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Ausgabe:

Dezember/2018

Spalte:

1329–1331

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Rauscher, Anton

Titel/Untertitel:

Die soziale Verantwortung der Christen. Die Katholische Sozialwissenschaftliche Zentralstelle Mönchengladbach.

Verlag:

Paderborn: Ferdinand Schöningh 2017. 210 S. m. 2 Abb. Kart. EUR 39,90. ISBN 978-3-506-78677-7.

Rezensent:

Johannes Eurich

Der langjährige ehemalige Leiter der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle (KSZ) in Mönchengladbach, Anton Rauscher, hat einen kleinen Band vorlegt, in welchem die Geschichte der Zentralstelle in kurzen, meist nicht mehr als fünf bis sechs Seiten umfassenden Einheiten anschaulich dargestellt wird. Zur Aufgabenstellung der Zentralstelle gehört, »dass die sozialen Probleme, die im Wechsel der Zeit neu entstehen, erkannt, die Kenntnisse und Begründung der Wissenschaft berücksichtigt und Wege gefunden werden, wie sie die Prinzipien der Freiheit und sozialen Gerechtigkeit, der Solidarität und der Subsidiarität erfordern«, wie es im Vorwort heißt. Damit ist klar, dass die Geschichte der Katholischen Zentralstelle zugleich eine Geschichte der sozialen Herausforderungen des letzten halben Jahrhunderts in Deutschland darstellt (die KSZ wurde 1963 gegründet), wie sie sich in den Stellungnahmen und Reflexionen des sozialen Katholizismus widerspiegelt. Weiterhin ist noch auf die doppelte Funktion von R. hinzuweisen, der neben der Leitung der KZS von 1963 bis 2010 auch den Lehrstuhl für Christliche Gesellschaftslehre an der Universität Augsburg (1971–1996) innehatte. Die wissenschaftliche Reflexion mit praxisorientierenden Antworten für das soziale Engagement der katholischen Kirche zu verbinden, hat sich als überaus fruchtbar erwiesen. R. ist damit eine der prägenden Figuren des sozialen Katholizismus im 20. Jh. geworden und beeinflusste durch seine langjährige Tätigkeit als Berater und später als Sekretär der Kom mission der Deutschen Bischofskonferenz für gesellschaftspo-litische Fragen die sozialen Aufgabenstellungen der Deutschen Bischofskonferenz.
Die genau 30 thematischen Einheiten des Bandes reichen von der Gründungsgeschichte der KZS, die im ersten Beitrag in der reichen Historie der katholisch-sozialen Bewegung und der katholischen Soziallehre verortet wird, bis hin zum Vortrag von Karl Kardinal Lehmann bei der Feier von R.s 80. Geburtstag im Jahr 2008. Dabei wird die Geschichte der KSZ geschickt mit den sozialen Herausforderungen der gesellschaftlichen Entwicklung in Deutschland verbunden, so dass ein Panoptikum kirchlich-sozialer Stellungnahmen und Positionen aus dem Bereich der katholischen Soziallehre über die Jahrzehnte hinweg vor den Augen der Leserin entsteht. Thematisch durchgängige Linien, die in den einzelnen Beiträgen gefunden werden können, sind z. B. Debatten um die soziale Marktwirtschaft und deren Mitgestaltung (im Einzelnen werden Themen wie Mitbestimmung, Arbeitslosigkeit, Beteiligung am Produktivvermögen, Industriepraktika etc. behandelt) oder die internationalen Kolloquien und Foren, welche von der KSZ in der Situation des Kalten Krieges oder im Blick auf den Korea-Krieg initiiert wurden oder welche die Erweiterung Europas nach dem Fall der Mauer in fünf großen internationalen Foren einschließlich der Kontaktaufnahme mit Katholiken aus dem ehemals kommunistischen Herrschaftsbereich aufgriffen.
Dazwischen gibt es immer wieder thematische Einheiten zu De­batten innerhalb des Katholizismus, die gerade für nicht-katholische Leser instruktiv sind, weil sie – durch die Sichtweise R.s bereits reflektiert – gleichsam eine doppelte Brechung im Rückblick auf die Ge­schehnisse beinhalten. Ein Beispiel hierfür ist das Verhältnis der katholischen Kirche zu politischen Parteien: R. beschreibt die Wirkung der sogenannten Pillenenzyklika Humanae Vitae von Papst Paul VI. auf die politische Orientierung vieler Katholiken, so dass der Zusammenhang zwischen religiöser Bindung und parteipolitischer Orientierung in der Folge zurückging. »Kirchentreue Katholiken« hätten daraufhin auch dann noch die SPD gewählt, »als die Entideologisierung dieser Partei in eine Reideologisierung umschlug, die zu dem lang andauernden Streit um die Grundwerte führte, nachdem die sozialliberale Koalition in Nordrhein-Westfalen und im Bund die Macht übernommen hatte« (75). Die von R. attestierte Reideologisierung kann man hingegen auch anders darstellen, nämlich als Eintreten für bestimmte Grundwerte, welche freilich einer konservativen politischen Orientierung entgegengesetzt sind. Das Beispiel mag verdeutlichen, worin die KZS ihre inhaltliche Ausrichtung gefunden hat: gesellschaftliche Probleme »im Licht der katholischen Soziallehre« zu klären und nicht »Modernitäten« nachzulaufen (77). Die katholische Soziallehre war freilich selbst nicht unumstritten, wie am Kapitel zur Theologie der Befreiung ausgeführt wird. Auch hier verortet sich R. eindeutig. Einer gesellschaftskritischen Funktion der Kirche, wie sie von Johann Baptist Metz gefordert wurde, hält R. entgegen: »Der katholischen Soziallehre geht es nicht um revolutionäre Veränderung, sondern um die Grundlagen des Zusammenlebens der Menschen, um solidarische und gerechte Strukturen.« (78 f.)
Als Feindbild dient der Marxismus, Leonardo Boff kommt als realitätsfremder Ideologe (85) in den Blick. Wie schade, dass R. sich nicht – bei aller vorzubringenden Kritik – konstruktive Aspekte aus dem Ansatz der Theologie der Befreiung zu eigen macht. Dass dies – auch im Rückblick nach vielen Jahren – unterbleibt, zeigt deutlich, welche ideologische Position er selbst vertritt. Dass z. B. die solidarischen und gerechten Strukturen, für die R. eintritt, selbst immer auch einen Schatten werfen, zu Ausgrenzungen und Un-gerechtigkeiten führen können und mithin der Kritik bedürfen (Foucault!), wäre ein Standpunkt, von dem aus man sich kritische Im­pulse auch entgegenstehender Ansätze zunutze machen und selbstkritisch reflektieren könnte. Stattdessen gewinnt man einen Einblick in die im Grunde linientreue Argumentation katholischer Soziallehre, die in ihrem Schlussbeitrag auf eine Renaissance des Naturrechts hofft – eine Hoffnung, der man sich als Protestant freilich aus guten Gründen nicht anzuschließen vermag.