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Ausgabe:

Dezember/2018

Spalte:

1308–1311

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Özmen, Elif [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Hans Kelsens Politische Philosophie.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2017. XV, 175 S. Kart. EUR 59,00. ISBN 978-3-16-155350-9.

Rezensent:

Christian Polke

»Mit der Rezeptionsgeschichte des Werkes von Hans Kelsen verhält es sich ambivalent […] Während ihm für den einen Teil – den juris-tischen – große Anerkennung zu Teil wurde, sind seine restlichen Schriften bestenfalls mit Kritik bedacht worden, wenn sie denn überhaupt Erwähnung finden.« (115) – So urteilt Jan Kleine treffend in seinem Beitrag zu einem neuen Sammelband über die Politi-sche Philosophie dieses großen österreichisch-US-amerikanischen Rechtstheoretikers. Die bittere Ironie dabei ist, dass es sich mit Blick auf Kelsens Antipoden Carl Schmitt umgekehrt zu verhalten scheint: Dessen durchaus ingeniöse juristische Studien stehen bei den meisten seiner Rezipienten völlig im Schatten überspannter Adaptionen von launig formulierten, bisweilen naiv ansetzenden, gleichwohl immer suggestiv inszenierten Opuscula. Man muss Kelsen aber gar nicht mit Schmitt vergleichen, steht er doch auf einem anderen Reflexionsniveau, wenngleich dies lange Zeit verkannt wurde. Schließlich gilt er neben H. L. A. Hart als der Wegbereiter des Rechtspositivismus – was ihn hierzulande wiederum lange Zeit verpönt gemacht hat – und zwar von allen Seiten, rechts wie links. Sah man doch in diesem Ansatz die Gefahr, dass das Rechtssystem in dunklen Zeiten erneut und allzu leicht »im Namen des Volkes« pervertiert werden konnte. Da tut es gut, wenn man einen genaueren Blick auf das umfassende Werk dieses nicht nur in Verfassungs- und Rechtstheorie gelehrten Denkers wirft.
Im Zentrum des von der Gießener Praktischen Philosophin Elif Özmen herausgegebenen Bandes steht die Politische Philosophie Kelsens, wie sie sich ab Mitte der 1920er Jahre vor allem in den großen demokratietheoretischen Abhandlungen, insbesondere »Vom Wesen und Wert der Demokratie« (1929), »Verteidigung der Demokratie« (1932) und »Foundations of Democracy« (1944) niederschlägt. Schon seit einigen Jahren sind diese Texte einer breiteren Öffentlichkeit dankenswerterweise wieder zugänglich gemacht worden.
Den Auftakt des Bandes bildet eine auf knappstem Raum dargelegte, konzise Darstellung der Rechts- und Sozialtheorie Kelsens aus der Feder von Horst Dreier, einem Pionier der Kelsenforschung in Deutschland (3–27). Ihm gelingt es zu zeigen, wie die Einsichten der Reinen Rechtslehre und das darin sich aussprechende Wissenschaftsverständnis (des Rechts!) mit den Ausführungen zur De­mokratie und zum Wertepluralismus wie -relativismus zusammenhängen, ja sogar einander wechselseitig stützen können. Dabei warnt Dreier zu Recht davor, ein allzu simples Verständnis von Rechtspositivismus bei Kelsen angelegt zu sehen: Zeitlebens hat dieser sich auch mit Fragen der sozialen Genese von Rechtsvorstellungen und der ihnen korrespondierenden Weltbilder beschäftigt (vgl. 4). Dreiers Studie endet mit einer doppelten Ernüchterung, die es freilich anzueignen gilt (vgl. 16 ff.): einmal das Wissen darum, dass die Risiken, die nach Kelsen in der Freiheit der Individuen liegen, nicht durch metaphysische und schon gar nicht politisch-rechtliche Absicherungen stillgelegt werden können. Zum anderen, an die Adresse der juristischen Kollegen gerichtet, die Skepsis gegenüber allzu hohen Erwartungen an die theoretische Begründbarkeit von Rechtspraxis an sich.
