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Ausgabe:

Februar/2000

Spalte:

150–152

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Withöft, Rainer

Titel/Untertitel:

Civil Religion und Pluralismus. Reaktionen auf das Pluralismusproblem im systematisch-theologischen Diskurs.

Verlag:

Frankfurt/M.-Berlin-New York-Paris-Wien: Lang 1998. 323 S. 8 = Kontexte, 25. Kart. DM 89,-. ISBN 3-631-31612-7.

Rezensent:

Günter Thomas

Die 1996 in Frankfurt als systematisch-theologische Dissertation angenommene Arbeit von Rainer Withöft beansprucht, den komplexen Zusammenhang zwischen einem weltanschaulich religiösen Pluralismus westlicher Gesellschaften, dem Vorkommen zivilreligiöser Phänomene in diesen Gesellschaften und theologischen Reaktionen auf beide Sachverhalte zu erhellen.

W.s Ausgangsthese ist, dass die Phänomene der Civil Reli-gion mit ihrem minimalisierten Bestand an religiösen Grundanschauungen faktisch eine Reaktion auf die Situation eines religiösen Pluralismus und eine außerkirchliche Religiösität in der Sphäre der Politik darstellen. Nach W.s Überzeugung ist die Civil Religion einerseits ein Ausdruck der gegenwärtigen religiösen Kultur, andererseits aber eine durch und durch inadäquate Reaktionsgestalt auf sie. Um die Civil Religion zu kritisieren, so W.s Programm, sollen zunächst solche nordamerikanische Theologieentwürfe analysiert werden, die in ihrer materialen Ausführung explizit oder implizit einen konstruktiv-kritischen Beitrag zum religiösen Pluralismus leisten. Von deren reicheren und zugegebenermaßen auch normativen Modellen des Pluralismus verspricht sich W. Einsichten, um Gestalt, ,Theologie’ und Funktion der Civil Religion einer systematisch-theologischen Kritik zu unterwerfen bzw. zu bestätigen. Allerdings zielt seine Rekonstruktion letztlich auf eine geeignete Religions- und Kulturtheorie, die sozusagen einen großen konzeptionellen Rahmen abzugeben imstande sein soll.

"Civil Religion und Pluralismus" besteht aus vier Teilen. Im ersten Teil stellt W. auf knapp 20 Seiten den Themenkomplex ,Civil Religion’ dar, wie er primär im amerikanischen Umfeld greifbar ist und vor allem von Robert Bellah beschrieben und interpretiert wurde. Der zweite, gut 140 Seiten umfassende Teil stellt den eigentlichen Kern des Bandes dar. In ihm analysiert W. zunächst die Pluralismuskonzeption des katholischen Theologen David Tracy, mit einem besonderem Augenmerk auf dessen Klassikerkonzeption und dessen Vorstellung öffentlicher Theologie. Daran anschließend rekonstruiert er die Grundlinien der Arbeit des lutherischen Theologen George A. Lindbeck zu Glaubenssystemen als religiösen ,Sprachen’. Als dritten Exponenten einer pluralismusfähigen Theologie stellt er den reformierten Theologen Edward Farley vor, wobei er sich auf dessen fundamentalanthropologische Arbeit "Good and Evil" konzentriert. Der vierte nordamerikanische Theologe ist der methodistische Systematiker und Religionsphilosoph Robert C. Neville, der von den vier vorgestellten sicherlich der hierzulande am wenigsten bekannte Systematiker ist. Im dritten Teil (knapp 90 Seiten) lenkt W. den Blick auf die deutsche Situation und referiert zunächst die Grundzüge der deutschen Diskussion um die Civil Religion und wichtige Studien zur Religiosität in Deutschland. Nach einem Kurzreferat zum Kultur- und Religionsverständnis Tillichs fasst er die einschlägigen Veröffentlichungen von Eilert Herms und Michael Welker zu Pluralismus zusammen. Der vierte (23 Seiten) Teil bietet Zusammenfassungen und Thesen zu Sache.

Zunächst einige Anmerkungen zur Methode W.s. Sein sachliches und methodisches Vorgehen hat eine große Stärke, ist aber zugleich mit mehreren Problemen behaftet. Die stark an einzelnen Entwürfen orientierte Darstellung hat ohne Zweifel den Vorzug, Lesern, die mit dem Werk der amerikanischen Autoren David Tracy, George A. Lindbeck, Edward Farley und Robert C. Neville nicht vertraut sind, in durchdachter und äußerst informativer Weise in deren Denken einzuführen. Hierbei profitiert der Leser von der transparenten und zuverlässigen Darstellung von ,Person, Werk und Wirkung’, von der gelungenen Exposition der jeweiligen Grundthese und Intention sowie von einer informativen Darlegung der Grundzüge von deren Theologie, zugespitzt auf die Frage nach dem theologischen Umgang mit religiösem Pluralismus. Instruktiv, wenngleich äußerst selektiv in der Auswahl der Exponenten, sind auch die Zusammenfassungen zu Eilert Herms und Michael Welker, zu denen noch wenig Sekundärliteratur vorliegt. Soweit die Stärke.

