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Ausgabe:

Dezember/2018

Spalte:

1337–1339

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Pfister, Stefanie

Titel/Untertitel:

Religion an Realschulen. Eine historisch-religionspädagogische Studie zum mittleren Schulwesen.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2015. 291 S. = Arbeiten zur Praktischen Theologie, 58. Geb. EUR 48,00. ISBN 978-3-374-04050-6.

Rezensent:

Frank M. Lütze

Das dreigliedrige Schulsystem versteht sich nicht mehr von selbst: Inklusionsdebatte sowie die inzwischen fast flächendeckende Vereinigung von Haupt- und Realschulen unter einem Dach werfen gegenwärtig vielfach Rückfragen an die Begründbarkeit unterschiedlicher Schulformen auf. Vor diesem Hintergrund kann es interessant sein, wenn eine Monographie in einer Art historischer Spurensicherung daran erinnert, dass Name und Anliegen der Realschule (auch) religiöse Wurzeln hat, die in die theologische Hochschätzung von Realien in der Barockzeit zurückreichen. Pfis-ters Habilitationsschrift zielt darauf, den Zusammenhang von Realien und (dem Unterrichtsfach) Religion in pädagogischen Konzeptionen insbesondere des mittleren Schulwesens von der Reformationszeit bis zur Nachkriegsära nachzuzeichnen. Dabei bildet August Hermann Franckes Pädagogik, deren Realienbezug (auch) theologisch motiviert ist, das von einer »Vorgeschichte« und einer »Nachgeschichte« gerahmte Zentrum der historischen Darstellung (60–229). Eröffnet wird die Arbeit mit einer Grundlegung, die einen forschungsgeschichtlichen Überblick zum Zusammenhang von Realien und Religion(sun-terricht), eine Definition der leitenden Begriffe, forschungsleitende Hypothesen sowie Überlegungen zur Historiographie enthält (13–59); am Ende steht ein Fazit, das die dargestellte Entwicklung zusammenfasst (230–244). Ein umfangreiches Literaturverzeichnis sowie ein Personen- und Sachregister schließen sich an.
Dass es berechtigt ist, nach genuin theologischen bzw. religionspädagogischen Beiträgen zur Fundierung eines schulischen Realienbezugs zu fragen, wird im Lauf der Lektüre schnell deutlich: Insbesondere in der Barockzeit werden theologische Argumente für einen unterrichtlichen Bezug auf Realien und das reale Leben geltend gemacht, die bald als Zeugnisse für die Allmacht Gottes gelten, bald als Kontext, den ein tüchtiger Christ aktiv zu gestalten hat. Beeindruckend ist dabei die Menge an verarbeiteten Quellen und historischen Informationen; die Anmerkungen quellen bisweilen förmlich über mit zusätzlichen Hinweisen und (nicht immer sachlich notwendigen) Details. Wer Hinweise zu religiös motivierten realienkundlichen Überlegungen und Unterrichtswerken zwischen der Reformationszeit und dem 20. Jh. sucht, kann hier fündig werden.
Nun geht es freilich nicht um ein Quellenbuch, sondern um eine Rekonstruktion eines historischen Argumentationszusammenhangs – und der Rezensent muss gestehen, dass ihn das Buch in dieser eigentlichen Intention nicht überzeugen konnte. Das liegt in erster Linie daran, dass die Fragestellung und die damit verbundenen leitenden Begriffe eigentümlich diffus bleiben: Es gehe, so die häufig wiederholte Formulierung, um den »Zusammenhang von Realien & Religion« im Wandel der Zeit, wobei die Kapitälchen geklärte Begriffe suggerieren. Das ist aber für den einen wie für den anderen Begriff mitnichten der Fall: So meint Religion der nur 20 Zeilen umfassenden Definition nach »das konkrete Unterrichtsfach«, doch umfasse der Begriff zugleich auch »neben den didaktischen und methodischen Prinzipien die Unterrichtsstruktur und die entsprechenden Begründungen zum Einbezug von Realien« sowie »die religiöse Praxis im Schulalltag« – kurz: »Bisweilen kann Religion auch den schulischen Unterricht insgesamt bezeichnen.« (42 f.) Nicht weniger mäandriert der Begriff der Realien, für den anstelle einer stringenten Definition in enzyklopädischer Weite mögliche Bedeutungsnuancen erwogen werden (37–42) und der im Lauf der Arbeit eine diffuse, argumentativ nicht be­gründete Erweiterung erfährt.
