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Ausgabe:

Februar/2000

Spalte:

153 f

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Bovon, François

Titel/Untertitel:

Das Evangelium nach Lukas. 2. Teilbd.: Lk 9,51-14,35.

Verlag:

Zürich: Benziger; Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 1996. VIII, 556 S. gr.8 = Evang.-Kath. Kommentar zum Neuen Testament, III,2. Kart. DM 148,-. ISBN 3-545-23127-5 u. 3-7887-1549-9.

Rezensent:

Josef Ernst

François Bovon, der Altmeister der Lukasforschung, hat sieben Jahre nach dem ersten Teil seines großen Kommentarwerkes nun den zweiten Band vorgelegt. Auf 556 Seiten werden in 27 Abschnitten Bilder aus dem sogenannten Reisebericht des Lukasevangeliums abgehandelt. Die Struktur oder die Grundlinien der Bearbeitung halten sich wie im ersten Band an das vorgegebene Schema des Dreischritts. Die sogenannte Analyse geht jeweils auf die literaturwissenschaftlichen Probleme, speziell auf Fragen der Traditions-, Redaktions- und Formgeschichte ein. Die Erklärung beschäftigt sich mit den inhaltlichen theologischen Fragen. Die Wirkungsgeschichte, die im vorliegenden Band umfangreicher als im ersten geraten ist, bemüht sich um die Ausleuchtung der Rezeption, die im größeren Zusammenhang der neueren hermeneutischen Erkenntnisse der Interpretation dient.

Da die Besprechung keine thematische Gesamtdarstellung bieten kann, seien hier in Kürze einige paradigmatische Abschnitte vorgestellt: 9,51-56: Die abweisenden Samariter; 9,57-62: Nachfolge; 10,1-20: Die Verbreitung des Evangeliums; 11,1-4: Das Vaterunser; 11,5-13: Die Gebetskatechese; 11,37-54: Die große Rede gegen Pharisäer und Schriftgelehrte; 12,22-34.35-48: Sozialethische Fragen; 13,18-21: Das Gleichnis vom Senfkorn und vom Sauerteig; 14,7-11: Die Gastregel; 14,12-14: Die Gastgeberregel; 14,15-24: Das Gleichnis vom großen Gastmahl; 14,25-35: Die Ausführungen über die Jüngerschaft.

Der Kommentar ist auf der ganzen Linie übersichtlich gestaltet und theologisch fundiert ausgeleuchtet. Als Beispiel greife ich das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (10,25-37) heraus, das die neutrale und wertbezogene Überschrift "Der Zugang zum ewigen Leben" erhalten hat. Es gehe dem Evangelisten nicht um Tugendlehre und Erziehung zu Wohltätigkeit, sondern um ein passendes Modell von Erlösung. "Eine solche christologische Struktur ist im mitleidenden und handelnden Gott verwurzelt und entfaltet sich in der Kirche, deren Glieder in Glauben und Praxis den Gebärden der Barmherzigkeit ihres Herrn folgen" (82).

