Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/2018

Spalte:

1314–1318

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Dalferth, Ingolf U.

Titel/Untertitel:

Wirkendes Wort. Bibel, Schrift und Evangelium im Leben der Kirche und im Denken der Theologie.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2018. XXII, 462 S. Geb. EUR 38,00. ISBN 978-3-374-05648-4.

Rezensent:

Christoph Markschies

Ingolf U. Dalferth hat mit dem anzuzeigenden Buch nicht nur eine systematisch-theologische Monographie zur Lehre vom Wort Gottes, zum Schriftverständnis und zum Umgang mit der Bibel in der Kirche vorgelegt. Er hat vielmehr einen Grundlagentext geschrieben, der angesichts des digitalen Zeitalters nach dem Ende der Gutenberg-Galaxis neu bestimmen will, was das Leben des einzelnen Christenmenschen, der Kirche und der »Theologie am Übergang zu einer neuen Epoche« (438) trägt. Da es D. auch ganz grundsätzlich um die institutionelle wie inhaltliche Gestalt der Theologie in der postchristlichen Kultur (446) geht, sollte das Buch nicht nur in den unmittelbaren Fachkreisen gelesen werden, sondern in Kirche wie Theologie breit rezipiert werden. Eine solche Rezeption wird dadurch erleichtert, dass die Grundgedanken D.s mehrfach wiederholt und in eingängiger Darstellung expliziert werden. Außerdem kann der Band aufgrund entsprechender ausführlicher, in der Sache wohlinformierter ideengeschichtlicher Abschnitte als Beitrag zur Theologiegeschichte eines Problems gelesen werden. Schließlich ist er eine Glaubenslehre in nuce, weil D. seine Ausführungen über die Bedeutung der Schrift für die Kommunikation des Evangeliums konsequent trinitarisch anlegt, christologisch zu­spitzt und ekklesiologisch verortet.
Die Grundthese des Buches ist ebenso einfach wie präzise: D. ist davon überzeugt, dass die gegenwärtig von vielen beschworene »Krise des Schriftprinzips«, die unklare Rolle biblischer Texte nicht nur in der Theologie, sondern auch im Leben der Kirche und schließlich die nicht erst beim Reformationsjubiläum auftretenden Schwierigkeiten, konsensuell ein Proprium reformatorischer oder evangelischer Theologie zu bestimmen, im Kern auf mangelnde Differenzierung zurückzuführen sind und auf basale Missverständnisse: An die Stelle einer präzisen Unterscheidung von biblischem Text, Schrift, Evangelium und Wort Gottes sind Kirche und Theologie in die »Gutenberg-Falle« geraten und haben nicht nur Bibel und Schrift umstandslos identifiziert, sondern damit an die Stelle der Kommunikation des Evangeliums in, mit und unter biblischen Texten die nach Kunstregeln der Philologie und Hermeneutik erfolgende Interpretation von Texten gesetzt (XX). Chris-tentum ist damit zu einer Buchreligion geworden und wird auch öffentlich gern so rubriziert (222 f., Anm. 152), obwohl Kirche nie als »Geschöpf der Schrift« beschrieben wurde, sondern als creatura verbi (123 f.), und Glauben nach Paulus durch das Hören des Evangeliums und nicht durch das Lesen geweckt wird. Der Glaube ist (ein wichtiger Unterschied gegenüber dem Islam) »nicht auf eine Buch gewordene Offenbarung gegründet« (247) und die Bibel daher »kein christlicher Koran« (417). »Schrift« ist auch kein beliebiger »Sammelbegriff für die biblischen Texte, sondern die Bezeichnung dafür, dass diese Texte in der Kirche kanonische Geltung haben. Schrift (scriptura) ist die Kurzformel für Texte, die in der Kirche als Schrift gebraucht werden« (131). Als Schrift werden diese Texte aber dann und nur dann gebraucht, »wenn sie zum Verstehen und Auslegen des Evangeliums und zum Vollzug der Kommunikation des Evangeliums herangezogen werden« (ebd.).