Relativismus und Positivismus sind aber nur die Komplemente zu einem normativen Individualismus, der durchaus produktiv mit dem Wertepluralismus umzugehen vermag, wie Elif Özmen in ihrem Beitrag (29–49) höchst eindrucksvoll zur Geltung bringt. Im Unterschied zu anderen Versuchen, mit dem weltanschaulichen und politischen Pluralismus umzugehen (etwa bei Rawls, Habermas, Tönnies u. a.), steht bei Kelsen die Figur des Kompromisses im Zentrum, gewachsen aus der Einsicht in die Relativität aller Werte und Interessen, die im politischen Entscheidungsspiel in Anschlag gebracht werden. Demokratie ist genau jene Regierungsform, die beim Einsatz der individuellen Freiheit und im Wissen um die Relativität aller Erkenntnisse darum bemüht ist, nicht die Wahrheit umzusetzen, wohl aber einen Ausgleich der Interessen zu erzielen. So gelingt mit »demokratischen Institutionen und Verfahren […] die ›relativ größte Annäherung an die Idee der Freiheit‹.« Allerdings ist und bleibt diese Rechtfertigung der Demokratie relativistisch: »Demokratie [ist] eine gerechte Staatsform nur unter der Voraussetzung, daß die Wahrung individueller Freiheit der höchste Zweck ist.« (42)
Genau mit diesem Werterelativismus, der keinen »Wertenihilismus« (117) meint, sondern eher eine Kritik an pluralitätseinziehenden politischen Rationalitätsmodellen vorwegnimmt, wie sie auch postmoderne Ansätze, etwa bei Chantal Mouffe, kennzeichnet (vgl. die Ausführungen im Beitrag von Kleine: 113–131, vor allem 118 ff.), haben Thomas Grundmann (vgl. 51–77) und Christian Krijnen (vgl. 79–92) ihre Probleme. Ersterer steuert zum Band im Grunde eine Generalabrechnung mit Kelsen bei, die, so fair sie im Ton erscheint, mir doch schlicht auf einem mangelnden Gespür für die Anliegen des Autors beruht. Denn die von Grundmann diagnostizierten Ausfälle – neben der »begründungstheoretischen Leerstelle« (vgl. 55 ff.) sind dies ein »unterkomplexer Pluralismusbegriff« (69), Nonkognitivismus, mangelnde Einsicht in das normative Projekt der Moderne – sind allesamt von der thetischen Behauptung geleitet, es bedürfe eines vernunfttheoretischen Begründungsprogramms von Recht und Demokratie, wie es z. B. den Politischen Liberalismus leitet. Diese Prämisse, von der aus der Autor Kelsen gelesen wird, deckt Grundmann jedoch erst gegen Ende auf, freilich auf unnachgiebige Weise. So lesen wir: »Kelsens […] robuste, von normativen Begründungs-er wartungen gereinigte pluralistische Repräsentationstheorie verfehlt letztlich […] die weit komplexere Fragestellung, welche die Rawls’sche Theorie aus dem Faktum des ›vernünftigen Pluralismus‹ ableitet […] Rawls’ Antwort scheint auf allen Ebenen derjenigen Kelsens überlegen zu sein« (71). Dass dabei auch Habermas’ Fehleinschätzungen des Rechtspositivismus Pate standen, macht die Sachlage nicht besser (vgl. die Fußnoten 82 und 132 in diesem Beitrag: 62 und 70). Christian Krijnen ist in seiner Kritik vorsichtiger, wenn er dem Verhältnis von Kelsen zum Neukantianismus und dessen Bemühungen um eine Reaktualisierung transzendentalphilosophischer Begründungsleistungen nachgeht. Gewiss verbleibt Kelsens Kant-Auffassung allzu schematisch, seine ausschließliche Orientierung an der Kritik der reinen Vernunft und die Abwertung der Praktischen und Rechtsphilosophie als plane Metaphysik in der