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Ausgabe:

Januar/2019

Spalte:

87–89

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Metzger, Thomas

Titel/Untertitel:

Antisemitismus im Deutschschweizer Protestantismus 1870 bis 1950.

Verlag:

Berlin: Metropol Verlag 2017. 652 S. = Studien zum Antisemitismus in Europa, 12. Kart. EUR 24,00. ISBN 978-3-86331-340-1.

Rezensent:

Frank Jehle

Diese historische Dissertation von Thomas Metzger wurde angeregt von Urs Altermatt, Professor an der Universität Freiburg im Üechtland, der selbst im Jahr 1999 mit seiner Monographie »Katholizismus und Antisemitismus: Mentalitäten, Kontinuitäten, Am­bivalenzen. Zur Kulturgeschichte der Schweiz 1918–1945« hervortrat. Viele teilweise prominente Wortführer des Schweizer Katholizismus pflegten nicht nur traditionell antijudaistische, sondern teilweise auch im modernen Sinn des Wortes antisemitische Vorurteile. Etwa das nachmalige Mitglied der Schweizer Regierung Philipp Etter (1891–1977) schrieb anlässlich des Boykotts jüdischer Geschäfte in Deutschland 1933, »jede Verfolgung Andersdenkender aus Gründen der Rasse oder des religiösen Bekenntnisses« sei zwar abzulehnen, aber: »Die Tatsache ist freilich nicht in Abrede zu stellen, dass der jüdische Einfluss auf das deutsche Geistesleben in Kunst, Schrifttum und auf andern Gebieten der Kultur von unheilvoller Wirkung gewesen ist.« Das Judentum habe »zersetzende Kräfte ins deutsche Volkstum hineingetragen«. Altermatt schrieb dazu: »Die mangelhafte Gewissensbildung blockierte die Solidarisierung vieler Christen mit den verfolgten Juden und hemmte deren kritische Selbstreflexion über die christliche Mitverantwortung bei der Diskriminierung, Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden.« (Alle Zitate in: Neue Zürcher Zeitung vom 20. November 1999.)
Es versteht sich von selbst, dass ein Schüler Altermatts eine Arbeit über den Deutschschweizer Protestantismus schreiben musste. Indem M. bereits 1870 einsetzt, kann er zeigen, dass der christliche Antisemitismus lange vor dem Nationalsozialismus virulent war. Und: Die Protestanten waren kaum besser als die Katholiken! Als Quellenmaterial hat M. in jahrelanger Kleinarbeit unzählige Zeitschriften ausgewertet.
In die Augen springt das pietistische Appenzeller Sonntagsblatt, das zu seinen Glanzzeiten eine Auflage von 20.000 erlebte, wobei die Zahl der Lesenden natürlich größer war. Der Schaffhauser Pfarrer Johann Jakob Schenkel (1830–1908) prägte von 1873 bis 1888 den geradezu schockierend »judenfeindlichen Charakter« (581) dieser in frommen Kreisen populären Zeitschrift. Schenkel war Bewunderer des Berliner Hofpredigers und notorischen Antisemiten Adolf Stoecker (1835–1909). Die Evolutionstheorie lastete Schenkel der »jüdischen Presse« an (183).
»[Weil] die Juden sich fühlen und immer fühlen werden als Volk und doch sich zerstreut sehen durch alle Länder der Welt, so werden sie allezeit instinktmäßig hinarbeiten auf die Zerstörung der Eigentümlichkeit jedes Volkes, unter welchem sie wohnen, allermeist aber auf der Völker Entchristlichung. Sie zur Beteiligung an der Gesetzgebung und Regierung des Staates berechtigen, heisst ihnen zu dieser Untergrabungsarbeit die stärks-ten Werkzeuge liefern.« (183 f.)
Schenkel forderte, man solle den Juden nur ein »Gastrecht« respektive »Fremdenrecht«, aber kein »Bürgerrecht« gewähren (202). Und es dürfe keine jüdischen Lehrer geben (209).
Ein anderer Antisemit war Carl Friedrich Heman (1839–1919), evangelischer Theologe und Philosophieprofessor an der Universität Basel, ab 1874 »Proselytenvater«, d. h. Leiter des für konversionswillige Juden bestimmten Basler »Proselytenhauses« der »Freunde Israels«. Diese gingen davon aus, dass die Wiederkunft Christi erst stattfinden könne, wenn das jüdische Volk Jesus als Messias anerkenne. Judenbekehrungen waren selten. (Hemans Vater war ein solcher Proselyt.) Wichtiger waren Gemeindevorträge und die von 1874 bis 1912 von Heman betreute Zeitschrift Der Freund Israels. Zu seiner Zeit wurde eine Auflage von 2000 erreicht. Man liest Erstaunliches:
Das Judentum habe »die Worte der eignen alten Propheten« nicht mehr verstanden, und der Talmud habe »alles Geistesleben unter dem Volk Israel erdrückt und erstickt«, denn das Talmudstudium sei »das dürrste und un­­fruchtbarste und geisttötendste, was man sich denken kann« (177). Das Judentum stehe »im Bunde mit dem Antichristentum und sei seit Beginn der ›gefährlichste Feind des Christentums‹ gewesen« (180). »Unter klarer Schuldzuweisung an das Judentum beklagte Judenmissionsdirektor Friedrich Heman, dass die Juden unter dem ›Deckmantel der Toleranz, Freiheit, Gleichberechtigung‹ mithelfen würden, ›alles Christliche aus dem Staatswesen und den Schulen‹ zu entfernen. ›Das ist der Triumph, dass man im öffentlichen Leben, in Staat und Schule nichts Christliches mehr merken und spüren soll; alles soll konfessionslos gemacht werden.‹« (209 f.) »Rechnet man dazu, dass es fast kein bedeutendes Land der Welt gibt, in welchem nicht auch Juden zu den einflussreichsten Stellungen emporgestiegen sind, und dass die jüdische Geldmacht den ganzen Weltverkehr in ihren Händen hat, so wird man sagen müssen, dass nicht mehr viel dazu fehlt, dass das jüdische Volk sich eine so königliche Weltstellung erringt, wie sie nur irgendein Volk der Erde besitzt […].« (356)
Zu denken gibt, dass nicht nur wie in den bisher referierten Fällen Antisemitismus am rechten Rand des Protestantismus, in erwecklich-pietistischen Kreisen, an der Tagesordnung war, auch nicht nur am linken »liberalen« Flügel etwa im »Schweizerischen Protes-tantenblatt«, das von 1907 bis 1937 vom wegen »seiner zutiefst germanophilen Haltung« bekannten Basler Pfarrer Hans Baur herausgegeben wurde, der 1920 »die Juden« als »Gewinner des Krieges und auf dem Wege zur ›Eroberung der Welt‹« apostrophierte (403). Sondern auch bis heute hochgeachtete Säulen der damaligen Kirche wie der Berner Kirchenhistoriker Friedrich Wilhelm Hadorn (1869–1929), erster Präsident des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbunds, und der Basler Kirchenhistoriker Ernst Staehelin (1889–1980), dreimal Universitätsrektor, gaben Äußerungen von sich, über die man lieber den Mantel des Schweigens ausbreiten würde. »Treitschkes Wort: Die Juden sind unser Unglück! [sei] nur zu wahr geworden«, schrieb Hadorn nach dem Ende des Ersten Weltkriegs (308), während Staehelin 1931 von einem »manichäischem Kampf zwischen Judentum und Christentum« sprach (400). Irritierend ist, dass angesehene evangelische Theologen wie der in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg in Basel und danach in Tübingen lehrende Adolf Köberle (1895–1990) den Antisemitismus und die Judenverfolgungen im nationalsozialistischen Deutschland (pseudo-)theologisch untermauerten, indem sie darin eine »göttliche ›Züchtigung‹ des ›jüdischen Volkes‹« sahen (476).
M.s Dissertation ist faszinierend. Es ist wichtig, dass man auch die peinlichen Seiten der Geschichte des Protestantismus kennt. Kritisch wäre anzumerken, dass es im Deutschschweizer Protes-tantismus auch andere Stimmen gab, die M. allzu knapp behandelt. Wenig schreibt er über Adolf Keller (1872–1963), den Pionier der ökumenischen Bewegung, der sich unermüdlich für die verfolgten Juden einsetzte, über den Zürcher Alttestamentler Ludwig Köhler (1880–1956), der in intensivem Kontakt mit jüdischen Ge­lehrten stand, oder über den liberalen Theologen Fritz Buri (1907–1995), Pfarrer am Basler Münster und Professor für Systematische Theologie an der dortigen Universität, der sich dezidiert gegen antijudaistische und antisemitische Tendenzen aussprach. Dass der »Nur«-Historiker M. den theologischen Riesen Leonhard Ragaz und Karl Barth nicht gerecht werden kann, ist verständlich. Ein Gebet Adolf Kellers aus dem Jahr 1938 stehe hier als Abschluss:
»Herr unser Gott, wir tun Fürbitte für Dein Volk Israel, das Du aus der Mitte der Völker erwählt hast und in dessen Mitte unser Herr und Heiland geboren wurde. Erbarme Dich seiner Leiden! Höre auf seinen Notschrei! Tue Einhalt seiner Unterdrückung und Verfolgung! Befreie es von seinen Ängs-ten! Verleihe ihm Hilfe und Frieden, denn Du bist sein Gott und Vater, der es geschaffen und gerufen und nicht verworfen hat. Zeige uns, wie wir den Kindern der Verheissung helfen können. Wie wir mit ihnen die Bürde ihrer Leiden tragen können und dadurch den Willen unseres Herrn und Meisters erfüllen, der uns sagte, dass wir alles, was wir Einem seiner Brüder getan haben, Ihm getan haben.« (Nach: Marianne Jehle-Wildberger: Adolf Kellers Einsatz für die Opfer des Rassismus, Judaica 70 [2014], H. 4, 399–413, hier 410.)