem unter Bezug auf 14,4 und 14) dekretiert: "Paulus trägt in der Apg überhaupt keinen Titel abgesehen von ,Apostel’ (370)". Zugegeben: Für Lk ist Paulus "offenbar mehr" als die "Zwölf". Schwerlich lässt sich jedoch der Aposteltitel vom Begriff der "Zwölf" so leicht abkoppeln, wie J. es wahrscheinlich machen möchte (371). Dem steht unter anderem schon die solenne Definition des Zwölferapostolats im Sinn kirchlich maßgeblicher Augenzeugenschaft (1,21-25) entgegen.

Auf alle Fälle haben wir es hier mit einem wichtigen Kommentar zu tun, aus dem sich viel lernen lässt und der zweifellos die Diskussion bereichern wird. Seine besondere Bedeutung dürfte wohl darin liegen, dass er unser Bild vom Verhältnis zwischen der Kirche der Anfangszeit zum Judentum durch wesentliche neue Facetten bereichert, indem er das Klischee vom "neuen Gottesvolk", das an die Stelle des "alten" tritt, als auch für das lk Werk unzutreffend aufweist. Man sollte sich allerdings darüber im Klaren sein, dass auch die von Lk vertretene theologische Lösung höchst einseitig und problematisch ist. Nach ihr ist in der Kirche "das wahre Israel aus allen Juden der Welt gesammelt, denn allein die Kirche aus Juden und gottesfürchtigen Heiden ist das Gottesvolk." Das "ungläubige Judentum" hingegen ist "von Gott durch die Schrift verurteilt und verworfen" (631). Verhält es sich bei Lk aber so, dann folgt daraus einerseits, dass er der Kirche gleichsam das Alleinvertretungsrecht für Israel zuspricht und andererseits, dass in seinem theologischen Blickfeld - ganz anders als in dem des Paulus von Röm 9-11 - die Realität eines neben der Kirche existierenden, sich dem Glauben an Jesus verschließenden Israel sowie die Gewissheit von dessen bleibender Erwählung als Gottesvolk keinen Platz hat.