Naturrechtstradition höchst kritikwürdig (vgl. 87), aber ein weniger enger Fokus auf die Südwestdeutsche Schule des Neukantianismus hätte Krijnen gleichwohl davor bewahren können, Kelsens Grundnorm, die als »hypothetisch« vorausgesetzt die Reine Rechtslehre mit steuert, als »unbegründete und unbegründbare Voraussetzung« selbst zu einem Fall von »Metaphysik« mit dogmatischem Charakter zu deklarieren (vgl. 91). Man mag ja für die Verbindung der positiven Geltung des Rechts mit einer nicht-positivistischen Geltungstheorie sein. Doch sollte man das genuine Anliegen des Rechtspositivismus Kelsens, das ihn mit der Marburger Schule eint, nicht unterschlagen: Die Positivität des Rechts bedarf keiner Letztbegründung, auch dann nicht, wenn man selbst konzedieren muss, dass ihr eine Prämisse, eine axiomatische Grundlage oder mit Cohen: ein »Ursprung« inhärent ist, der als Grundnorm stets mit gesetzt und mitgeführt wird.
Kontextualisierungen der Politischen Philosophie Kelsens nehmen die übrigen Beiträge des Bandes vor. Oliver Hidalgo (95–111) geht dem »Paradox der Demokratie« nach, das in der unverkennbaren Auszeichnung des Majoritätsprinzips begründet liegt: die Demokratie kann sich selbst unter demokratischen Vorzeichen selbst gefährden, ja sogar abschaffen, und zwar dank des Demos. Dieses Problem, dessen Zeitzeuge ja Kelsen war, hat ihn sein Leben lang beschäftigt. Immerhin hat er in seinen letzten Jahren, in der kleinen Abhandlung über Gerechtigkeit etwa, davon gesprochen, dass die Demokratie auch wehrhaft sein darf, ohne dass man dafür noch eine theorieimmanente Begründung angeben kann, aber eben auch nicht muss. Tamara Ehs wiederum gibt in ihrer höchst lesenswerten Studie (133–147) Aufschluss darüber, wie der Radikaldemokrat Kelsen erst nach und nach die Bedeutung der Verfassungsgerichtsbarkeit für sich entdeckte, freilich nicht ohne darauf zu beharren, dass auch mit Blick auf diese höchstrichterlichen Instanzen keineswegs von Politikabstinenz (144) gesprochen werden kann; umso wichtiger ist noch hier das Austarieren von Interessen und politischen Richtungen. Schließlich rekonstruiert Friedemann Voigt das ambivalente Verhältnis Kelsens zu Religion und von dessen Rechtstheorie zu theologischen Figurativen. Zu Recht spricht er von einer strukturell antinomischen Deutung, vornehmlich des Christentums, und von einer »impliziten Theologie« (168) bei Kelsen, die sich in der einseitigen Parallelisierung von Religion (und Metaphysik) mit einem antidemokratischen Absolutismus bemerkbar macht. Auch wenn diese einer näheren Betrachtung nicht standhält, gilt es mit Voigt sich in ein konstruktives Verhältnis zu Kelsen zu setzen, vor allem mit Blick auf eine nicht-letztbegründungsorientierte »Begründung von Recht und politischer Ordnung« (165).
Kelsen irritiert noch heute, nicht zuletzt weil er den »Staat als Rechtsordnung und die Nation als kulturell-ethnisch vorgestellte Gemeinschaft […] entkoppelt« (IX), wie Heribert Prantl in seinem Vorwort schreibt. Das mag in Zeiten populistischer Gefahren eher gegen als für eine Rückbesinnung auf ihn sprechen. Doch nur solange man nicht gewahr ist, dass gerade damit ein Europa als Gemeinschaft von Nationen auf der Basis einer Europäischen Union als europäische Rechtsgemeinschaft möglich wird. Nicht um Metaphysik oder Abendland geht es dann, wohl aber um Verfahren und friedenserhaltende Prozeduren: »Insofern darf man […] Kelsen […] einen der geistigen Väter der EU nennen.« (IX)