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Ausgabe:

Januar/2000

Spalte:

115–117

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Pompey, Heinrich, u. Paul-Stefan Roß [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Kirche für andere. Handbuch für eine diakonische Praxis.

Verlag:

Mainz: Grünewald 1998. 365 S. m. 6 Abb. 8. Kart. DM 48,-. ISBN 3-7867-2098-3.

Rezensent:

Arnd Götzelmann

Der Buchmarkt diakonischer und diakoniewissenschaftlicher Provenienz hat in den letzten Jahren evangelischer- wie katholischerseits eine rasante Expansion erfahren. Neben einer Fülle von wissenschaftlichen Einzelstudien steht eine Masse popularwissenschaftlicher und institutionsinterner Caritas- bzw. Diakonie-Literatur. Leider finden sich kaum einführende Kompendien, die wissenschaftliche Fundierung und Praxisorientierung verbinden und geeignet sind, den komplexen multidisziplinären Denk- und Systemzusammenhängen christlichen sozialen Engagements angemessen zu begegnen.

Nun liegt aus dem katholischen Kontext des Instituts für Caritaswissenschaft und Christliche Sozialarbeit an der Universität Freiburg i. Br. ein Band vor, der es vermag, den Leser/ die Leserin auf profunde Weise in die theologischen und sozialwissenschaftlichen Grundlagen der Diakonie einzuführen. Das mit dem berühmten Bonhoeffer-Wort "Kirche für andere" überschriebene Buch ist - wie im Untertitel angedeutet - ein "Handbuch für eine diakonische Praxis". Und die Qualitäten eines Handbuchs hat es durchweg, auch wenn man Register zu Bibelstellen und zentralen Begriffen vermisst. Zu einem nützlichen Kompendium wird es durch eine klare Gliederung und konzise Argumentation, durch die Führung der Leser und Leserinnen mittels Vorbemerkungen bzw. Zusammenfassungen an den Scharnierstellen und durch die Herausstellung der Themen und Ankerbegriffe auf dem Seitenrand neben dem Haupttext. Die Aufmachung entspricht modernen didaktischen bzw. lernpsychologischen Erkenntnissen.

Gleich zu Beginn machen die Vff. deutlich, dass es sich beim Themengebiet der "Diakonie" - dieser Terminus wird als Oberbegriff für jegliche soziale Praxis im Kontext christlicher Verantwortung verwendet und schließt den auf katholischer Seite traditionell verwendeten Begriff Caritas mit ein - um einen komplexes Phänomen handelt und gerade hier gelte: "Die Auffassung darüber, was Diakonie ist, hängt offenbar vom eigenen Standort, dem damit verbundenen Blickwinkel und von der eignenen Interessenrichtung ab." (9)

So beschreiben denn die Vff. ihre persönlichen Perspektiven, die zwei Kontexten entspringen: "der Arbeit mit auf freiwilliger Basis tätigen Projekten Sozialer Pastoral sowie der psychologischen und theologischen Begleitung professioneller diakonischer Dienste" (10). Standort sei u. a. die "Schnittstelle zwischen (ehrenamtlicher und professioneller, freier und verbandlich organisierter) diakonischer Praxis und praxisbezogener Theoriebildung" (10).

Sie pflegen damit ein Stück kritischer Theorie wissenschaftlicher Praxisreflexion. Methodologisch beschreitet der Band im Grunde befreiungstheologische Wege auf der Basis der Systematik Sehen-Urteilen-Handeln. Das Handbuch will "kein Rezeptbuch sein und auch kein vollständiges Kompendium", es will "inhaltliche Impulse für eine Standortbestimmung von Diakonie im Kontext der gegenwärtigen Kirche und Gesellschaft geben" und "Personen, die sich diakonisch engagieren, zur Reflexion und damit zur Selbstdefinition und Fortschreibung ihrer eigenen diakonischen Praxis ermutigen" (13). Das Ziel des Bandes sei erreicht, wenn "die ,Glaubensreflexion’ des eigenen diakonischen Engagements durch die Leserinnen und Leser" (365) beginne.

Ihrem methodischen Prinzip gemäß setzen die Vff. nach der Einleitung mit der Beschreibung des Phänomens Diakonie aus ganz unterschiedlichen Alltagsperspektiven in Teil 1 (20-33) ein, die sie systematisieren und zu der Arbeitsdefinition zusammenführen: "Unter ,Diakonie’ wird eine Praxis des Helfens verstanden, die in Gesellschaft eingebunden ist, durch ihren Bezug zu den Kirchen einen spezifischen Handlungskontext hat, durch das Selbstverständnis ihrer Subjekte eine Deutung im Horizont des christlichen Glaubens erfährt und im Spannungsfeld unterschiedlicher Standpunkte dynamisch fortgeschrieben wird." (32)

Eine sozialwissenschaftliche Analyse des Phänomens Diakonie im Kontext gesellschaftlicher Wahrnehmung und der Bearbeitung "sozialer Probleme" findet sich im zweiten Teil (35-109). Hier wird der gesellschaftliche und individuelle Prozess der Konstruktion von "sozialen Problemen" ebenso schlüssig dargestellt wie die Wandlungen der allgemeinen und spezifisch kirchlichen Formen des Helfens.

