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Ausgabe:

Dezember/2018

Spalte:

1335–1337

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Lienau, Anna-Katharina

Titel/Untertitel:

Schulseelsorge. System struktureller Kopplung.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2017. 613 S. m. 10 Abb. u. 75 Tab. = Arbeiten zur Praktischen Theologie, 71. Geb. EUR 98,00. ISBN 978-3-374-05100-7.

Rezensent:

Hans-Martin Gutmann

Hier ist eine fleißige Qualifikationsschrift vorgelegt worden. Anna-Katharina Lienau hat die verfügbare Literatur zum Gegenstand verarbeitet und mit dem Begriff der »strukturellen Kopplung« (aus der Luhmannschen Systemtheorie) einen theoretischen Zugang eigenständig gewählt, der es ermöglichen soll, die Vielfalt an Einzelinformationen und wissenschaftlichen Statements zum Gegenstandsfeld in ihrem Zusammenhang zu präsentieren.
Von Anbeginn konzentriert L. ihre Untersuchung darauf, den römisch-katholischen Weg (»Schulpastoral«) und den evangelischen Weg (»ev. Schulseelsorge«) darzustellen und zu unterscheiden. Beide werden in ihrer geschichtlichen Entwicklung und ihrer inhaltlichen Spezifik konturiert vorgestellt. Wie wird Schulpastoral bzw. Schulseelsorge von der kirchlichen Institution, von der Schulkultur, vom Religionsunterricht oder von den Adressaten, also den Schülern und Schülerinnen, her begründet?
Nie geht es um klare Alternativen, sondern immer um eine jeweils spezifische Gemengelage. L. zeigt an der ausführlichen Rekonstruktion der Einzelpositionen in der historischen Entwicklung und der aktuellen Diskussionen auch, dass die Autoren und Autorinnen diese Dimensionen – Kirche, Schule, Religionsunterricht und Schülerperspektive – jeweils besonders gewichten. Dennoch macht sie deutlich, dass trotz individueller Unterschiede in den Einzelpositionen das Schwergewicht in der katholischen Schulpastoral eher darin liegt, Schulseelsorge als Teil und Ausdruck kirchlicher Arbeit zu verstehen. In der evangelischen Schulseelsorge dagegen liegt der Schwerpunkt stärker beim Religionsunterricht und vor allem bei den Adressaten, also bei den Schülern. Evangelische Schulseelsorge begreift sich auch als Handlungsfeld kirchlicher Seelsorge, hat aber als Ausgangpunkt und Schwerpunkt stärker die Bedürfnisse der Schüler und anderer in den Schulen tätiger Menschen im Blick.
Es ist beachtlich, mit welcher Akkuratesse L. zahllose einzelne Veröffentlichungen zum Gegenstandsbereich rekonstruiert. Auffällig ist dabei, dass sie in der historischen Rekonstruktion bis weit ins 19. Jh. zurückgeht, in eine Zeit also, in der von Schulseelsorge im heutigen Verständnis noch nicht gesprochen werden kann. Auffällig ist auch, dass L. in der aktuellen Diskussion in ihrer Rekonstruktion von Positionen nicht zwischen einflussreich und peripher unterscheidet; sie untersucht beispielsweise nicht, welche Stellungnahmen zu Schulseelsorge in der Ausbildung von Schulseelsorgern und in der praktischen Arbeit der Schulseelsorge rezipiert werden und welche nicht oder weniger.
Auffällig ist auch, dass L. die plurale religiöse Situation in Deutschland und insbesondere in den Schülerpopulationen auf das Gegenüber von römisch-katholisch und evangelisch konzentriert. Andere religiöse und auch nichtreligiöse Orientierungen kommen höchstens in einigen Abschnitten des Buches als Ergänzung zur Sprache. Dies mag dem besonderen Blick auf die Problemlage geschuldet sein, den viele theologische Fakultäten in Deutschland und so auch in Münster einnehmen, geht aber an der gesellschaftlichen Situation und der Wirklichkeit in den Schulen – und dadurch auch am Arbeitsgebiet der Schulseelsorge – vorbei, und zwar nicht nur in Metropolen wie Berlin, Hamburg und dem Ruhrgebiet oder in den östlichen Bundesländern. Schulseelsorge-Konzeptionen, die die religiöse plurale Lebenssituation im Lande im Zentrum fokussieren, werden zwar genannt, aber nicht besonders gewichtet.