D. verwendet den aus der Praktischen Theologie und näher von Ernst Lange stammenden Begriff »Kommunikation des Evangeliums« aber nicht nur, um den gemeinschaftlichen und kirchlichen Kontext dieser schriftbezogenen Kommunikation des Evangeliums vom je individuellen Textverstehen der Bibel abzugrenzen, sondern rechnet mit einem Kommunikationsgeschehen, in dem Gott vermittels des Heiligen Geistes das Evangelium kommuniziert: »Das Christentum ist ein Gemeinschaftsphänomen, das von anderen sozialen Phänomenen durch die Kommunikation des Evangeliums unterschieden ist. Dabei geht es keineswegs nur um die unilaterale Weitergabe des Evangeliums von einem an andere, von Christen an Nichtchristen oder von einer Generation an die nächste. Das gesamte christliche Leben in der Vielfalt seiner gemeinsamen und individuellen Vollzüge in synchroner und diachroner Dimension ist eine komplexe Kommunikationspraxis, die durch die Kommunikation des Evangeliums geprägt ist. Ohne die Kommunikation des Evan-geliums gibt es keinen Glauben, ohne Beteiligung an dieser Komm unikation kein Glaubensleben und ohne christliche Evangeli-umskommunikation kein christliches Glaubensleben« (43). In der menschlichen Praxis des Evangeliums aber geht es um »die Auslegung des Lebens durch die Selbstkommunikation Gottes in, mit und unter der Kommunikation des Evangeliums. Das Evangelium ist die Auslegung des Lebens durch Gottes Gegenwart auf Gottes Gegenwart hin.« (XI) Schrift ist also auch insofern »Handlungs-Text« (22; von hier aus könnte man übrigens noch einmal auf die Debatte zwischen Luther und Zwingli über »Heißel-« und »Tätel-Wort« zurückblicken). Diese Selbstkommunikation ist (wie bereits angedeutet) konsequent trinitarisch gedacht, christologisch zugespitzt, pneumatologisch basiert und ekklesiologisch verortet: Christen begreifen das Wirken des Geistes in der Kommunikation des Evangeliums »als Selbstvergegenwärtigung des abwesenden Gekreuzigten durch die Kraft Gottes im Aufbau der Gemeinschaft des Christusleibes und sie bringen es als Anfang und Ausdruck der neuen Schöpfung zur Sprache« (64). Also gilt: »Die Kommunikation des Evangeliums ist das theologische Zentrum des Christentums.« (43)
Die Alternative zu dieser wieder und wieder entfalteten Sicht ist klar konturiert, aber ohne jede Polemik gegen die Kolleginnen und Kollegen, die sie gegenwärtig in der Theologie vertreten, formuliert: Wer in der Gutenberg-Falle steckt und an die Stelle von »Evangelium« einen Text und anstelle von »Schrift« die Bibel setzt, erlebt, dass die »zum Buchtext gewordene Bibel […] zum Echoraum des leeren Ichs des abstrakten Lesers« wird (105). D. beschreibt den Weg hin zu dieser Schrumpfgestalt von Theologie und Kirche mit kräftigen Pinselstrichen: Die Akzentsetzungen reformatorischer Theologie, in der es noch ein Bewusstsein für die schlechterdings zentrale Bedeutung der viva vox evangelii gab (124), wurden in der nachreformatorischen Barocktheologie hin zu einer »Bibliolatrie« verschoben, die schon im Pietismus kritisiert wurde (371) und spätestens seit dem 18. Jh. in der theologischen Diskussion aufgrund der Einwände bei Lessing und anderen als abgetan gelten kann (12–19). Ebenso sehr bemüht D. sich aber auch darum, sensibel Honig aus Traditionen zu saugen, die gewöhnlich als einander entgegengesetzt präsent werden. So möchte er, dass eine »theologisch adäquate Lehre von der Schrift […] beides, den von Schleiermacher hervorgehobenen kirchlichen Schriftgebrauch und das von Barth ins Zentrum gestellte Geschehen des Wortes Gottes« zusammendenkt, und formuliert als theologische Aufgabe, die in seiner Monographie gelöst werden soll, »so etwas wie eine Synthese des Schriftverständnisses von Schleiermacher und des Verständnisses des Wortes Gottes von Barth in Angriff zu nehmen« (40). Damit wird Schleiermacher natürlich in einer bestimmten Forschungstradition gelesen, die die Rede vom Wirken Gottes in seiner Theologie nicht für einen vernachlässigbaren Restbestand theologischer Tradition erachtet: »Nur wer die Welt von Gottes Gegenwart her betrachtet, wird sie als Resonanzraum des Schöpfers wahrnehmen. Wer dagegen Gottes Gegenwart finden will, ohne von ihr schon auszugehen, wird nur seinen eigenen Schatten sehen und sein eigenes Echo finden« (VII).