Bedauerlich und wirklich problematisch ist angesichts der Vielzahl der Autoren die mit diesem methodischen Vorgehen verbundene Kürze der Darstellung. So können z. B. wichtige innere Entwicklungen in der Theologie Tracys, die z. T. der Interpretation W.s auch zuwiderlaufen, nicht in den Blick kommen. Ebenso kann ihm, wenn er Lindbeck die Auffassung unterstellt, die pluralistische Fülle der religiösen Traditionen könne daraufhin befragt werden, wie effektiv sie eine innere Erfahrung des Göttlichen widerspiegle, ein gravierender Interpretationsfehler unterlaufen. Und wenn W. in die Darstellung der Position von Robert C. Neville nochmals je drei Seiten lange Kurzreferate zu Charles S. Peirce und Alfred N. Whitehead einbaut, so können sie kaum mehr als einen Assoziationshintergrund schaffen. Und die "Tour de force" durch Tillichs Kulturtheologie und Religionstheologie droht, bekannte Allgemeinplätze zu reproduzieren.

Wie die einzelnen, relativ autonomen Puzzlestücke des Buches sich zur argumentativen Storyline zusammenfügen, ist nicht leicht zu erkennen. Denn, pointiert gesprochen, W. argumentiert nicht wirklich, interpretiert nicht und stellt auch kein sich aus mehreren Theorieperspektiven zusammensetzendes interdisziplinäres oder innertheologisches Forschungsprogramm vor. Schon das Referat der Kritiken an Bellahs Civil Religion (42-45), ja selbst der Verweis auf Bellahs Selbstkorrektur, führt zu keiner selbstkritischen Rückfrage an das an Bellah angelehnte Zivilreligionskonzept. Vielmehr referiert W. immer wieder eine Position, mit der er allerdings nicht - sozusagen von innen heraus oder von außen, von einer anderen Position herkommend - in eine argumentative Auseinandersetzung eintritt. Sicherlich, die Beiträge von Tracy, Lindbeck, Farley und Neville werden mit der Konzeption der Bellahschen Zivilreligion in ein kritisches Gespräch gebracht, aber zwischen den einzelnen referierten Autoren wird keine theologische Sachauseinandersetzung geführt. Auch das Schlusskapitel arbeitet, wohl bündelnd, mit dem additiv-collagierenden Stil. Den Zusammenhang bzw. das Argumentationsmuster erkennt nur der, der bereit ist, mit W. weit über den referierten theologischen Positionen hoch oben in seinem Beobachtungsballon zu steigen und auf die beobachtete Konstellation hinunterzuschauen. Was ist dabei zu sehen?

