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Ausgabe:

Januar/2000

Spalte:

113–115

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Oesselmann, Dirk

Titel/Untertitel:

Spiritualität und soziale Veränderung. Die Bedeutung einer Liturgie des Lebens in der Arbeit mit Randgruppen.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 1999. 300 S. gr.8. Kart. DM 48,-. ISBN 3-579-02630-5.

Rezensent:

Sabine Bobert-Stützel

Das vorliegende Buch entstand als Promotionsschrift und basiert auf der achtjährigen Tätigkeit des Vf.s als pastoraler Leiter in einem Straßenkinderprojekt an der Peripherie von São Paulo/ Brasilien. Oesselmann verfolgt in seiner Untersuchung das Ziel, die Rolle der liturgischen Dimension für Veränderungsprozesse sozial ausgeschlossener Menschen zu untersuchen.

Das Buch gliedert sich in fünf Hauptteile, eine Einleitung und ein Schlusswort. Der erste Hauptteil beschreibt das Straßenkinderprojekt der Reconciliação do Menor (übersetzt: "Wiedereingliederung der Kleinsten"), wobei zahlreiche offizielle Dokumente wie die Geschäftsordnung herangezogen werden (20-39). Der folgende Teil klärt grundlegende Konzepte ab (wie "Randgruppe", "soziale Aktion", "Liturgie") (40-96). Der kurze dritte Hauptteil formuliert Thesen zum Zusammenhang zwischen Liturgie und Diakonie (97-111).

Die Untersuchungsergebnisse werden in liturgie- und diakoniewissenschaftlichem Rahmen im vierten Hauptteil, der den Schwerpunkt bildet, vorgestellt (112-240). Der letzte Teil reflektiert Diakonie als "Veränderungslernen und -handeln" (241-264).

Methodisch bezieht sich der Vf. neben deutscher liturgie- und diakoniewissenschaftlicher Literatur auf lateinamerikanische Sozialwissenschaftler (wie Paulo Freire, Otto Maduro, Carlos Rodrigues Brandão, Roberto DaMatta) und verortet sich für die Anlage der qualitativen Fallanalyse in der Aktionsforschung.

Der Fallanalyse zum Straßenkinderprojekt liegen halboffene Interviews des Vf.s unter seinen ehemaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zugrunde (mit Schwerpunkten auf der Persönlichkeitsentwicklung und der Bedeutung gottesdienstlicher Feiern). Sie werden ergänzt durch einen standardisierten Fragebogen (für Eckdaten zum sozialen Kontext), einen begriffsassoziativen Fragebogen (mit dem die Interviewten nicht umgehen konnten, vgl. 141), eine Gruppendiskussion unter den Interviewten sowie Dokumente Außenstehender zum Straßenkinderprojekt (vgl. Anhang).

Im vom Vf. entwickelten diakonie- und liturgiewissenschaftlichen Rahmen werden Formen der Institutionalisierung, Professionalisierung und Spezialisierung apodiktisch als widerbiblisch und lebensfeindlich entwertet (vgl. 68 ff.84 ff.). Antithetisch wird eine biblische und dem lebendigen Gott entsprechende Liturgie und Diakonie mit Spontaneität, hierarchiefreier Interaktion und Ganzheitlichkeit gleichgesetzt. Das eigene Liturgieverständnis verortet der Vf. im deutschen Kontext im Ringen um "lebendige" Liturgie (erwachsen aus der Liturgischen Nacht auf dem Kirchentag 1973, fortlebend in Beatmessen und Feierabendmahl). Ferner bezieht er sich auf Konzepte von Gottesdienst als "Beziehungsgeschehen" (K.-H. Bieritz), "Lernprozess" und "freien Spielraum" (E. Lange). - Die Diastase wird, sowohl für das Diakonie- als auch für das Liturgieverständnis, vom Vf. als Interpretationsrahmen vorausgesetzt und nicht näher reflektiert. - Die Interviews unter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Straßenprojekt ergeben bezüglich der befragten Personen schwerpunktmäßig Aussagen zu einem starken persönlichen Veränderungsprozess im Rahmen der Projektarbeit, sprechen vom Entdecken des eigenen Selbst im Zusammenhang mit einer Mission, von einem zurückgelegten Weg, von Lust und Sich-wohl-Fühlen in der Teilhabe an einem größerem Projekt (vgl. 137 f.). Im zweiten Interviewteil über die gottesdienstlichen Feiern wird die Lebendigkeit der Feiern betont, das Gefühl des Verbundenseins, der Glaube an Veränderung, die Gleichheit aller, indirekte Konfliktbearbeitung, Reflexion im Lichte des Wortes Gottes sowie Feiern als authentischer Ausdruck von Gefühlen (139 f.). Eine herausgehobene Stellung haben dabei die Hausgottesdienste inne.