Das Buch von D. ist so wichtig, weil es einerseits Theologie und Kirche an bestimmte Selbstverständlichkeiten erinnert: Ohne die horizontale Kopräsenz Gottes inmitten der vertikalen Kopräsenz von Menschen (60), die in der ›komplexen Wurzelmetapher‹ »Wort Gottes« zur Sprache gebracht wird (327) und als »Jesus Christus« formelhaft verdichtet wird (60), bleibt Theologie eine historisch-philologische Textauslegungswissenschaft ohne Bezüge zum gelebten Leben in Gemeinschaft. D. plädiert aber nicht wie manche andere für eine Flucht in ein isoliertes Selbstverstehen des Individuums ohne Bezug auf Schrift und ohne Evangelium, sondern für die Rückbesinnung auf die unverzichtbare Metapher vom Wort Gottes, die diese Kopräsenz als kommunikatives Handeln beschreibt. Weil aber jene Metapher durch die Rede von Jesus von Nazareth als Wort Gottes präzisiert wird und an die Geschichte Israels zurückgebunden ist (286), gab es nie ein Neues Testament ohne ein Altes und christliche Kirche nie ohne die Schrift in der Einheit beider Testamente. Kanonisierung der Heiligen Schrift heißt, wie D. den Stand der Forschung mit Christoph Dohmen und anderen zutreffend referiert, dass anerkannt wird, wie sich das Kommunikationsgeschehen des Evangeliums vollzieht: Es beruht auf »Schriften der jüdischen Tradition, auf die man sich bezog, um das Christusgeschehen zu verstehen (Altes Testament), und Schriften, die daraus entstanden, dass man das christliche Verständnis des Christusgeschehens zu kommunizieren suchte (Neues Testament)«. Aber es wird durch die menschliche Kommunikationsgemeinschaft nicht in Gang gebracht und auch nicht in Gang gehalten. Kanonisierung ist Nostrifizierung dieses fremdkonstituierten, geistgewirkten Geschehens (102). Insofern haben für D. auch vergangene wie gegenwärtige Versuche, die Kanonizität des Alten Testaments in Frage zu stellen oder die Bedeutung der Schrift für Theologie und Kirche zu marginalisieren, eine Bedeutung vor allem deswegen, weil sie helfen können, die fundamentalen Missverständnisse durch geistlose Identifikation von Bibel, Schrift, Evangelium und Wort Gottes aufzudecken und wo möglich abzustellen.
Das Buch von D. ist andererseits aber auch so wichtig, weil es immer wieder ganz praktische Konsequenzen für Theologie und Kirche formuliert: Die Scheidung der beiden Testamente nennt er einen Irrweg in jeder Hinsicht (440) und plädiert (ohne selbst den lange heftig umstrittenen Begriff »Biblische Theologie« zu bemühen) für eine in sich differenzierte Auslegung des einen Wahrheitsraums beider Testamente, die höchstens aus pragmatischen Gründen an zwei selbständige Disziplinen Altes und Neues Testament delegiert werden darf, aber besser auch in einem institutionellen Zusammenhang betrieben werden sollte (XV). Das Buch bleibt aber bei solchen Bemerkungen zur institutionellen Gestalt nicht stehen, sondern entwickelt einen Vorschlag zur Reform der theologischen Ausbildung, die im deutschen Sprachraum im Unterschied zu vielen Universitätsfächern bekanntlich einer Disziplinen-Architektur des 19. Jh.s folgt und in mancherlei Hinsicht vielen inzwischen als dysfunktional gilt. D. stellt in das Zentrum theologischer Bildung die »Ausbildung theologischer Urteilskraft« durch Einübung von Unterscheidung und der Anwendung solcher Un­terscheidungen (444). Eine solche fundamentale Unterscheidung ist, wie D. Luther folgend expliziert, im Blick auf die Rede vom Wort Gottes die Differenzierung zwischen dem »Gebrauch, den die Kirche [sc. von biblischen Texten als ›Schrift‹, C. M.] macht«, und dem »Geschehen, das die Kirche macht« (382). Solche Leitdifferenzen sollten im Studium eingeübt werden, damit sich der kirchliche Ge­brauch dieser Texte an diesen Leitdifferenzen orientieren kann. Wer mit Ebeling eine zentrale Pointe reformatorischer Theologie im Unterscheiden sieht, wird diesen Reformvorschlag als Beitrag zur reformatorischen Identität theologischer Ausbildung begrüßen. Es ist aber auch ein Beitrag zur evangelischen Identität theologischer Ausbildung, weil im Zentrum des Theologiestudiums nach D. die »Einführung in die Kommunikation des Evangeliums« mit zwei Brennpunkten einer »Problemellipse« stehen sollte: »die Beschäftigung mit dem Evangelium als der Kraft der Veränderung menschlichen Lebens durch die Selbsterschließung der Gegenwart Gottes und die Beschäftigung mit den Modi, Medien und Problemen der Kommunikation des Evangeliums in den konkreten Lebensgestalten der Kultur, auf die sich die theologische Reflexion bezieht« (444). Eine Transformation der Lehre und Forschung an theologischen Fakultäten in ein beziehungsloses Nebeneinander von historischer Textwissenschaft und empirischer Religionswissenschaft des Christentums wird, wie D. richtig beobachtet, zur Auflösung ihrer institutionellen Einheit und Eingliederung in philosophische Fakultäten führen.