So werden neben naturwissenschaftlichen Fächern und dem Deutschunterricht gelegentlich selbst »Französisch und Englisch« (180) zu den »Realien-Fächern« gezählt, und an den Mittelschulen in der NS-Zeit werden bald »die Realien-Fächer Deutsch, Ge­schichte sowie die weiteren Fächer biologische Lebenskunde, Rassenlehre und Leibeserziehung erteilt«, bald werden »Realien als Realien-Fächer wie Deutsch, Geschichte, biologische Lebenskunde, Rassenkunde und Leibeserziehung« vermittelt (196).
Schon aufgrund der unscharfen Begriffe fällt es nicht leicht, den Folgerungen zum »Zusammenhang von Realien & Religion« in einer Epoche zuzustimmen bzw. zu widersprechen. Hinzu kommt der eher entfaltende als argumentative Stil der historischen Darstellung, die sich mitunter als seitenlange, wenig konturierte Collage aus Quellen- und Sekundärliteraturzitaten präsentiert (vgl. exemplarisch 111–115); tragende Begriffe (etwa bei Francke: »christliche Klugheit«) bleiben dabei unerschlossen. Vor allem aber wird auf eine gründliche Rekonstruktion jener (barock-)theologischen Argumentationsmuster verzichtet, die es erlauben, die Natur als Quelle von Religion bzw. als Gotteszeugnis zu interpretieren; auch die zunehmende Emanzipation der Naturwissenschaften aus religiösen Begründungszusammenhängen sowie die im 19. Jh. aufkommende szientistische Alternativsetzung von Naturwissenschaft versus Glaube bleiben unerwähnt. Damit fehlen freilich die entscheidenden Kontexte, die die Verbindung von schulischer Realienkunde und religiöser Erbauung in der Barockzeit ebenso wie ihre spätere Trennung erst verständlich machen.
Dem grundlegenden Ergebnis der Studie kann man wohl zu­stimmen, dass der bei Francke noch klar greifbare »Zusammenhang von Realien & Religion« in der weiteren Entwicklung partiell innerhalb des Religionsunterrichts methodisch adaptiert, zugleich aber als Begründungsfigur für realienkundliche Fächer in der Schule obsolet wurde. Daraus jedoch zu folgern: »Mit dem Verlust des Zusammenhangs von Realien & Religion gehen die Identität und das eigenständige Profil der Realschulen verloren« (so die Hypothese [45], deren Geltung am Ende [243 f.] in abgeschwächter Form bestätigt wird), gibt der Entwicklung nicht nur einen Beigeschmack von Verfallsgeschichte, sondern überschätzt auch die Bedeutung religiöser bzw. theologischer Begründungsfiguren für eine spezifische Schulform.
Zum Ersten konnte und kann die Realschule – wie gerade die von der Vfn. nachgezeichnete jüngere Entwicklung zeigt – offenbar problemlos durch nichtreligiöse Motive, etwa begabungstheoretisch oder berufsfeldbezogen, legitimiert werden. Zum Zweiten sind alle jene theologischen Begründungen, die in der Barockzeit für einen an Realien ausgerichteten Unterricht ins Feld geführt wurden, gerade nicht schulformspezifisch – ein Umstand, der durch die m. W. historisch nirgends belegte Rede von Franckes »Realien-Schule« problematisch verschleiert wird. Und zum Dritten muss man selbst für Francke konstatieren, dass seine Unterscheidung zwischen Armenschule, Pädagogium und Latina in erster Linie ständisch begründet ist (110). Dass die Frage nach Realien in der Schule nicht grundlegend von der Frage nach der Realschule als Schulform unterschieden wird, ist aus meiner Sicht ein durchgehendes, signifikantes Problem der vorliegenden Studie. Inwieweit mit der inzwischen weitgehend durchgesetzten organisatorischen Verbindung von Haupt- und Realschulen künftig auch der Bedarf an Legitimationsfiguren für den in der Regel fortbestehenden Realschulbildungsgang schwindet, wird man sehen. Theologische oder religionspädagogische Motive lassen sich jedenfalls, selbst wenn man der pietistischen Hochschätzung der Realien etwas abgewinnen kann, kaum für die Beibehaltung der Schulform namhaft machen.