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Ausgabe:

Dezember/2018

Spalte:

1320–1321

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Link-Wieczorek, Ulrike [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Verstrickt in Schuld, gefangen von Scham?Neue Perspektiven auf Sünde, Erlösung und Versöhnung.

Verlag:

Göttingen: Neukirchener Theologie 2015. 210 S. Kart. EUR 45,00. ISBN 978-3-7887-2942-4.

Rezensent:

Christine Axt-Piscalar

Das Thema Sünde und Schuld stand in den letzten Jahrzehnten, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht im Zentrum des theologischen Diskurses. In jüngster Zeit ist ein zunehmendes Interesse an dieser Thematik, insbesondere aber an ihrer Verbindung mit dem Gefühl der Scham, erwacht. Dies mag damit zusammenhängen, dass die Gefühle in der interdisziplinären Forschung und ebenso in der Theologie besondere Beachtung finden. Zudem wa­ren einige Fälle medial inszenierter Tribunalisierung im öffent-lichen Raum zu erleben, die den theologisch geschulten Zeitgenossen an öffentliche Bußakte im Mittelalter erinnerten. Dabei spie gelten sie auch wider, was weder Öffentlichkeit noch Medien ›be­reitstellen‹ können, damit die Person Schuld und Scham nicht in gnadenloser Weise ausgesetzt bleibt. Diese Fälle haben – zumindest indirekt – die eigentümliche Bedeutung von Absolution und Vergebung, den ureigenen Vollzügen kirchlicher Praxis, für den Um­gang mit Schuld und Scham deutlich werden lassen (vgl. dazu an anderem Ort E. Schockenhoff, N. Slenczka). Die Frage, wie Schuld- und Schamgefühl das kollektive und individuelle Bewusstsein beeinflussen, rückt ebenso wie die Frage nach der Möglichkeit ihrer Bewältigung verstärkt ins Blickfeld der Forschung.
Der anzuzeigende Band dokumentiert die Jahrestagung der Gesellschaft für Theologie 2015 in Berlin zu diesem Themenkreis. Aus der Vielzahl der einzelnen Beiträge seien einige herausgegriffen. Katharina Peetz beschreibt anhand von Opfer- und Täterberichten aus dem ruandischen Genozid, dass eine unbedingte Vergebungspraxis, die von Buße und satisfactio absieht, nicht wirklich greift, insofern Vergebung die verbleibende Scham bei Opfern und Tätern nicht aufzuheben vermag. Christina-Maria Bammel (vgl. ihre Monographie zum Thema Scham in interdisziplinärer Sicht; 2008) bietet einige Beispiele zum Phänomen des »Fremdschämens«, das zu einem »Slangwort« vor allem bei Jugendlichen geworden ist. Sie analysiert das Fremdschämen als eine Haltung »der inneren Distanznahme, das Absetzen gegen die Verachtenswürdigen« sowie als »Ausdruck einer moralischen Erhebung« und plädiert dafür, dass es aus theologischer Sicht – mit Verweis auf die Mitscham Jesu am Kreuz – so etwas wie gemeinschaftlich empfundene oder stellvertretende Scham geben soll und kann (85 ff.). Dem individuellen Schamgefühl widmet sich der Beitrag von Stephan Marks, der die Entwicklung der Scham bei Jugendlichen nicht als bloß negatives Gefühl, sondern als »Hüterin der Würde des Menschen« (vgl. auch seine Monographien 2017 und 2011) zu verstehen gibt. Dagmar Zobel gibt Einblick in ihre Erfahrungen als Seelsorgerin und ermutigt dazu, »den eigenen Schamerfahrungen ins Auge« zu sehen, um so im Seelsorgegespräch die »Aufmerksamkeit für die Schamgefühle des Gegenübers zu fördern […] und einen Raum der Solidarität für das schambehaftete Gegenüber« zu öffnen (58). Der Beitrag von Ruth Poser geht der Thematisierung von Scham in der Hebräischen Bibel nach und zeigt auf, dass es in Gen 2 eigentlich die Scham (und nicht die Schuld) ist, die das störende Zwischen als Manifestation der Sünde bildet – sowohl im Verhältnis von Mensch und Gott als auch zwischen Mann und Frau; anhand des Hesekielbuchs erörtert sie, dass Vergebung nicht schon die empfundene Scham aufhebt, und weist an Ps 69 auf, dass Schuld nicht immer unmittelbar mit Schamempfinden verbunden ist. Moisés Mayordomo unterstreicht anhand der fünften Vaterunserbitte, dass und inwiefern die göttliche Vergebung bei Mt an den vorgängigen Vergebungsvollzug unter Menschen gebunden ist, wie der Halbsatz Mt 6,12b zu verstehen sei. Dass »dieser kleine Nachsatz theologische Gewissheiten ins Wanken bringt« (168), wäre zumindest dann der Fall, wenn damit die Frage nach der Ermöglichung von Ver-gebung unter Menschen ausgeblendet bliebe und die göttliche Vergebung unmittelbar abhängig gemacht würde von dem Ver-gebungsvollzug unter Menschen – wobei mit dieser kritischen Anmerkung die »Auffassung von einem unauflöslichen Wechselverhältnis von menschlicher und göttlicher Vergebung« (169) nicht bestritten werden soll. Michael Beintker hebt auf solche Formen von Schuld und Scham ab, die nicht durch Strafe abgebüßt bzw. aufgehoben werden können, und bringt die kirchliche Verkündigung und Praxis der Vergebung als Vollzüge zur Geltung, durch die sich der Mensch allererst offen zu seiner Schuld und Scham bekennen kann. Theo Sundermeier erläutert Beispiele aus verschiedenen religionskulturellen Kontexten, anhand derer die geprägte Unterscheidung zwischen Schuld- und Schamkultur deutlich wird – und sodann neu daraufhin zu bedenken ist, ob und wie auch unsere westlichen Gesellschaften vom Schamempfinden bestimmt sind (vgl. dazu besonders M.-S. Lotter, Scham, Schuld, Verantwortung: Über die kulturellen Grundlagen der Moral, Berlin 2. Aufl. 2016).
In das vielfältige Spektrum der mit der Thematik verknüpften Aspekte und ihre Relevanz für Theologie und Gesellschaft führt Ulrike Link-Wieczorek profund und mit zahlreichen Hinweisen auf weiterführende Literatur ein. So bietet das Buch perspektivenreiche Beiträge, die interdisziplinär das Phänomen der Scham in den Fokus nehmen, Ursprung und Bedeutung des individuellen wie kollektiven Schamempfindens analysieren sowie den theologischen Umgang mit diesem nahezu immer als negativ empfundenen Selbstverhältnis reflektieren.