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Ausgabe:

Januar/2000

Spalte:

109–112

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Marcus, Hans-Jürgen

Titel/Untertitel:

Aspekte einer Praxistheorie kirchlicher Gemeindeberatung. Qualitative Untersuchung zu bestehenden Konzeptionen und Entwicklungspotentialen.

Verlag:

München: Don Bosco 1998. 228 S. gr.8. Kart. DM 44,-. ISBN 3-7698-1076-7.

Rezensent:

Herbert Lindner

Kirchen suchen Beratung. Dieser Wunsch ist Zeichen einer Umbruchszeit. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass um 1970 etwa zeitgleich mit der Kirchenreformbewegung "Gemeindeberatung" entstand. Entstehung, Ausformung und Entwicklung dieses Ansatzes ist ein wesentlicher Teil der Geschichte der deutschen Kirchen der Nachkriegszeit. Es ist deshalb ein verdienstvolles Unternehmen, diese wichtige Phase zu dokumentieren und auszuwerten. Basis der Untersuchung des Vf.s sind 13 mündliche Interviews (aus 11 Institutionen) im Herbst 1993 mit Schlüsselpersonen der Gemeindeberatung in den Landeskirchen und Diözesen Deutschlands.

Die Arbeit hat drei, ungleich umfangreiche Teile: I. Grundlegende Theorieansätze, II. Ergebnisse der empirischen Untersuchung und III. (recht knappe) Schlussüberlegungen zu den Entwicklungspotentialen von Gemeindeberatung.

Das grundlegende Problem der Arbeit wird bereits auf der ersten Seite des Methodik-Kapitels (Kap. 2; vgl. 13) deutlich. Verschiedene historisch gewachsene Ansätze stehen nebeneinander. Gemeindeberatung nimmt zu. An der Schnittstelle von Theologie und Humanwissenschaften entstehen in rascher Folge neue Impulse. Der Vf. will aber eine Praxistheorie kirchlicher Gemeindeberatung entwerfen.

Eine weitere Grenze wird genannt und vom Vf. auch bejaht: der Fokus liegt nur auf der Sicht der "Leistungsanbieter" (15), nicht der "Abnehmer", die da Kirchengemeinden, deren Mitglieder oder auch Kirchenleitungen wären. Auch hier lässt sich mit Recht die Frage stellen, ob so der Anspruch einer Praxistheorie wirklich einlösbar ist, zumal die Rolle der Kirchenleitungen des öfteren kritisch angesprochen wird (z. B. 113 u. ö.)

Zentrales Instrument ist der Leitfaden, mit dem die Interviews, die Basis der Arbeit, durchgeführt wurden. Er wird im Anhang dokumentiert. Auffällig ist, wonach nicht gefragt wurde. Es fehlen Fragen wie die nach der zugrundeliegenden Beratungs-Theorie und nach dem Handwerkszeug wie z. B. den Interventionstechniken. Solche Lücken sind methodisch nicht in jedem Fall vermeidbar. Aber vielleicht hätte eine Nacherhebung diese Fragen weiter klären können.

Im 3. Kapitel werden verschiedene Ansätze von Gemeindeberatung referiert. Auch wenn die Entstehungsgeschichte jeweils unterschiedlich ist: Allen ist der kirchenreformerische Impuls gemeinsam, alle wenden humanwissenschaftliche Methoden auf die Kirchenentwicklung an und alle versuchen Gemeindeberatung als innerkirchliche Dienstleistung festzuhalten.

Im 4. Kapitel wird die christliche Gemeinde im gesellschaftlichen Wandel vorgestellt. Mit Rückgriff auf die weithin bekannten Ansätze von Beck und Schulze wird die Kirchengemeinde in die Risiko- bzw. in die Erlebnisgesellschaft gestellt. In die Spannung zwischen volkskirchlicher Pluralität und gruppenkirchlichem Engagement gerät auch der Vf., ohne sich so recht für eine der Optionen zu entscheiden oder eine neue Sicht der Dinge vorzutragen.

Ähnlich referierend geht das 5. Kapitel vor, in dem einige Aspekte der neueren pastoraltheologischen Gemeindediskussion vorgestellt werden.

Zentrale Bedeutung hat das 6. Kapitel, in dem die Geschichte und Methodik der Organisationsentwicklung vorgestellt werden. Die "Organisationsentwicklung" hat als sozialwissenschaftliche Methode die Gemeindeberatung entscheidend beeinflusst. Entstanden ist sie als Problemlösungstechnik in komplexen Organisationen. Die externe Moderation stellt ihr Methodenwissen zur Steuerung des Prozesses und zum Einbezug empirischer Methoden zur Verfügung. So werden die Fähigkeiten zur Problemlösung aktiviert, die bei den Mitarbeitenden im System vorhanden sind. Sie geht von der Annahme aus, dass gleichzeitig eine Erhöhung der Arbeitszufriedenheit und eine Verbesserung der Arbeitsleistung möglich sind.