W. plädiert dafür, in Theologie und Kirche den gegenwärtigen Pluralismus offensiv anzuerkennen und sieht in den amerikanischen Beiträgen spezifische Themenkomplexe wie z. B. Theonomie, Schöpfung, Metaphysik, Spiritualität, Kultur und Religion, Öffentlichkeit etc. angelegt, die geeignet sind, eine pluralistische Orientierung für die Theologie zu ermöglichen. Die eigentliche Spitze seiner Empfehlung an Theologie und Kirche ist aber, sich mit dem Pluralismusthema unter Rückgriff auf die Kulturtheologie und den Religionsbegriff Paul Tillichs zu befassen, da letztlich ein geeigneter Religionsbegriff den Pluralismus aufzunehmen und einzuordnen verspricht. Tillichs Gedanke der Kulturtheonomie ist für ihn ein "verantwortungsvolles Fundament für den pluralistischen Dialog". Von Tillich ausgehend ist, so W., "der Bezugspunkt zwischen Religion und Kultur ... identisch, denn das ist Gott". Tillichs enger und weiter Religionsbegriff (inkl. seine Vorstellung der Theonomie der Kultur), bereitet, so die von W. vertretene Auffassung, "dem Dialog mit dem säkularen Menschen eine fundierte Grundlage. Er weist die Tiefendimension in der säkularen Kultur auf, sowie er dem Andersgläubigen die Tiefe des Unbedingten in seiner eigenen Religion erhellt." (240) Nimmt man ernst, dass es W. "um die Aufrechterhaltung der Differenzen und Differenzierungen" geht, so kann der Vorschlag dieser starken, man möchte fast sagen ,freundlich-imperialen’ Einheitskonzeption nicht ohne Verwunderung zu Kenntnis genommen werden. Sein erklärtes Ziel, "die eine Gottesbegegnung und die vielfältigen Bezeugungen davon" müssten "auf einem allgemeingültigen Fundament, einer universalen Grundlage bestimmbar sein" (290), zeigt an, dass der Pluralismus, den er sucht, noch ein sehr moderner, ein sehr ,sicherer’ ist. Doch ein wirklicher Pluralismus ist nicht zu haben ohne die Möglichkeit radikaler Differenz, ohne das wirkliche und hohe Risiko von Zerstörung und Selbstaufgabe, ohne Anerkennung echter Religionslosigkeit und ohne die Aufgabe eines ,allgemeingültigen Fundamentes’. Wohl mag es innerhalb der Religionen Vorstellungen eines solchen Fundaments geben, aber diese sind dann nicht allgemeingültig, sondern innerreligiös entwickelt und ebenso diskursbedürftig - und eben darum keine universale Grundlage. Wirklicher Pluralismus ist ein Spiel nur mit Spielern, ohne Schiedsrichter, oder: eine Akrobatik ohne das sichere Netz eines allgemeinen Fundamentes. Geht es dem wirklichen Pluralismus um die risikoreiche Verabschiedung des "God’s Eye Point of View" des Universalen und Allgemeingültigen, so zieht W. bei aller bekannten und eingeklagten Offenheit doch die sicherere, modernere Variante des Pluralismus vor.

Blickt man von diesem Endpunkt zurück, so erkennt man, wie sehr die Arbeit durch ein durchgehendes doppeltes Strukturproblem im Grundbegriff ,Pluralismus’ belastet ist. Zum einen behandelt W. einen weltanschaulichen, interreligiösen, interkonfessionellen, innerkonfessionellen, innerkirchlichen, theologischen und gar innerindividuellen Pluralismus auf einer Ebene, ohne systematisch Differenzierungen einzuziehen. Zum anderen operiert er durchgehend mit einem einerseits empirisch-wissenssoziologischen Verständnis eines Pluralismus im Sinne von "Pluralismus ist eine gegebene Situation" und andererseits mit einem äußerst anspruchsvollen Pluralismuskonzept, das an wechselseitiger Anerkennung, Gespräch, authentischem Dialog, der Freisetzung religiöser Kreativität, Toleranz, Selbstkritik, gemeinsamer Wahrheitssuche, ja an "Entprovinzialisierung und Entpartikularisierung des Glaubens" ausgerichtet ist. Dieser friedfertige, entspannt liberale und gegenseitig bereichernde Pluralismus ist aber - und hier gibt es nur sehr wenige Optionen - entweder 1. ein (weithin kontrafaktisches, aber notwendiges) Ideal bzw. eine regulative Idee und 2. eine religiöse Hoffnung bzw. eine theologisch beschreibbare Wirklichkeit oder 3. ein Illusionszusammenhang. In der Auseinandersetzung mit diesem Ideal kann die Civil Religion natürlich nur schlecht abschneiden und die selbstkritische Frage, ob die Civil Religion nicht auch eine Reaktion auf Umsetzungsprobleme dieses Pluralismusideals ist, kann erst gar nicht aufkommen. Zu W.s Entlastung ist zu sagen, dass er dieses doppelte Strukturproblem von den meisten der behandelten Autoren erbt, aber seine additive Methode verstärkt es noch.

Äußerst verdienstvoll ist W.s Unterfangen, vier gewichtige amerikanische systematische Entwürfe für deutsche Leserinnen und Leser vorzustellen. Ein großer Gewinn seiner Arbeit liegt darin, deutlich gemacht zu haben, in wie differenzierter Weise innerhalb konstruktiver systematischer Theologie diesseits und jenseits des Atlantiks die Bearbeitung der Pluralismusproblematik angegangen wird, d. h. mit welchen theologischen Modellen bearbeitet und welchen inhaltlichen Themen sie verbunden wird. Diese Öffnung des Blicks ist eine wichtige Ergänzung der Diskussion um eine ,Pluralistische Theologie der Religionen’. W. zeigt für künftige Debatten, von welchem Niveau aus sie weitergeführt werden müssen und wer wichtige Gesprächspartner sind.