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Ausgabe:

Dezember/2018

Spalte:

1328–1329

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Nierop, Jantine

Titel/Untertitel:

Eine Gemeinde, mehrere PfarrerInnen. Reflexionen auf das mehrstellige Pfarramt aus historischer, empirischer und akteurtheoretischer Perspektive.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2016. 256 S. m. 76 Tab. = Praktische Theologie heute, 151. Kart. EUR 40,00. ISBN 978-3-17-032195-3.

Rezensent:

Gunther Schendel

Fast 60 Prozent der Pfarrerinnen und Pfarrer arbeiten mit anderen Pfarrpersonen im Team. Das ist jedenfalls das Ergebnis einer Befragung aus dem Bereich der heutigen Nordkirche (2010). Umso bemerkenswerter ist, dass die Zusammenarbeit im Team erst jetzt wieder eine empirische Untersuchung erfahren hat. Jantine Nierop, geschäftsführende Studienleiterin am Studienzentrum der EKD für Genderfragen und Privatdozentin, hat in ihrer an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg entstandenen Habilitationsschrift das Thema mehrstelliges Pfarramt aus mehreren Perspektiven untersucht, wobei neben der kirchenhistorischen Perspektive vor allem die empirische und die akteurstheoretische Perspektive besonders aufschlussreich ist.
Im ersten Teil ihrer Arbeit, einer einleitenden historischen An­näherung, beschreibt sie prägnant die Entwicklungen von der Frühen Kirche und dem Mittelalter über die Reformation bis zur Kirchenreformbewegung der 1960er und 1970er Jahre mit ihrer Hochschätzung des Teampfarramts, also einer funktional gegliederten Arbeit. Die Erwartungen an das Teampfarramt waren da­mals hoch: Intendiert war eine »Verflüssigung und Verwandlung der herkömmlichen parochialen Strukturen« (Ernst Lange 1965, zitiert 69); angestrebt war eine Orientierung an den »besonde-ren Fähigkeiten« der Pfarrerinnen und Pfarrer im Team und die Durchbrechung der pfarramtlich-parochialen »Routineversorgung«, nämlich durch Spezialisierung und die verstärkte Ausrichtung auf die »besonderen Bedürfnisse« in den Gemeinden (Werner Jetter 1968, zitiert 71).
Diese Argumente klingen erstaunlich aktuell, solche Effekte werden heute von Gemeindefusionen oder von der regionalen Zusammenarbeit erwartet. Eine kritische, ergebnisoffene Auswertung der mit den Teampfarrämtern gemachten Erfahrungen er­folgte damals jedoch nicht. Umso wichtiger ist die empirische Untersuchung des aktuellen mehrstelligen Pfarramts, als des-sen Besonderheit N. im historischen Vergleich den Verzicht auf Hierarchie und ein höhergestelltes Leitungsamt erkennt (86 f.). Die empirische Untersuchung mit Daten aus der eingangs schon erwähnten Befragung von Pfarrerinnen und Pfarrern aus dem Bereich der heutigen Nordkirche stellt den Mittelteil der Studie dar.
Die Ergebnisse, die sie hier präsentiert, lassen aufhorchen, das gilt vor allem für das Verhältnis zum Kirchgemeinderat/Kirchenvorstand und zu den Gemeindegliedern. Wenn man Pfarrerinnen und Pfarrer im mehrstelligen Pfarramt und mit den Kolleginnen und Kollegen im Einzelpfarramt vergleicht, dann zeigt sich z. B. ein geringeres Interesse an Gemeindezahlen, an der Vergrößerung der Gemeinde, an ihrer öffentlichen Darstellung. Während die Bereitschaft zum Engagement im Konfirmandenunterricht vergleichsweise höher ausgeprägt ist, ist die Bereitschaft zum Engagement in der Lebensbegleitung und Offenheit für das »religiöse Innenleben anderer Menschen« vergleichsweise geringer (165). Geringer ist auch die Bereitschaft, Aufgaben an Ehrenamtliche zu delegieren, sich an den Erwartungen der Gemeindeglieder und des Kirchengemeinderats zu orientieren. Stärker als bei Pfarrpersonen im Einzelpfarramt ist hingegen die Orientierung an den Kolleginnen und Kollegen und die Zufriedenheit mit ihnen (165 f.). Bei all diesen Ergebnissen bestehen signifikante Unterschiede (Chi-Quadrat-Test).
Zu Recht weist N. darauf hin, dass diese Ergebnisse keine eindeutige Kausalitätsrichtung markieren; sie geben nicht an, ob die Unterschiede in den Strukturen eines mehrstelligen Pfarramts oder in der Persönlichkeit derer begründet liegen, die im mehrstelligen Pfarramt arbeiten. Im Sinne einer »hypothetischen Interpretation« (168) unternimmt N. im dritten Teil ihrer Studie eine Deutung, die von der Struktur des mehrstelligen Pfarramts ausgeht. Sie greift auf vier geläufige Akteursmodelle zurück (Homo Sociologicus, Homo Oeconomicus, Emotional Man, Identitätsbehaupter). Mit diesen Modellen erklärt sie plausibel die vergleichsweise größere Distanz zum Kirchengemeinderat und zur Gemeinde und die vergleichsweise größere Orientierung an den Kolleginnen und Kollegen. Wesentliche Faktoren sind hierbei fehlende Rollenerwartungen, die an die einzelne Pfarrperson gerichtet werden, fehlende Bestätigung, Konkurrenzvermeidung und die Konzentration auf die Kollegialität.
In einer pastoraltheologischen Schlussbetrachtung bringt N. die Chancen und Risiken des mehrstelligen Pfarramts auf den Punkt: Als Chance sieht sie es (im Anschluss an Ulrike Wagner-Rau), dass Pfarrpersonen sich »nicht von einer rein binnengemeindlichen Perspektive vereinnahmen lassen« (203). Als Risiko sieht sie (im Anschluss an Isolde Karle) die Relativierung der Gemeinde als »Basis der Kirche« (206) und eine Gefährdung der »Vitalität« der Kirche durch fehlende Nähe zu den Gemeindegliedern (209 f.). Abschließend rät N. zu einer möglichst klaren Differenzierung der Zuständigkeitsbereiche durch klar kommunizierte geographische und thematische Zuständigkeit – und zu einem reflektierten kirchenleitenden Umgang mit dem »spezifischen Problempotential« der Organisationsform mehrstelliges Pfarramt: »Probleme an mehrstelligen Pfarrämtern haben oft einen strukturellen Grund und sind somit überindividuell.« (236)
Mit ihren markanten empirischen Ergebnissen und ihrer souveränen und erhellenden Deutung des Befunds liefert N. einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der Dynamiken im Pfarrberuf, besonders im Spannungsverhältnis zwischen Kolleginnen bzw. Kollegen und der Gemeinde. Ihre Ergebnisse und Überlegungen sollten auch bei der Gestaltung und Begleitung multiprofessioneller Teams herangezogen werden.