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Ausgabe:

Dezember/2018

Spalte:

1343–1345

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Schmidt, Heiko

Titel/Untertitel:

Glaubenstoleranz und Schisma im Russländischen Imperium. Die staatliche Politik gegenüber den Altgläubigen in Livland, 1850–1906.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015. 354 S. = Religiöse Kulturen im Europa der Neuzeit, 7. Geb. EUR 85,00. ISBN 978-3-525-31030-4.

Rezensent:

Jennifer Wasmuth

Zu den drängendsten Fragen der hierzulande aktuell geführten gesellschaftlichen Debatten gehört die Frage der Integration. Wie adäquat mit Minderheiten umzugehen ist, die sich in sozialer, kultureller, religiöser etc. Hinsicht von der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden, bestimmt die politische Agenda. In dem oft weit auseinandergehenden Meinungsspektrum spiegeln sich grundsätzliche Differenzen. Dementsprechend weichen dann auch die Vorschläge voneinander ab, welche Maßnahmen auf legislativer Ebene zu ergreifen sind, um einem plural verfassten Ge­meinwesen ein möglichst konfliktfreies Dasein zu ermöglichen.
Es ist diese Frage, die Heiko Schmidt in ihren unterschiedlichen Dimensionen beleuchtet. Allerdings geschieht das in einem historischen Kontext, in dem man zunächst vielleicht nicht erwarten würde, dass diese Frage von Bedeutung war: im Russischen Reich des 19./20. Jh.s. Als konkreten Gegenstand für seine Untersuchung hat sich der Vf. hier die staatliche Religionspolitik gegenüber den Altgläubigen im Ostseegouvernement Livland ausgewählt. Diese thematische Fokussierung scheint aus mehreren Gründen sinnvoll: Die unter dem Oberbegriff der »Altgläubigen« zusammengefassten heterogenen Gruppierungen der Popovcy, Pomorcy, Fedoseevcy etc., die infolge des Schismas entstanden sind, das sich aus dem Widerstand der »Eiferer der Frömmigkeit« (Nikolaj F. Kapterev) gegen die Reformverordnungen des Patriarchen von Moskau Nikon (1652–1658) ergeben hatte, haben in der westlichen Forschung bisher kaum die Aufmerksamkeit gefunden, die ihnen aufgrund ihrer Bedeutung für die russische Geschichte eigentlich zukommen müsste. In den letzten Jahrzehnten sind zwar einige vorzügliche Darstellungen erschienen, darunter Peter Hauptmanns »Rußlands Altgläubige« (2005) und Eva Maeders »Altgläubige zwischen Aufbruch und Apokalypse« (2011), insgesamt ist die Zahl der Arbeiten jedoch überschaubar geblieben.
In der russischsprachigen Forschung haben die Altgläubigen demgegenüber durchgängig das Interesse auf sich gezogen, als wichtige Arbeiten wären hier etwa Ol’ga P. Eršovas »Staroobrjad­čestvo i vlast‘« (1999) zur staatlichen Politik gegenüber den Altgläubigen allgemein oder Tat’jana Šors Untersuchungen speziell zu Livland zu nennen, das als Stammland der Altgläubigen gelten kann. Diese Arbeiten zeichnen sich durch einen großen Materialreichtum aus; auch bieten sie plausible Epochenuntergliederungen und weisen bemerkenswerte Widersprüchlichkeiten in der staatlichen Gesetzgebung nach. Problematisch jedoch erweist sich, dass sie am Ende keinen Ansatz dafür liefern, wie sich die aufgewiesenen Widersprüchlichkeiten erklären ließen. Genau hier setzt der Vf. mit seiner Studie an.