Auf die Kirchen in der modernen Gesellschaft kann der Organisationsbegriff angewendet werden, zumal in seiner "modernen" systemischen Ausprägung, die weniger die rational technischen Aspekte als vielmehr die prozessualen Gleichgewichts- und Austauschprozesse im Blick hat. Der Vf. notiert zu Recht, dass durch diese neue Sicht der Organisation der Entwicklungsaspekt zu einem wesentlichen Element der Führungsarbeit in solchen Organisationen wird (76). Dementsprechend brauchen Führungskräfte Eigenschaften, wie sie üblicherweise von Beratern erwartet werden. Der Vf. gibt zu bedenken, dass dies zu wenig reflektiert sei. Er selbst sieht allerdings nur den Aspekt der Rivalität zwischen Führungskraft und Beratern und vermag den in diesem Ansatz liegenden Impuls für die Theorie von Beratung als Teil eines kybernetischen Kontinuums zwischen interner Funktion und externer Dienstleistung nicht fruchtbar zu machen.

Gemeinde als eine "lernende Organisation" in systemischen Zusammenhängen zu sehen, führt unweigerlich darauf, dass Identitätsbildung und damit auch die theologische Reflexion als Teil von Gemeindeberatung wichtig werden (101 ff.) So dürfte als Ergebnis der manchmal quälenden Debatte um die Rolle der Theologie in der Gemeindeberatung festzuhalten sein, dass der theologische Aspekt ein unverzichtbarer Teil der Beratung des Systems von Gemeinde ist. Umgekehrt muss natürlich gefragt werden, in welchen Beratungssettings solche theologischen Prozesse am besten gesteuert werden können. Unbestritten bleibt (102), dass Gemeindeberatung auch theologische Kompetenz benötigt.

Im zweiten Teil referiert der Vf. die Ergebnisse der empirischen Untersuchung. Er zeigt die Gründungsintentionen und Entstehungsbedingungen, nennt Beratungsanlässe und wichtige Inhalte von Gemeindeberatungsprozessen, reflektiert die zugrundeliegenden Gemeindebilder, schildert die Organisationsformen von Gemeindeberatung in Deutschland und stellt Kompetenz und Ausbildung von Gemeindeberaterinnen dar. Dadurch wird das Feld der Gemeindeberatung in Deutschland Anfang der 90er Jahre aus der Innensicht kenntnisreich und gründlich beschrieben und dadurch eine Orientierung über den Iststand ermöglicht. Noch einmal werden die Pluralität der Ansätze und ihre zeitgeschichtliche Bedingtheit dargestellt, gleichzeitig aber auch die Schwierigkeit erkennbar, diese Ansätze zu einer Theorie von Gemeindeberatung zu verbinden.

Hier werden die methodischen Probleme der Arbeit noch einmal deutlich. Wird die Zerlegung der Interviews unter thematischen Gesichtspunkten der Angelegenheit wirklich gerecht? Es ist eine wichtige Erkenntnis dieser Untersuchung, dass es vielfache Wurzeln für die Entstehung von Gemeindeberatung gibt (Hessen-Nassau mit den methodischen Impulsen aus den USA, Hannover mit dem pastoral-soziologischen Ansatz, Bayern mit dem Wurzelboden der langfristigen Begleitung von Gemeinden am geprägten "dritten Ort" und die geistliche Gemeindebegleitung im katholischen Raum). Es wäre wohl fruchtbar gewesen, sich mehr an diesen Profilen zu orientieren, sie in den jeweiligen Kontext der Kirchen zu stellen und auf diese Weise deutlich zu machen, dass mit einer Grundidee in verschiedenen Situationen verschiedene und vielleicht gerade wegen ihrer Verschiedenheit in sich stimmige Formen von Gemeindeberatung entstanden sind.

In diesem historischen Teil wird auch die Frage nach der Beeinträchtigung oder Funktionalisierung von Gemeindeberatung durch die Unterstützung der Kirchenleitung diskutiert. Aber was eher ausschließlich beschrieben wird, ist doch wohl eine Frage der Zweckmäßigkeit. Die Gegenüberstellung einer tendenziell "guten", d. h. distanzierten und möglichst externen Prozessberatung und einer eher "schlechten", weil die Subjekthaftigkeit gefährdenden internen Beratung kann so nicht aufrechterhalten werden. Jede Beratungsform hat Stärken und Schwächen. Es kommt auf eine klare Deklaration der Interessen und den darauf fußenden Kontrakt an.

Die Entwicklungen einer wichtigen Epoche, die bisher nur den Teilnehmenden bekannt waren, sind durch diese Arbeit gesichert und geordnet. Damit hat sie eine grundlegende Bedeutung für ein spannendes Feld der Kirchenpraxis und praktischen Theologie. Gemeindeberatung als kircheninterne Leitungsunterstützung ist nötiger denn je.