Besonders erhellend sind die strukturanalytischen Überlegungen zur Gestalt und zum Profil dieser Perikope. B. erkennt das Modell eines rabbinischen Streitgespräches in zwei Runden, mit dessen Hilfe Lukas eine allgemeine ethische, vielleicht auch christologische Lektion formuliert habe. In der traditionsgeschichtlichen Herkunftsfrage entscheidet sich der Kommentator für Zuweisung zum Sondergut des Lukas. Besondere Beachtung verdienen hier die wirkungsgeschichtlichen Einblicke in die Auswertungsgeschichte bis in die heutige Zeit hinein. Ein Hinweis auf die moderne Literaturgeschichte mit Namen wie André Gide, Franz Kafka und Wolfdietrich Schnurre hätte das Bild glänzend abrunden können. Ein anderes Beispiel einer gelungenen Exegese bietet der Abschnitt 12,22-34: Eine Suche ohne Sorgen. Wie gewohnt ist die Literaturangabe erschöpfend, wobei sich dann natürlich auch die Frage nach der inhaltlichen Auswertung des gebündelten Materials drängend stellt. Im Zeitalter von Computer und Internet ist die klassische Form der Bibliographie offenbar doch noch nicht ganz überholt. B. bietet in der Analyse einen glänzenden Gliederungsvorschlag, welcher den "irritierenden" und "befreienden" Ausführungen des Evangelisten ein Gesicht gibt: "eine Lektion im Stil der jüdischen Weisheit, in der die Imperative mit den Indikativen, die Ratschläge mit den Erklärungen abwechseln" (295). Besondere Beachtung verdient das abschließende Resümee, das von der fachexegetischen Problematik zu den aktuellen ethisch-religiösen Fragen und Sorgen des heutigen Lesers/Leserin des Evangeliums überleitet: Geld und Besitz gibt man nur ungern aus der Hand, das Evangelium verweist mit V. 34 "denn wo euer Schatz ist, da wird auch euer Herz sein" auf das Prinzip der Liebe. "Allein die Weisheit Christi, sein Wort im Evangelium und sein Geist in uns, kann uns veranlassen, diese Ethik zu praktizieren" (318).

Ein glänzendes Beispiel für den Lebensbezug der ausgefeilten wissenschaftlichen Kommentierung sind die Ausführungen über die Verse 11,33-36: "Die Leuchte und das Auge" mit dem kurzen Exkurs zu den griechischen, jüdischen und frühchristlichen Parallelen. Die Erklärung: Der Spruch wolle auf das geistliche Organ des Menschen, welches den Blick auf Gott öffnet, hinweisen, überzeugt voll und ganz. Ein weiteres informatives Paradebeispiel schriftgelehrter Exegese im besten Sinne des Wortes bieten die Kommentierungen zu 11,37-54: "Ein Gastmahl mit schlechtem Ausgang". Die perfekte szenische Gliederung mit knapper graphischer Darstellung, die Ausführungen zur Erklärung des Sprachmaterials und zur lukanischen Gesamtinterpretation sind einsichtig und nachvollziehbar. "Lukas ist seinen Quellen treu und folgt im Wesentlichen eng den Angaben der Überlieferung. Er ist deswegen aber kein schwacher Theologe, denn es gelingt ihm, den alten Sprüchen Jesu wie den neueren Formulierungen der Kirche inhaltliche Kohärenz zu verleihen. Aus den alten Konflikten mit den Pharisäern extrahiert er eine strenge Konzeption der Ethik" (240). Diese wenigen Beispiele zur Kommentierung müssen genügen. Es ist schwierig, einen Teil des groß angelegten Evangelienkommentars erschöpfend auszuleuchten und literarisch und theologisch zu würdigen. Der kurze Verlagshinweis auf dem Einband des Buches hebt zu Recht das Bild von Jesus, dem Propheten, dem Weisen, dem Messias als den entscheidenden Generalnenner hervor.

Einige Anmerkungen grundsätzlicher Art seien gestattet. Die für das Lukasevangelium charakteristischen Themen wie soziale Fragestellung, die Rolle der Frau, Minimalisierung der Eschatologie, die Ersetzung der Verkündigung durch narrative Darlegungen klingen zwar an, aber sie gehen dann im Fluss des Evangelientextes und der Sachkommentierung unter. Einige wenige in den Kommentar eingebaute Exkurse, z. B. zur Theologie des Reiseweges, wären eine gute Orientierungshilfe gewesen. Positiv muss angemerkt werden, dass die typisch deutschen Zentralfragen nach der sogenannten frühkatholischen Überformung des Evangeliums und nach Heilsgeschichte statt Kerygma ausgespart sind. Insgesamt zeichnen sich mit dem zweiten Band die Grundlinien eines monumentalen Standardwerkes ab. Der Vergleich mit dem großen dreibändigen amerikanischen Kommentar von Joseph Fitzmyer beleuchtet treffend die internationalen Perspektiven. François Bovon, französischsprachiger Schweizer, gegenwärtig Ordinarius an der Divinity School der Universität Harvard, hat mit diesem Werk in der Lukasforschung Maßstäbe gesetzt.