Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2000

Spalte:

117–119

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Reymond, Bernhard

Titel/Untertitel:

De Vive Voix. Oraliture et prédication. Avant-Propos de P. Gisel.

Verlag:

Genève: Labor et Fides 1998. 159 S. m. Abb. 8 = Pratuques, 18. ISBN 2-8309-0893-7.

Rezensent:

Martin Nicol

Bernard Reymond hat nicht nur der frankophonen Homiletik den ersten eigenständigen Entwurf seit Alexandre Vinet beschert, sondern auch der Homiletik in Europa eine Programmschrift. Es handelt sich um einen homiletischen Traktat, nicht um ein Lehrbuch. Die Darstellung ist flüssig, eher essayistisch als akademisch, stets ausgerichtet an der homiletischen Praxis.

Der Titel gibt die Richtung an: Predigt als viva vox (Evangelii). Der Untertitel weist den Weg: Die Predigt soll wieder verstanden werden als Element einer Kultur des mündlichen Wortes. R. greift damit eine Unterscheidung auf, die in den USA längst zum homiletischen Diskurs gehört: orality und literacy, Kultur des mündlichen und Kultur des schriftlichen Wortes. Trotz gegenläufiger Entwicklungen sei, so die These, die christliche Predigt primär ein Phänomen von "oralité". In diesem Zusammenhang prägt R. das Kunstwort "oraliture" als genaues Pendant zur "littérature". Dem schriftlichen oder gedruckten Wort wird so das mündlich kommunizierte Wort gleichgewichtig gegenübergestellt. Predigten gehören dann nicht zur Literatur, sondern sozusagen zur Oralitur. Mit einer Fülle von praktischen Hinweisen wird Predigtsprache in deutlicher Unterscheidung von Schriftsprache entworfen. Zwar komme die Predigtvorbereitung ohne Formen schriftlicher Fixierung nicht aus. Aber die Predigt selbst sei keine "Vorlesung", sondern eine "Ansprache" (105).

R. entfaltet das Programm einer Predigt als "oraliture" durchweg in ästhetischen Kategorien. Nicht mehr Besinnungsaufsatz oder akademische Vorlesung geben das Paradigma ab für die Predigt, sondern Theaterbühne oder Konzertpodium, kurz das, was im Englischen als "performing arts" bezeichnet wird. Predigen wird zur Performance, der Prediger zum Künstler, der sein Handwerk beherrschen sollte. Predigen wird entfaltet als Kunst des mündlichen Wortes im rituellen Kontext von Liturgie.

Der Predigtvorgang hat Ereignisqualität(événementalité): Es ereignet sich etwas von Gott her unter Menschen. R. präzisiert theologisch durch den Begriff der "sacramentalité". Landläufig wendet sich die Predigt an den Intellekt, während die Sakramente vor allem den Affekt ansprechen; die Materialität der sakramentalen Zeichen wird unterschieden vom intelligiblen Wort. Demgegenüber benennt R. als materia einer sakramental verstandenen Predigt die menschliche Stimme. So bekommt die Metapher von der viva vox Evangelii Anhalt an elementaren Gegebenheiten menschlicher Kommunikation. Der Lernweg homiletischer Kunst beginnt, wie die Kunst des Gesangs, beim Zauber und bei den Schwächen der vox humana.

Wie zum Textbuch eines Theaterstücks oder zur Partitur eines Musikstückes die Aufführung, so gehört auch zum Bibeltext die "performance" (englischer Begriff im Französischen), in diesem Fall die Performance als gottesdienstliche Predigt. Niemand kann ein Textbuch oder eine Partitur ohne diverse Performances wirklich verstehen. Entsprechend sind auch die biblischen Texte ohne ihre mündliche Kommunikation etwa in der Predigt nicht das, was sie sein wollen: lebendiges Wort (101). Homiletische Schriftauslegung (exégèse homilétique) geschieht deshalb nicht, wie in der Tradition, vom Text zur Predigt, sondern von der Predigt zum Text. Das Projekt einer "Aufführung" bestimmt von Anfang an die Lektüre des Textes, wie auch ein Pianist keine Noten lesen kann, ohne bereits ihre Klanggestalt zu imaginieren. Auch die homiletische Schriftauslegung wird genuin ästhetisch, als Kunst entwickelt.

Die Konzeption der Predigt als "oraliture" führt R. zu einer fundamentalen Kritik an der Weise, wie an Europas Fakultäten Theologie betrieben wird. Die Theologie sei zu einer Disziplin der Schreiber und Textkundigen geworden. In diesem Kontext sei auch der Glaube in der Gefahr, sich auf eine "Religion der Brillenträger" zu verengen (131). Das sei besonders widersinnig in einer Zeit, in der das Gutenberg-Zeitalter mit seinem Primat des Gedruckten zum Ende komme (133). Ein neues mündliches Zeitalter, geprägt durch eine Art bildhafter Mündlichkeit (vidéo-oraliture, 135), sei längst angebrochen. Dem habe die Theologie, trotz einer gegenläufigen akademischen Tradition, Rechnung zu tragen. Die Homiletik erinnert die Theologie daran, dass sie nicht einfach Theologie des Wortes, sondern Theologie des gesprochenen und kommunizierten Wortes (132) zu sein hätte.

R. konfrontiert uns mit einer neuartigen, entschlossen ästhetisch konzipierten Homiletik. Sie könnte den homiletischen Diskurs in Europa weiterführen. Insbesondere könnte sie Impuls sein für etwas, das Europa bisher unter gewichtigen theologischen Formeln erfolgreich verdrängt hat: eine wirkliche Aus- und Fortbildung im Predigen.