D. bricht seinen Vorschlag zur Reform theologischer Ausbildung herunter bis auf ein Lehrprogramm für drei Studienjahre (444–446), das gewiss mancherlei Diskussion auslösen wird, aber immerhin die klassischen Kerndisziplinen deutlicher enger verknüpft, als dies meist in den Fakultäten der Fall ist, neben religionswissenschaftlichen auch kulturwissenschaftliche, ökonomische, philosophische, politische, rechtliche und soziologische Dimensionen der Reflexion über Lebenswelt, Kultur und Gesellschaft der Gegenwart integriert und Bildung nicht durch Wissensvermittlung ersetzt. Es würde sich lohnen, dieses – wie gesagt – auf drei Studienjahre bezogene Modell einmal an einer deutschsprachigen Fakultät zur Grundlage eines Reformstudiengangs innerhalb der Regelstudienzeit von zehn (plus zwei) Semestern zu machen. Dann könnte beispielsweise auch die römisch-katholische Theologie einen größeren Stellenwert erhalten, als ihr im Buch zugebilligt wird (Karl Rahner kommt nur als Protagonist der Um­wandlung des Christentums in eine Buchreligion und Vertreter »einer gefährlichen Vagheit im Verhältnis der drei entscheidenden Begriffe ›Wort Gottes‹, ›Schrift‹ und ›Buch‹« in den Blick: 107, auch 245). Von erheblicher Bedeutung ist auch ein das Buch ab­schließender Ratschlag: »Wer dafür sorgen will, dass die Bibel eine kulturelle Bedeutung behält, sollte deshalb ein Interesse daran haben, dass sie als Schrift gebraucht wird und in der Formung und Deutung des Lebens von Menschen in der Gegenwart weiterhin eine Rolle spielt.« (447) Auf diese Weise würde nicht nur sichergestellt, dass Kirche und Theologie bei ihrer Sache bleiben, sondern auch ein Weg des Umgangs mit biblischen Texten im digitalen Zeitalter gewiesen, der jenseits klassischer Alternativen in der Praktischen Theologie und Religionspädagogik des 20. Jh.s steht – wenn denn der Kirchenhistoriker an dieser Stelle mit den einschlägigen Fachdiskussionen genügend ist. In jedem Fall scheint mir die interdisziplinäre Diskussion über Konsequenzen dieses Aufschlags von D. innerhalb der Fächer der Theologie ebenso lohnend wie spannen d– das gilt natürlich auch für das Gespräch über die theologiegeschichtlichen Passagen dieses Buches, das in diesem Rahmen na­türlich nicht aufgenommen werden kann.
Ob sich die, in deren Theologie Gott abhanden gekommen ist, und die, die unter der Schrift keine lebendige Anrede mehr hören, von solchen Erinnerungen an Selbstverständlichkeiten aus be­stimmten mitteleuropäischen Selbstbezüglichkeiten wachrütteln lassen, ist wahrscheinlich eine offene Frage. D. sieht aber richtig, dass nur eine solche verstehende Rückbesinnung auf notwendige Unterscheidungen wieder ein Bewusstsein für die lebendige Anrede des Menschen als Kern des Evangeliums sowie als Existenzgrund von Kirche wie Theologie schaffen kann und damit auch für die ratio bestimmter institutioneller Gestalten von Kirche und Theologie hierzulande. Der schlichte Rückverweis auf die klassischen Bekenntnistexte, Verfassungen und Basisformeln von Kirchen und Konfessionsbünden hilft in der gegenwärtigen Lage nicht, weil diese Texte ohne vorgängige Klärung des Schriftverständnisses undeutlich bleiben (3–11) und diese Unklarheit auch viele andere kirchliche Stellungnahmen prägt. Man merkt, dass D. nicht nur lange im mitteleuropäischen Kontext gelehrt hat, sondern auch die religiöse und kirchliche Wirklichkeit der neuen Welt(en) gut kennt. In dem leidenschaftlichen Insistieren darauf, dass präzises Unterscheiden in Theologie und Kirche Missverständnisse vermeiden hilft, und in der Gewissheit, dass die Erinnerung an Gottes Klarheit als einer Gabe des Heiligen Geistes kein Zeichen einer die Aufklärung ignorierenden Neo-Orthodoxie darstellt, sondern einen hilfreichen Beitrag zu irdischen Klarheiten, meint man allerdings gelegentlich, einen Tübinger Lehrer D.s hören zu können. Aber das muss ja nun wirklich kein Schade sein.