Im Einleitungskapitel der insgesamt sieben Kapitel umfassenden Untersuchung entwickelt der Vf. zunächst seine Fragestellung im Kontext bisheriger Forschungen: zu den Altgläubigen, zur Russischen Orthodoxen Kirche und ihrer seit Pëtr I. (1672–1725) zunehmenden staatskirchlichen Funktionalisierung sowie zu den politischen Strategien im Umgang mit der oft nicht wahrgenommenen, tatsächlich jedoch immensen ethnischen und religiösen Pluralität des russischen Imperiums. Nach einem bündigen Überblick über die Geschichte der Altgläubigen im Russischen Reich und hier insbesondere in den drei deutschbaltisch geprägten Ostseegouvernements (Kapitel 2) untersucht der Vf. sodann auf der Grundlage auch zahlreicher bislang unveröffentlichter Quellen die staatliche Religionspolitik seit Mitte des 19. Jh.s und vermag hier den steten Wandel aufzuzeigen: von den repressiven Maßnahmen unter Nikolaj I. (1825–1855), die auf die Zerstörung der gemeindlichen Strukturen und die Konversion der Altgläubigen zur Russischen Orthodoxen Kirche zielten (Kapitel 3), über den allmählich vollzogenen, keineswegs generellen Kurswechsel unter Aleksandr II. (1855–1881), wie er paradigmatisch in den Gesetzen der Jahre 1874 und 1883 zur Legalisierung der Ehen und Bethäuser von Altgläubigen zum Ausdruck kam (Kapitel 4 und 5), bis hin zur staatlichen Anerkennung der Altgläubigen, wie sie in dem Erlass vom 17. Oktober 1906 festgehalten wurde. Erst jetzt gewannen die Altgläubigen den Rechtsstatus, den andere nicht-orthodoxe Glaubensgemeinschaften, wie beispielsweise die 1832 gegründete Evangelisch-Lutherische Kirche, längst innehatten (Kapitel 6).
Seinem methodischen Ansatz folgend, beschränkt sich der Vf. in seiner vielschichtigen Analyse nicht auf die politischen Überlegungen, die konkreten Gesetzesvorhaben vorausgingen, sowie auf die rechtlichen Bestimmungen, die sich in Verordnungen und Gesetzestexten niedergeschlagen haben. Vielmehr gilt sein Interesse immer auch der Rechtspraxis und damit den lokalen Konsequenzen der jeweils veränderten Gesetzeslage. Die Darstellung gewinnt dadurch erheblich an Anschaulichkeit und kann zugleich die Paradoxie mancher Maßnahmen aufzeigen. So führte etwa unter Nikolaj I. erst die restriktive Gesetzgebung zu Zuständen, die durch sie vermieden werden sollten: Ehen wurden aufgelöst, Kinder wurden zu Waisen; ein Großteil der Jugend der Altgläubigen verwahrloste und wurde kriminell.
Auch nimmt der Vf. jeweils bewusst die verschiedenen gesellschaftlichen Akteure und behördlichen Instanzen in den Blick, die in die Entscheidungsprozesse eingebunden waren oder diese mindestens – wie etwa der Schriftsteller Nikolaj S. Leskov (1831–1895) durch seinen Bericht über die Altgläubigen in Riga – beeinflusst haben. Dadurch kann der Vf. seine im Schlusskapitel noch einmal zusammenfassend dargestellte Hauptthese eindrücklich belegen, dass die Widersprüchlichkeiten der staatlichen Politik gegenüber den Altgläubigen wesentlich in der doppelten Zielstellung begründet lagen, das eigene Interesse an staatlicher Kontrolle und Machtausübung mit dem Interesse der Russischen Orthodoxen Kirche an der Bekämpfung der »Raskol’niki« (Schismatiker), wie die Altgläubigen in offiziellen Dokumenten des 19. Jh.s nur genannt werden durften, zu vermitteln. Erst nach den letztlich erfolglos gebliebenen Versuchen der Diskriminierung und Disziplinierung sollte das Interesse der Russischen Orthodoxen Kirche zurückgestellt und den Altgläubigen staatliche Anerkennung gewährt werden. Allerdings erfolgte dies nicht aus Einsicht in das Prinzip der Gewissensfreiheit, sondern, wie der Vf. plausibel darlegt, in Fortschreibung einer aufgeklärt-absolutistischen Toleranzpolitik, die angesichts landesweiter Proteste und Streiks die politische Loyalität der Altgläubigen sichern helfen sollte.
Insgesamt hat der Vf. damit eine sehr lesenswerte Studie vorgelegt, die in minutiöser Darstellung der staatlichen Politik gegenüber den Altgläubigen in Livland Aufschluss über verfehlte Strategien der Herrschaftssicherung in einem Reich gibt, was mit der Februarrevolution 1917 sein Ende finden sollte.
Der Vf. ist Osteuropahistoriker. Der Studie liegt seine Dissertation zugrunde, mit der er im Jahre 2015 an der Ludwig-Maximi-lians-Universität in München promoviert worden ist.