Wertend sei festgehalten, dass der Vf. mit einer qualitativ sozialwissenschaftlich angelegten Falluntersuchung einen wichtigen Beitrag zu einer konkreten Verknüpfung liturgie- und diakoniewissenschaftlicher Fragestellungen leistet. Dies wird verbunden mit einer Fortführung emanzipatorisch-theologischer Ansätze im evangelisch-theologischen Rahmen. Dies gilt nicht nur im Hinblick auf die Theologie der Befreiung. Erstaunlich konkret (gegenüber feministischen Kampfvokabeln) sind auch die vom Vf. dokumentierten Veränderungsprozesse von Frauen, auf deren Einsatz letztlich das Straßenprojekt zurückgeht (vgl. 42.45 ff.193 f.). - Kritische Rückfragen möchte ich auf zwei Punkte konzentrieren:

(1) Wie bereits oben deutlich wurde, betrachte ich die klischeehafte Repetition von Antithesen (institutionalisierte vs. alltägliche Diakonie bzw. Liturgie) als wissenschaftlich wenig erhellend und auch in der Praxis kaum wegweisend. Die Verdammung von Weiterentwicklungen in Prozessen löst damit verbundene Probleme nicht. Die praktisch-theologische Diskussion ist z. B. mit E. Hauschildts Untersuchung zu alltäglicher Seelsorge über das Festschreiben der Diastase hinausgegangen, indem Hauschildt die situative (!) Notwendigkeit von institutionalisierten und alltäglichen Formen (von Seelsorge) postuliert. Damit wird zugleich eine ,ganzheitlichere’ Perspektive auf menschliche Bedürfnisse eingenommen.

(2) Meine zweite Anfrage entspringt meinem Verständnis von qualitativer Sozialforschung und Thesengenerierung: Demzufolge steht am Anfang ein (möglichst konkret umrissener) Untersuchungsbereich und das Bemühen, durch Codierungen eine möglichst gegenstandsverankerte Theorie über ein Phänomen zu entwickeln. Am Anfang steht nicht eine Theorie, die anschließend bewiesen werden soll.

Diesem Verständnis gegenüber entwirft der Vf. zunächst seinen (oben beschriebenen) liturgie- und diakoniewissenschaftlichen theoretischen Bezugsrahmen (einschließlich einer später nicht mehr hinterfragten Thesenreihe) und tritt von vornherein mit der These der Bedeutsamkeit der Liturgie an. "Diese Hypothese rechtfertigt sich ... durch die vorhergehenden [!] theoretischen Annäherungen" und durch die Praxisperspektive des Autors (112). Mit diesem zirkulär anmutenden Vorgehen stellt sich mir die Frage, welchen theoriegenerierenden Status noch das als zentral behauptete Fallbeispiel hat, oder ob es zum Steinbruch für vorgefasste Hypothesen wird. In den Interpretationen verschwimmen dann auch die Deskription des Materials und die theologische Meinung des Vf.s ineinander und ordnen sich eher widerstandslos und mit hohen Differenzierungsverlusten den bereits bekannten Hauptthesen (Institution vs. Leben ...) zu.

Demgegenüber wäre es z. B. spannender gewesen zu erfahren, wie die Mitarbeiterinnen den Konflikt zwischen ,alltäglicher Spontaneität’ (sofern diese nicht auch ein Postulat ist) und Institutionalisierung in sozialer Aktion und liturgischer Feier bearbeiten, welche diversen Lösungsstrategien sie diskutieren. An dieser Stelle hätte der vorurteilsfreiere Umgang mit dem Material, das offenkundig hierzu vorlag (vgl. 30 f.), vielleicht fruchtlose theoretische Diastasen überbrücken und zu innovativeren Ergebnissen führen können.