Großes Gewicht liegt auf Darstellung und Diskussion des deutschen Systems sozialer Sicherung und der Krise des Sozialstaats. Unter der Überschrift "Kirchliches Helfen in Spannungsfeldern" wird die katholische Perspektive der Autoren, die freilich stets auf ökumenische Ausweitung bedacht ist, deutlich. Hier wird von "mehreren Gestalten des katholischen Christentums" (99) mit jeweils zugehörigen Diakoniekonzepten gesprochen, die sich christentumssoziologisch in drei Grundvarianten differenzieren lassen:

1. Die Stärkung der Kerne des Katholizismus durch gesellschaftliche Abgrenzung und katholisch-kirchliche Profilierung diakonischer Praxis in wenigen exemplarischen Modellen.

2. Der kirchliche Dialog mit gesellschaftlichen Gruppen und Entwicklungen, in dessen Kontext kirchlich-diakonisches Helfen professionalisiert und die Kirche vor einem Rückzug in ein gesellschaftliches Ghetto bewahrt wird.

3. Die Konstituierung der Kirche durch das soziale Engagement selbst, wodurch die Diakonie zum zentralen Ort kirchlichen Selbstvollzuges in dezentralen Strukturen von Selbsthilfe, Projekten und Aktionsbündnissen wird.

Den Kern des Handbuches macht die theologische Deutung im dritten Teil (110-207) aus. Unter dem Leitbegriff "Glaubensreflexion" werden die Ergebnisse der Phänomenologie und sozialwissenschaftlichen Analyse von Diakonie in den Dialog mit theologischen Denk- und Argumentationsmustern gebracht. "Glaubensreflexion" bedeutet hier zugleich "die Reflexion aus dem Glauben" und "die Reflexion des Glaubens" (114). In biblisch-theologischer Perspektive, die im Grunde nur subjektiv und gemeinschaftlich als "diakonisch-praktische Bibellektüre" (118) möglich sei, werden in fundierter exegetischer Manier die wesentlichen diakonischen Grundlinien der beiden Testamente herausgearbeitet, angefangen vom Exodusmotiv als sozialtheologischem Grunddatum Israels bis zur Reich-Gottes-Praxis Jesu und den Werken der leiblichen und geistigen Barmherzigkeit. Nach einem diakoniehistorischen Durchgang durch die Epochen der Kirchengeschichte folgt die systematisch-theologische Reflexion unter der Überschrift "Leid und Not als Provokation von Humanität und Glauben", wo Topoi der Anthropologie, der Harmatiologie, der Christologie und der Ekklesiologie auf die Diakonie bezogen werden. - Das Bonhoeffer-Zitat des Buchtitels wird an dieser Stelle weniger ausgeführt als die Texte des II. Vatikanischen Konzils.

Der eigentliche theologisch-interdisziplinäre Dialog kulminiert in vierzehn Thesen, in denen es um Diakonie im Spannungsfeld von Helfen und Glaube, von Möglichkeiten und Grenzen, von Selbst- und Fremdsorge, von Defiziten und Ressourcen, von Solidarität und Subsidiarität, von Individuum und Gesellschaft, von Diakonie und Kirche, von Diakonie und Gesellschaft, von existentieller Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit, der Orientierung an den "Schwachen" selbst, der Vielfalt von Subjekten in Einheit sowie der Realutopie einer veränderten Gesellschaft geht. In diesem Teil findet sich Zündstoff für eine politisch-theologische Debatte um die Diakonie im Schnittfeld von Kirche und Gesellschaft.

Die praktischen Konsequenzen im Blick auf die Konturen diakonischen Handelns in der heutigen Gesellschaft werden in einem ausführlichen vierten Teil (208-364) expliziert. Pluralität und Pluriformität, Vieldimensionalität, Solidarität, Subsidiarität und Spiritualität werden als Merkmale für eine kritische Neuausrichtung diakonischer Praxis im Kontext einer diakonischen Kirche zugrunde gelegt und auf sehr verschiedene Handlungsfelder bzw. Praxisbeispiele bezogen. Dabei entsteht - das konzedieren die Autoren - die Grundschwierigkeit des Handbuches noch einmal in verstärkter Weise: "Es muß allgemein über einen Gegenstand handeln, der eigentlich konkret zu besprechen wäre: die gelebte diakonische Praxis." (212) Dennoch sind hier viele konkrete Handlungsoptionen und Anregungen für die Praxis kirchlich-diakonischen Handelns gegeben, die das Buch auf ihre Art lesenswert machen. - So kann dieser leserfreundlich gestaltete Band sowohl durch seine systematische Anlage, seinen theologischen Tiefgang und seine ökumenische Weite überzeugen, als auch durch seine grundlegende Relevanz für die diakonische Praxis in Kirche und Gesellschaft.