Wie stark die Münsteraner Situation für L. auch theologisch im Zentrum steht, wird daran deutlich, dass sie den von Christian Grethlein (von Ernst Lange übernommenen und) gegenüber »Religion« favorisierten Begriff »Kommunikation des Evangeliums« als grundlegend für kirchliche Arbeit, für die Wahrnehmung von Religiosität im Alltag, aber auch für die Arbeit der Schulseelsorge ansieht. Eine Gesprächsmöglichkeit mit nichttheologischen Religionswissenschaften ist damit ebenso schwierig, wie eine Wahrnehmung der pluralen religiösen Situation im Religionsunterricht ausgeschlossen ist.
Sehr informativ ist die Rekonstruktion der juristischen Grundlagen für Schulseelsorge in ihrer historischen Entwicklung. Sehr aufschlussreich sind auch Passagen der Untersuchung, in denen die Verfasserin die unterschiedliche Entwicklung von Problembewusstsein und konzeptioneller Arbeit gegenüber Schulseelsorge in den evangelischen Landeskirchen auf der einen, der EKD auf der anderen Seite beschreibt. Das Problembewusstsein für Schulseelsorge ist in den Landeskirchen früher und weiter entwickelt als in der EKD – wobei L. jedoch offensichtlich nicht weiß, dass die jüngst ergangenen Stellungnahmen der EKD durch die Arbeit und Reflexion der in der Schulseelsorge Tätigen auf Landeskirchenebene basieren und hier vorbereitet wurden.
Mit dem Begriff der »strukturellen Kopplung« will L. den differenzierten Zusammenhang der Dimensionen Kirche, Schulleben/ Schulkultur, Religionsunterricht und Schülerperspektive theoretisch dingfest machen. Das mag Lesern einleuchten, die Niklas Luhmanns Systemtheorie ohnehin gut finden. Zu einem Verständnis der Probleme und Zusammenhänge über den Stand hinaus, wie sie bereits historisch, juristisch und entlang vieler Einzelpositionen beschrieben wurden, trägt diese Begrifflichkeit nichts bei.
Die Arbeit schließt mit einer empirischen Untersuchung, in der L. die Ergebnisse einer Befragung von Schülern und Schülerinnen und anderer Gewährsleute im Feld Schulseelsorge skizziert. Dabei wird allerdings mehr Wert auf den Nachweis gelegt, dass und wie die Befragung den Standards empirischer Sozialforschung genügt, als daran, dass ein konturiertes Bild vom Gegenstandsbereich Schulseelsorge entstehen könnte.
Vielleicht wäre es gut gewesen, wenn dieser empirische Teil Ausgangspunkt der gesamten Untersuchung gewesen wäre. Sicher wäre es notwendig gewesen, die Ausbildung von Schulseelsorgern genau zu untersuchen, wie sie seit einigen Jahren in verschiedenen Landeskirchen mit großer Intensität betrieben wird. Unbedingt nötig wäre gewesen, dass L. an verschiedenen ausgewählten Fallbeispielen die Arbeit der Schulseelsorge vor Ort konzentriert einer dichten Beschreibung würdigt. All dies geschieht nicht. L. gewinnt kein konturiertes Bild ihres Gegenstandes und kann es entsprechend nicht vermitteln – trotz und wegen unzähliger Einzelinformationen und der Sichtung fast der gesamten Literatur im Feld Schulseelsorge und – vor allem in den historische Teilen – weit darüber hinaus.
Wer darüber informiert werden möchte, wer wann was zum Themenfeld Schulseelsorge veröffentlicht hat, wird in dieser Untersuchung gut bedient. Als Einführung in den Gegenstandsbereich Schulseelsorge eignet sie sich nicht.